Die Chroniken Aranadias I - Die Tochter des Drachen. Daniela Vogel
»Ich glaube, er hält nicht mehr lange durch. Man sieht ihn ja kaum noch, unter der dicken Schneedecke.« Abermals drehte sie sich den Männern am Feuer zu. »Meint Ihr nicht auch, dass es allmählich Zeit wird, ihn hier ans Feuer zu holen. Mag ja sein, dass er ein elender Schurke ist, aber, ihn dann einfach im Schnee verrecken zu lassen, ist auch keine Lösung!« Archibald zog eine ernste Miene. Er betrachtete nun ebenfalls die leblos wirkende Gestalt im Schnee.
»Ihr habt recht! Es ist zwar eine Lösung, aber, ich glaube auch, dass sie nicht die Beste ist. Wir sind es Eurer Mutter schuldig, den Kerl lebend abzuliefern. Werfried, Friedward! Holt ihn her!« Die beiden angesprochenen Männer erhoben sich widerwillig von ihren Plätzen und trotteten hinaus in die dunkle Nacht.
»Ich, an Eurer Stelle, würde ihn verrecken lassen, oder eigenhändig erwürgen!«, das kam von dem vierten Mann.
»Und den Schergen die Arbeit abnehmen?«, Archibald fiel ihm ins Wort. »Ich jedenfalls habe keine Lust, auf unserer gesamten weiteren Reise eine Leiche mitzuschleppen. Wir werden bestimmt noch Tage unterwegs sein, da sie,« er deutete auf Rilana, »jetzt bei uns ist. Ein Toter würde uns nur noch mehr aufhalten! Bis zur Stadt ist es noch ein langer Weg.« Rilana horchte auf. Archibald erwähnte es ja schon einmal, dass sie sich gar nicht auf dem Weg zurück zu ihrem Wintersitz befanden. Ihre Mutter war bereits nach Andrass aufgebrochen. Die Stadt lag aber einige Tagesritte nördlich von Barwall, ihrem Wintersitz, entfernt, und deshalb würde sie wahrscheinlich noch über eine Woche mit den Männern verbringen müssen.
»Ich freue mich schon auf das Spektakel! Es wird bestimmt eine öffentliche Hinrichtung geben. Die letzte Große ist ja schon einige Jahre her. Solch eine Gelegenheit ergibt sich bestimmt nicht noch einmal!« Das war zum wiederholten Mal der vierte Mann. »Hoffentlich lässt die Königin sich etwas Schönes einfallen! Vielleicht eine Vierteilung oder eine Ausweidung oder Ähnliches. Diesmal muss Blut fließen. Viel Blut! Das ist sie uns einfach schuldig. Sie wird eine öffentliche Aburteilung stattfinden lassen und sie auch ausführen müssen.« Rilana war über die Begeisterung, die in seinen Worten mitschwang, so erschrocken, dass sie angewidert ihr Gesicht verzog. Ihr war zwar bewusst, dass ihre Mutter in Hinblick auf ihre Tochter keinen Spaß verstand, dennoch hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht daran gedacht, dass ihr Entführer öffentlich hingerichtet werden könnte. Kerkerhaft oder Sklaverei? Vielleicht! Aber direkt Vierteilen oder Ausweiden? Diese Dinge geschahen hier nur ganz selten. Sie jedenfalls konnte sich nur an ein einziges dieser Schauspiele erinnern. Man musste auch schon ein außergewöhnlich schweres Verbrechen begangen haben, um eine derartige Strafe zu verdienen und ihre Entführung empfand sie, weiß Gott nicht, als so abscheulich. Denn, was hatte er ihr schon groß angetan? Rein gar nichts! Außer, dass er die Dreistigkeit besessen hatte, mitten in der Nacht, in ihre Räume einzudringen und sie zu verschleppen. Ansonsten war nichts, aber auch gar nichts vorgefallen, was derartige Maßnahmen rechtfertigen würde. War sie wirklich dermaßen naiv, oder einfach nur zu gutherzig?
Sie erinnerte sich noch gut an die einzige Verhandlung, bei der sie hatte anwesend sein müssen. Sie war gerade 13 Jahre alt geworden. Viele hochgestellte Adelige, unter anderem auch den Onkel ihres Vaters, hatte man tot aufgefunden. Alle hinterrücks auf die grausamste Weise ermordet. Einige Berater ihrer Mutter waren diesem Treiben ebenfalls zum Opfer gefallen. Der Schuldige, sie konnte sich beim besten Willen nicht an seinen Namen erinnern, wurde in den Gerichtssaal geführt. Er stand vor ihrer Mutter und dem Großkanzler, ohne den geringsten Anflug von Reue. Auch sonst machte er nicht den Eindruck, als bedauerte er die Vorfälle. Im Gegenteil! Die Schwere der Anklage ließ ihn völlig kalt. Er wirkte vollkommen teilnahmslos. Jetzt, im Nachhinein betrachtet, war sich Rilana sicher, dass irgendetwas mit diesem Mann nicht gestimmt hatte. Raoul hatte zwar genau wie er, zu allem geschwiegen, aber ihr Entführer hatte wenigstens auf seine Art irgendwie reagiert. Dieser Mörder hingegen war völlig unbeteiligt. Er spielte mit einer Kordel seines Hemdes, während sein Blick starr auf den Baldachin über dem Thron ihrer Mutter, gerichtet gewesen war. Wenn sie jetzt über sein Verhalten nachdachte, dann erschien es ihr, als wäre sein Körper zwar anwesend gewesen, aber sein Geist...! Je mehr sie über diese Sache grübelte, desto weniger konnte sie sich das alles erklären. Wäre sie diejenige gewesen, die man angeklagt hätte, sie hätte mit aller Macht versucht, sich herauszureden. Sie hätte vermutlich solange beteuert und bereut, bis man ihr geglaubt und von einer Verurteilung abgesehen hätte. Nicht so dieser Mann. Seine leeren Augen starrten unentwegt auf ihre Mutter. Dann lachte er. Es war das Lachen eines Wahnsinnigen, hysterisch und schrill.
Rilana konnte sich noch gut an das damalige Urteil erinnern, denn es war das letzte seiner Art seit nunmehr 4 Jahren. Ihre Mutter hatte ihn, zu einem schnellen Tod durch das Beil verurteilt. Als die Wachen den Verurteilten damals aus dem Saal führten, hallte sein krankes Lachen noch immer durch den Raum. Er leistete keinen Widerstand, denn er schien überhaupt nicht zu begreifen, was eigentlich vor sich ging. Selbst als man ihn auf das Schafott führte, zeigte er keinerlei Regung. Nicht einmal als sie ihn auf den Richtblock banden, zeigte er Angst. Es war geradezu unheimlich, mit welcher Gelassenheit dieser Mann seinem Tod ins Auge blickte. Rilana war bei der Hinrichtung nicht anwesend. Sie entzog sich solchen Schauspielen. Ihr war aber durchaus bewusst, dass sie, wenn sie einmal den Platz ihrer Mutter einnahm, sich nicht mehr weigern konnte, solchen Dingen beizuwohnen.
Wollte sie den Männern nun Glauben schenken, dann stand die Nächste unmittelbar bevor und dieser würde sie sich nicht so leicht entziehen können, denn immerhin betraf das Verbrechen sie selbst.
Damals nach der Hinrichtung war Rilana zu ihrer Mutter gelaufen. Sie hatte gehört, wie in anderen Ländern mit derartigen Verbrechern umgegangen wurde, und wollte nun wissen, warum es bei ihnen anders war. Ihre Mutter antwortete damals:
»Gib den Menschen die Möglichkeit, sich gegenseitig zu zerfleischen und sie werden es auf der Stelle tun. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Merk dir das gut, Kind. Du musst lernen, nicht ein Wolf unter ihnen zu werden, sondern ihr Rudelführer. Sie brauchen alle jemanden, der ihnen sagt, was zu tun ist, ohne Wenn und Aber. Wenn du sagst: Lauf, dann müssen sie laufen. Wenn du sagst: Spring, dann müssen sie springen. Wenn du aber sagst, töte, dann töten sie. So einfach ist das. Es gibt Länder, in denen die Herrscher vergessen haben, was es heißt, zu herrschen. In diesen braucht das Volk Abschreckung, Ablenkung und Erheiterung. Das wird durch diese Schauspiele erreicht. Bei uns ist solch ein Vorgehen nicht von Nöten.« Rilana verstand zu jener Zeit nicht genau, was ihre Mutter damit meinte, aber, heute hatte sie etwas erlebt, was sie an diese Worte erinnerte. Es stimmte schon, dass es Menschen gab, die Gefallen daran fanden, andere zu quälen und zu demütigen. Die Tatsache aber, dass sie jedoch auch in ihrem Land existierten, hatte ihr einen solchen Schock versetzt, das er ihr auch jetzt noch in den Knochen steckte.
Wie dem auch sei, bis zu Raouls Verurteilung oder Hinrichtung blieb ihr noch etwas Zeit. Irgendwie würde sie schon das Schlimmste verhindern. Oder hätte sie ihn besser im Schnee erfrieren lassen sollen? Um ihre trüben Gedanken fortzuwischen, fuhr sie sich mit der Hand durch ihre Haare. Sie musste einfach hoffen, dass ihr etwas einfiel, um wenigstens sein Leben zu retten.
Die beiden Männer erreichten jetzt die fahle Gestalt auf dem Plateau und zogen sie ruckartig in die Höhe. Werfried und Friedward schleiften den reglosen Körper durch den Schnee, hin zu ihrem Unterschlupf. Dort angekommen ließen sie ihn, wie einen Mehlsack auf den Boden fallen. Aufgrund seiner Lage, gefesselt und noch immer oder schon wider bewusstlos, prallte Raoul mit einem dumpfen Schlag auf den harten Steinboden. Nicht die geringste Bewegung ging von ihm aus. Sein gesamter Körper war mit einer blutigen Kruste überzogen, die von den Wunden herrührte, die Archibald und seine Männer ihm während des Kampfes am späten Nachmittag zugefügt hatten. Obwohl es kein fairer Kampf gewesen war, hatte Raoul sich tapfer geschlagen.
Als die Sonne bereits hoch im Zenit stand, hatten sie eine Lichtung am Rande eines kleinen Waldes erreicht. Raoul verlangsamte das Tempo und sah sich unruhig um.
»Stimmt etwas nicht?«, wollte sie deshalb von ihm wissen. Er zügelte nun endgültig sein Pferd und deutete auf einige immergrüne Sträucher in einiger Entfernung.
»Steigt ab und lauft!«
»Wieso?«
»Fragt nicht! Los versteckt Euch hinter den Büschen. Ich möchte nicht,