Motorherz. Walter Julius Bloem
vor allem Anbeginn das Grosse und das Erhabene der Welt, das wehrt kleinen und staubigen Seelchen den Zutritt zu Thomas Themals Brust.
Dessen ist die Kameradin Zeuge: im Schwarm des Alltags ahnt sie den einzig wertvollen Gefährten. Sie hat niemals versucht, sein offenes Herz anzutasten. Kein anderer Weg zu Thomas’ Seele ist offen: nur dieser! Sie lernt Gefahren verachten, sie lernt den brennenden Stolz über Sportleistungen und Erfolge kennen. Von jeher schon überkam es sie wie ein Rausch, sobald sie von den unsichtbaren, den lärmenden Fittichen getragen wird. Auf ihrer kleinen, pfeilschnellen, graublauen Maschine Nürnberger Herkunft beteiligt sie sich an allen möglichen Veranstaltungen, trägt wie der Freund Medaillen und Plaketten heim von der Fahrt. Mit ihm sitzt sie an Bauerntischen und in fremden Klubhäusern – unspürbar lenkt sie sein ungebärdiges Herz, überall sucht sie aus innerstem Bestreben die Vollkommenheit seines herrenhaften Wesens zu runden. Mutter und Schwester wird sie ihm, den nur ein im ehrgeizigen Daseinskampf fechtender Bruder beschützt. Zwei der drei Himmel des Weibes öffnet Thora sich – in einsamen Stunden findet sie ein Wort für ihn: Du bist das Gleichnis meines Gottes –
Aber alsbald fühlt Doktor Detlev Themal – trotz und wegen seiner Berufsüberlastung Sportwart des Deutschen Motorradklubs – sich zu einer langen Unterredung mit Frau Moebius gezwungen: er vergewissert sich, ob auch wirklich nur Sportkameradschaft sie und seinen Bruder verbindet. Dem älteren Themal kann Thora mit hochmütigen Lippen eine Aufzählung all der flüchtigen Verliebtheiten bringen, die Thomas erlebt, und die er ihr harmlos selig beichtet. Zu seiner Beruhigung kann sie auf ihre eigenen Sportleistungen hinweisen und darauf, dass ein dritter Kamerad sich diesem Bündnis beigesellt hat: der junge Klubmeister Ernst Kossack trägt ihr sein gutmütig karges Herz entgegen, gemeinsam mit Thora und Thomas nimmt er Anteil an den grossen Sportveranstaltungen. Damit gibt Detlev sich zufrieden – was kann es schaden, wenn eine Frauenhand kommt und dem wilden Brüderchen die Wildheit abgewöhnt?
Aber seither führt Thora einen einzigen Kampf gegen die Krötenaugen der Welt. Niemand soll argwöhnen dürfen, es sei nicht recht zwischen ihr und dem Freund. Vorsichtiger als je wahrt Thora Herz und Gesicht, überall in Deutschland verteidigen die Kameraden zu dritt ehrenvoll den grausilbernen Wimpel des D. M. C. –
Dieser Dritte ist es, auf den das übrige Gedeck auf dem Frühstückstisch wartet. „Ernst könnte jetzt bald kommen!“ meint der Student. Um fünf müssen sie aufbrechen, denn eine Stunde später beginnt auf dem Tempelhofer Felde die diesjährige Ballonfuchsjagd des Klubs. „Wollen doch mal zusehen, Thora, ob wir dem Ernst heute seinen Silbernen Pokal abknöpfen können – !“ lacht Thomas schäumend.
Für diese Veranstaltung hat der Klub einen herrlichen Wanderpreis gestellt, der nun schon zweimal hintereinander in Ernst Kossacks Hände fiel; beim dritten Mal wird er ihn ganz gewinnen.
Thomas Themal hat heute Ursache zu besonderem Eifer. Im Ballon aufsteigen wird der Geheimrat Jakoby – sein Schüler ist Thomas Themal – sein erster Assistent ist Doktor Detlev Themal. Aber den Ballon führen wird Jakobys einziges Töchterchen Ilse –
Frau Thora lächelt. Sie füttert den Freund, schenkt ihm frischen Kaffee ein und freut sich an seiner Lebendigkeit. Eifersucht –? Eine Frau von dreissig Jahren, geschmückt mit solchen Gaben des Körpers und des Geistes, ist nicht eifersüchtig auf eine von höchster Anmut der Jugend gekrönte Neunzehnjährige. Nur: verwandeln möchte sich Thora können – mit aller abgestreiften Bangigkeit und Sehnsucht sich noch einmal umhüllen – um ihm den süssen Trug vorspiegeln zu können, den sein Herz jetzt noch begehrt ...
Horch! Wieder ein Lärmen und Knallen von Fehlzündungen auf der Strasse vor der Villa – aber diesmal nicht das helle Stampfen eines mittelstarken Motors, sondern das tiefe Dröhnen einer schweren Sportmaschine.
Der Klubmeister Ernst Kossack erscheint im Frühstückszimmer. Eine lange, knochige, durchtrainierte Gestalt – nicht in der Fahrtuniform wie der Student, sondern in einem schnittigen Sportanzug mit breiten Knickerbockers. Unter den Arm geklemmt ein Strauss kostbarer Rosen. Kossack streift die Handschuhe von seinen Fingern – eine breite, besitzergreifende Hand streckt der schönen Frau die Blumen hin: „Morgen, Thora –“
„Sie kommen spät, Ernst! Dank für die Rosen! Nun frühstücken Sie schnell.“
Der Klubmeister setzt sich. In Thoras Gegenwart ist sein Benehmen untadelig. Aber der finstere Asketenkopf täuscht; zwei Passionen finden Raum hinter der schmalen Stirn, um die das zurückgestrichene Haar wie eine Pechkappe liegt – die Passionen: der Motor – und Thora ... Alle übrigen schönen Dinge der Welt sind für ihn höchstens – Passiönchen.
„Hast du heute wieder deine Hüte mitgebracht?“ spottet Thomas. Der Klubmeister arbeitet mit Messer und Gabel, dem Kameraden gibt er einen schrägen Blick. Im Alltag sitzt Ernst Kossack in der Fabrik seines Vaters – Willi Kossack & Sohn, Damenhüte en gros, Lindenstrasse. Er drückt einen Direktorsessel im Kontor, leitet die Bedienung prominenter Kundschaft und befindet sich das halbe Jahr auf Geschäftsreisen. Seiner Leidenschaft für das Motorrad wird väterlicherseits nur darum Raum gegeben, weil der Sohn es versteht, Sport und Geschäft zu verbinden. Die Damen des D. M. C. tragen ziemlich ausnahmslos Hüte der Kossackschen Fabrik – und zum heimlichen Spott der Kameraden lässt sich der beste Fahrer des Klubs auf Tourenfahrten eine Menge Musterkoffer mitschicken. Ein Geldmensch, vierundzwanzig Jahre alt, eine enge Seele – voll unbegriffener Sehnsucht nach Weite und Freiheit.
Über Thomas Themal wacht ein Bruder, der selbst ein Sportfanatiker ist. Ernst Kossack muss jede Minute der Freiheit gegen den hitzigen Widerstand seines Vaters ertrotzen. Unnötige Zeitverschwendung – kümmere dich um unsere Bilanzen – dummes Zeug, diese Herumtreiberei auf der Landstrasse. – Nun, meine acht Stunden sitze ich ab, ins Geschäft fahr’ ich mit der geliebten Maschine, und dann – Fahrthaube auf, Motor in Gang, frei ist die Welt!
„Dir, Thomas, würde der Spott vergehen, wenn du dich mit begriffsstutzigen Hutmacherinnen, mit Akkordlöhnen, mit schleimigen Schacherern herumschlagen müsstest. Du liebst den Beruf, für den du dich vorbereitest – kannst überhaupt nicht verstehen, wie mir zumut ist, wenn’s mal einen Tag Freiheit gibt ... Thora, ist noch eine Tasse Kaffee für mich da?“
„Überhasten Sie sich nicht, Ernst –“ sagt sie mitleidig und schiebt den beiden unersättlichen Freunden frische Brotschnitten hin. Sie kennt den wohltätigen Zauber, den sie über Ernst Kossack ausübt. Sobald der Klubmeister nicht in Thoras Nähe ist, wird er plump und prahlerisch, renommiert in Worten mit seinen Sporterfolgen und in Verschwendung mit seiner wohlgefüllten Brieftasche. Der Klubpräses musste ihn wiederholt verwarnen, denn in der armen Zeit brachte Kossacks Grossmannssucht einen unerwünschten Ton in das einfache Leben der Kameraden. Thora Moebius schätzt diesen Freund um seiner ehrlichen Art willen; doch im Grunde fehlen zwischen ihr und Kossack auch die bescheidensten Grundlagen einer Geistesgemeinschaft. Es bleibt bei einer ausgezeichneten Kameradschaft –
„So ein Sonntag!“ brummt der Klubmeister. „Am liebsten ginge ich in der Nacht auf den Sonntag gar nicht erst zu Bett. Kein Kontor, keine Plackerei, brauch’ mich von keinem Menschen schikanieren zu lassen. Äh – gestern haben wir einen grossen Sieg über die Konkurrenz erfochten, mit ein paar Pfennigen Nachlass pro Stück ... Siege gegen Zahlen. Aber heute, Thora – freie Landstrasse, der Silberne Pokal ... Kontorreiter bin ich sonst – Klubmeister bin ich heute!“
Unter geschliffenem Glas tickt die alte Biedermeieruhr fünf Silberschläge. Die Kameraden setzen die Lederkappen und die Brillen auf, schieben die Maschinen zur Strasse. Und wie die drei eisernen Herzen der Motoren aufbrausen, wie die Explosionen auf die Stahlkolben hämmern – so jauchzen im gleichen Takt die drei Herzen aus Fleisch und Blut.
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Fast eine halbe Stunde geht Helga Hillesen auf der verstaubten, unansehnlichen Strasse zwischen den Schöneberger Mietkasernen auf und ab. Um diese Morgenzeit regt sich nur wenig Leben: verschlafene Strassenkehrer fahren ihre Karren ins Depot, Wandervögel schleppen Rucksäcke und Gitarren zum nahen Bahnhof.
Die Studentin seufzt. Bald muss Detlev Themal kommen – abermals wird Helga einer Ballonfuchsjagd auf Motorrädern zuschauen: zum dritten Mal und im dritten Jahr. So lange nun ist sie Doktor Themals ständige Begleiterin