Motorherz. Walter Julius Bloem
dem hinkenden Klubpräses gemeldet: Diesem hängt eine Prothese am linken Knie, der Rest liegt in Flandern; man kann ebensogut sagen: Der Major a. D. von Gulbrow liegt in Flandern begraben, ein Rest von ihm – ein Schatten, ein Gespenst – sitzt alltags an einem tintenbespritzten Agententisch: Grundstücksvermittelung, Häuser- und Vermögensverwaltung ... Die beiden Herren sehen die Startlisten durch und begeben sich zum Ballon. Fräulein Jakoby leitet die Beendigung der Füllarbeiten: ein zierlich schönes Mädchen, ungewöhnlich sicher und herrscherhaft, von blühender Jugend geschmückt. Beiseite sitzt der Geheimrat im kümmerlichen Sandgras und sieht vergnügt, aller Verantwortung frei, dem kommandierenden Töchterchen zu. Jakobys Haar ist grau, das Gesicht von Schmissen zersägt, die Stirn von Gedanken gefurcht. In der Charité hat man ihm den Spitznamen „Jupiter“ gegeben; wenn ein anderer seiner Assistenten als gerade Doktor Themal daherkommen würde – Jakoby bliebe ruhig im Gras sitzen, zumal er den Major schon begrüsste. Aber Detlev Themal hat seinem Herrn und Meister so etwas wie Respekt beigebracht.
Korrekt und selbstbewusst legt der junge Dozent flüchtig die Hand an die blaue Sportmütze: Zwischen der Scylla des Untergebenseins und der Charybdis einer Überheblichkeit findet er unbedingt sicher die genaue Linie. Ein Herrenmensch. Lächelnd reicht Ilse Jakoby ihm die schlanke Hand.
Seltsam – denkt der alte Major mit einem Frösteln – sie lächeln sich an ... Vor Ilses Brust hängt ein Feldstecher, mit dem sie den grossen und den kleinen Pilotballons nachschaut. Geheimnisse birgt der schöne Morgen in den gläsernen Lüften, nach Südwesten zieht milder Bodenwind, fast nach Osten treibt die Höhe. Ein Wetter, wie der D. M. C. es sich besser nicht wünschen könnte für seine Fuchsjagd.
„Gnädiges Fräulein!“ sagt der Sportwart Themal, „Sie werden gebeten, zunächst ganz niedrig über dem Boden zu bleiben, bis Ihre Verfolger aus dem Stadtgebiet herausgekommen sind. Sonst geht unseren Jungen der Ehrgeiz durch, und es hagelt Strafmandate. Ich werde vom Klubauto aus eine Leuchtrakete abschiessen – das soll Ihr Zeichen sein: Hohe Jagd!“
„Sie dürfen sich auf allerlei Überraschungen gefasst machen, Doktor Themal ...“ kündigt Ilse an.
Der Geheimrat lacht behaglich.
„Um so schöner!“ sagt Detlev Themal. „Sie können oben in der Luft herauf- und heruntergehen, wie es Ihnen passt. Sie dürfen sogar eine Zwischenlandung machen. Möglichst genau nach zwei Stunden landen Sie dann an der ersten besten Strasse. Wer von den Motorradfahrern als Erster den Korbrand nach der Landung berührt, dem überreichen Sie wie im vorigen Jahr den Fuchsschwanz.“ Aus der Rocktasche zieht Detlev einen richtigen roten Fuchsschwanz hervor, der schon die meisten Haare verloren hat. „Sind Sie fertig, gnädiges Fräulein? Glück ab!“ Jakobys besteigen den Korb. Leicht klettert das Fräulein, schwerfälligen Leibes zwängt sich der Geheimrat zwischen den Stricken hindurch. Detlev Themal eilt zu den Kameraden zurück und setzt eine Trilleflöte an die Lippen, ein gellender Pfiff schrillt über das weite Feld. Schon wiegt Fräulein Jakoby den Ballon ab.
Das hohe Sportabenteuer beginnt! Zwei Meter über der Erde schwimmt der Korb, Sand gleitet herab – langsam, ruhevoll steigt der alte Ballon ins Strahlende empor. Als er den Boden verlässt, als die Arbeiter die letzten Stricke freigeben und mützenschwenkend ihr „Glück ab!“ schreien, greifen die Fahrer an die Hupen und Hörner der Maschinen, und ein ohrenbetäubendes Tuten, Tönen und Schnarren grüsst die entschwindenden Luftschiffer. In den Lärm hinein hämmern schon die ersten Motoren Ungeduldiger – es ist ein würdiger Aufstieg! Auf die sanften Fittiche des Morgenwindes wird der Eridanos genommen, in Baumhöhe treibt er westwärts auf die grosse Schar der Motorfahrer zu, hebt sich ein wenig – segelt hoch über den Köpfen dahin.
Ilse Jakoby beugt sich über den Korbrand und schaut hinab auf den versinkenden Boden. Fahrtlust glüht in den braunen Gesichtern der Fahrer. Drunten steht die Meute in einem langen Glied, sauber ausgerichtet, ein jeder links neben seiner Maschine – achtunddreissig Soldaten der Schnelligkeit. Doch einen Augenblick darauf verwandelt sich das straffe Bild der Harrenden in ein regellos voranflutendes Chaos. Zur Strasse faucht das Klubauto – hinter ihm her die wilden Jäger. Dann sammelt der Major auf dem verlassenen Startfeld die Damen des Klubs und bringt sie zur Bahn. Er wird sie nach Klein-Machnow führen, in seine Villa; die berühmte Gastfreundschaft der Majorin wird Triumphe feiern. Dort wird der ganze Klub sich nach der Jagd versammeln. Sehr gern wäre der Major im Auto dem Ballon hinterdrein gefahren, aber er fügt sich vergnügt in die angenehme Aufgabe, während eines Vormittags für ein gutes Dutzend fröhlicher, eleganter junger Damen zu sorgen. –
Weit schon, fern über den Dächern, treibt der Eridanos; Ilse Jakoby lässt ihn mit dem langsamen Bodenwind schwimmen. Dann schweben sie über Teltow, dann rast unten auf freier Landstrasse die Schar der lärmenden Jäger daher. Sie haben sich schon verstreut, einige befinden sich gen Süden strebend auf der Zossener Strasse – das Gros hält sich möglichst dicht unter dem Ballon.
Ilse Jakoby ist nicht eingespannt in den erbarmungslosen Lebenskampf. Ihr scheint das, was sich da unten vollzieht, ein harmlos fröhliches Spiel. Dazu das prickelnd süsse Gefühl: All die jungen Herren sind hinter mir her ... Auch fünf junge Damen steuern eigene Maschinen unter den Achtunddreissig, aber man kann sie nicht aus dem Schwarm herausfinden.
Der Geheimrat weiss besser, wer die da unten sind; er lehnt über dem Korbrand und schaut zu den knatternden Gesellen hinab, die zum Greifen nah unter ihm fahren. Kaum vierzig Meter hoch treibt der Ballon im südwestlichen Wind. Drunten arbeiten durchtrainierte Körper spielend leicht unter den Stössen der elenden Strasse; Knie, die sich an die Tankkästen schmiegen, federn die ganze Gestalt ab. Braune Gesichter blicken ehern ruhig fahrtvoraus – hinter den Brillen verbergen sich Augen, in sich gekehrt und von Lebensleuchten erfüllt.
Mit einer gewissen Ergriffenheit betrachtet Jakoby die straffen, sportgestählten Menschen: Die alle werden sich morgen über Aktenberge, Geschäftsbücher und Schreibtische beugen, keiner kann rasten im Alltag. Nun erjagen sie sich einen Zipfel köstlicher Freiheit. Solche Morgenstunden, windesselig durchbraust in eine taufrische Welt hinein, dünken denen da unten Zugaben an das Mass des Lebens, Geschenke der unerbittlichen Natur an die verrinnende Jugend oder an die Lebensreife. Diese Beglückten werden sich am Montag mit verzehnfachter Lebensinbrunst in ihren Beruf hineinstürzen – wach und durchgerüttelt, während die Kollegen den Sonntag verschlafen oder in zahmen Spaziergängen vertrödelt haben. Glücks übergenug, wenn solch ein Tag die Ketten zerbricht.
Niemals kann der Geheimrat allein im Ballon aufsteigen; seine Hände sind von Röntgennarben völlig zerfressen und derartig empfindlich, dass er in Augenblicken der Gefahr nicht imstande wäre, die schweren Sandsäcke vom Haken zu heben. Sogar beim Operieren kämpft sein zäher Wille mit heftigen Schmerzen, wenn Jakoby die Messer und Zangen bedienen muss. In spätestens einem Jahrzehnt werden die Instrumente aus den kraftlosen Händen des meisterhaften Chirurgen sinken. Kommt dieser Tag, so wird Jakoby dankbaren und kühlen Herzens sich die Mündung einer Pistole an die Stirn setzen: Ich habe gearbeitet, ich war in meinem Kreis Schöpfer meiner Zeit – Ehre und Wohlstand lohnten die Mühe – ich habe gelebt – –
Drunten im Klubauto streckt Helga Hillesen eine Leuchtpistole in die Luft, der gleissende Strahl einer Rakete fährt schräg in den Himmel. Die Jagd geht auf! Sekunden später wuchten zwei pralle Sandsäcke vom Ballonkorb nieder und knallen in ein Weizenfeld – senkrecht himmelan schiesst der Eridanos. „Ilse!! Wie oft soll ich dir sagen, dass es unbedingt verboten ist, die vollen Säcke abzuwerfen. Schütte den Sand doch aus –“
Im eiligen Steigen kitzelt der Wind von oben nach unten. „Ich werde die beiden Säcke bezahlen, Papa. Unter uns war bloss ein Getreidefeld.“
„Das darfst du nicht, Kindchen. Wer Sport treibt, soll die Sportgesetze achten –“
„Ach, Papa –“ grollt sie im schwankenden Korb, „musst du denn immer auf dem Katheder stehen – ?“
Am Rande der hingelagerten Tiefe glänzen Potsdams Türme im Dunst, ganz weit zurück liegt Berlin. Langsam dreht sich der Ballon; wo er schwebt, scheint die Achse der Welt zu sein. In fünfzehnhundert Metern fast gen Osten treibend, entzieht sich der Eridanos seinen enttäuschten Verfolgern. Jakoby und seine Tochter lehnen vergnügt über dem Korbrand und sehen