Motorherz. Walter Julius Bloem

Motorherz - Walter Julius Bloem


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eines Geschosses, das steil zum Himmel stieg. Wenn Helga doch mit Detlev reden könnte! Im Alltag ist er zermürbt und abgehetzt von seiner nie rastenden ärztlichen Tätigkeit – und am Sonntag muss sie ihm die Ruhe und Ausspannung gönnen – –

      Der Klubwagen faucht heran; am Kühler flattert der graue Wimpel des D. M. C. mit dem eingestickten silbernen Totenschädel.

      „Du siehst müde aus, Detlev –“

      „Komm – steig ein, es ist schon sehr spät.“

      Und alle innigen Worte und Gedanken verblassen vor Doktor Themals knapper Geste, mit der er zur Eile mahnt. Die Gummis rollen, unter Bahnüberführungen donnert der Hall des Motors auf. „Hei! Sportwart bin ich heute! Aber wieder eine Nacht fast ohne Schlaf, Helga! Um elf riefen sie mich zu einer Sterbenden in die Charité hinüber, ich kam erst zwei Stunden nach Mitternacht heim – und um halb vier weckte mich Thomas ...“

      „Lieber –“ bittet sie, „du solltest dich an den Klub wenden, dass er dich von deinem Ehrenamt entbindet. Es gibt andere, die nicht so überlastet sind wie du –“

      Detlev höhnt. „Wenn es nach dir ginge, so müsste ich wohl auf diese einzige Freude und Freiheit verzichten ... Aber mir genügt zum Ausschlafen die Ewigkeit, wenn ich tot bin –“

      Helga kennt diesen Fanatismus: überall setzt Detlev Themal sich schonungslos ein – und das, was er Erholung nennt, ist nur eine andere Form der Arbeit und Anspannung aller Sinne. Heute wird er im Klubauto die Fuchsjagd seiner Kameraden leiten und überwachen – mit dem Präses Major von Gulbrow teilt er sich ferner in die Leitung des Sommerfestes, das für den Abend geplant ist. Eine riesenhafte Seele, mächtig dem Irdischen zugewandt, fordert nur ein Geschenk von ihrer Zeit: Tätigkeit –

      Und so kann Helga auch diesmal den Freund, den Geliebten nicht behelligen mit ihrer Qual und Angst, mit der drängenden Sehnsucht. Was tust du – bin ich nicht mehr in deinen Gedanken, wendest du dich ganz von mir ab? Aber sie sagt es nicht – sie schaut in sein zugeriegeltes Gesicht: eine Mensurnarbe züngelt sich auf seiner Stirnkante, sonst ist das ganze Antlitz kalt und muskelhart. Ein Streber – sagen die Kollegen und die Studenten; ein Könner! sagen die Professoren. Jeder prophezeit ihm eine Zukunft, die an die Sterne reichen wird – aber keiner liebt ihn. Gut Freund ist er mit seinem Bruder Thomas – doch einzig Helga Hillesen glaubt, dass es sich lohne, Detlev Themal zu lieben ... Viel mehr Leid als Lust bringt diese Leidenschaft, sie fordert ein unablässiges Sichbeugen vor Detlevs kantigem Wesen und Willen. Und dennoch spürt Helga Hillesen in knirschender Angst, dass die Bahn sich senkt. Manchmal sehnt das junge Mädchen sich, Detlev Themal sei noch so jung und kindhaft wie sein Bruder Thomas. Den Werdegang des Freundes erlebt sie seit einem Jahr, seit er bei Geheimrat Jakoby, einem der bedeutendsten Internisten der Gegenwart, Fuss gefasst hat – nun ist sein Stern im Aufgehen nach langem, hartem Kampf um Anerkennung – nun streift Detlev Themal die Schlacken seines Werdens ab.

      Helga will sich und ihm den sonnenstrahlenden Morgen eines freien Sportabenteuers nicht durch traurige Gedanken verderben. „Freue dich, Detlev! Und denke heute an nichts als an den schönen Tag. Wird der Geheimrat den Ballon führen – ?“

      „Will mir Mühe geben, Helga. Der Geheimrat? Nein – Fräulein Jakoby führt den ‚Eridanos’, ihr Vater lässt sie aber nicht allein im Ballon aufsteigen. Sie hat vor drei Wochen ihr Examen als Ballonführerin gemacht –“

      Die Studentin sieht mit klopfendem Herzen, wie Detlevs verschlossenes Gesicht sich aufhellt. Sie wirft ein: „Fräulein Jakoby ist kaum neunzehn Jahre alt –“

      „Das schadet nichts! Der Geheimrat steigt immer nur auf, um sich zu erholen. Fräulein Jakoby ist der beweglichere Geist – gib acht, wie sie uns an der Nase herumführen wird.“

      Fräulein Jakoby ... Seit mehr als einem halben Jahre beobachtet Helga das. Die Brüder Themal sind häufige Gäste ihres Meisters und Lehrers; an vielen Vormittagen operiert Detlev Themal in der Privatklinik des Geheimrats und bleibt dann zum Essen dort. Und Thomas, der Student, darf zuweilen zur Teestunde bei dem gnädigen Fräulein erscheinen – zum Dank dafür, dass er ihr das Fahren auf dem Motorrade beibringt ... „Ich glaube auch, lieber Detlev: sie wird euch an der Nase herumführen ...“

      Ein Seitenblick des Führers streift sie. „Solche Bemerkungen kannst du dir schenken, Helga. Ich jedenfalls bin nicht der Mann, der an der Nase herumgeführt wird.“

      „Aber dein Bruder ... Nun – mich geht das nichts an. Ich bin ja jetzt –“

      Detlev Themal steuert in die freie Allee hinaus. „Was bist du jetzt –?“

      „Lieber,“ lächelt sie, „lass uns die Sonne von Herzen geniessen.“

      Schneller faucht der Wagen. Halb sechs Uhr in der Sonntagfrühe! Am Südrand des Feldes bläht sich eine gelbe, vielgeflickte Ballonhülle. Eine Unmenge von Motorrädern steht in einer Reihe aufmarschiert. Am Strassenrand warten gemietete Autos, in denen die hellgekleideten Damen des Klubs erschienen sind. Mit Hallo wird der Sportwart begrüsst. Soeben zeichnen sich Thomas Themal, Frau Moebius und der Klubmeister Kossack in die Startliste. Fahrer auf Fahrer kommt aus Berlin herangeschnurrt und stellt seine Maschine ans Ende der Reihe. Wimpel regen sich unter nickelblitzenden Lenkern. Noch wimmelt die bunte Gesellschaft durcheinander, studiert Karten, prüft die Motoren und schaut dem Zug der Pilotballons nach, die am Füllplatz in Abständen hochgelassen werden und die Flugrichtung am Himmel vorausdeuten. Braunwangige Gesellen, meist in derben Fahrtuniformen, freuen sich über den einzigen Tag der Berufsfreiheit. Sie ziehen ihre Sportuniformen an – zur Antäusarbeit des Alltags holen sie sich neue Kämpferkraft an der weiten, freien, mütterlichen Erde.

      „Morgen, Doktor!“

      Ein wenig zurückhaltend, aber freundlich reicht Detlev Themal dem Klubmeister die Hand. Der junge Mann ist ihm zu formlos, zu ungeistig, zu eng – jedoch: ein braver Kamerad. „Guten Morgen, Herr Kossack. Glück auf die Fahrt! Werden Sie uns heute den Silbernen Pokal endgültig entführen?“

      „Unter uns, Doktor! Wenn ich ihn gewinne, werde ich ihn dem Klub wieder zur Verfügung stellen.“

      „Gewinnen Sie ihn mal erst ...“

      Höflich zieht der Arzt die schmale, feste Hand der Frau Moebius an die Lippen. Sie ist die zweite Vorsitzende des Klubs, eine hochherzige Kameradin. Mit deutlichem Misstrauen duldet er die Freundschaft zwischen ihr und seinem Bruder. In diesem Fall mag es gut sein, dass Thomas ein Träumer ist, über den Frau Thoras sportgestählte Schönheit einstweilen keine Macht besitzt. Detlev lässt es gar nicht ungern zu, dass sein Bruder offenbar heftig in das junge Fräulein Jakoby verschossen ist. Kann ich begreifen, Brüderchen, kann ich begreifen ...

      „Sind Sie traurig, Fräulein Hillesen?“ Seit langer Zeit kennen sich Thora und Helga, sie beide spüren eine Schicksalsgemeinschaft: Jede von ihnen ist mit einem der Brüder Themal innig verbunden. Zwar das Herz, das von Thora Moebius geliebt wird, befindet sich in jäher, stürmischer Entfaltung – aber das andere Herz, in Detlev Themals Brust, verschliesst sich, es hat sich niemals völlig geöffnet.

      In den Brillengläsern der Studentin funkelt Morgensonne, der Wind spielt in den Falten des schlichten Staubmantels. Helga Hillesen hat nicht viel Geld – wäre Detlev Themal nicht, so wäre sie niemals Mitglied des feudalsten Motorradklubs geworden. Ihre Armut ist einer der tausend Ringe, mit denen Helga fest an die Erde geschmiedet ist – einer der Gründe, warum sie dem ins Licht fliegenden Geliebten unbequem wird. „Ach, gnädige Frau, das Leben könnte so schön sein – aber nun muss ich den ganzen Tag mit dem quälenden Gedanken kämpfen, dass jemand mich vielleicht als Fessel empfindet, der in den Himmel steigen will ...“

      Weithin über das muntere Bild der schlendernden und flirtenden Kameraden gleitet Thora Moebius’ Blick hinüber zum Eridanos, der nun an Stricken in die Höhe gelassen wird; hoch über dem Korb schwankt die gelbe Kugel im Wind. Thora lässt sich nicht ins Herz schauen, sie ist fast ein Jahrzehnt älter als die braunlockige Studentin – „Liebes Fräulein Helga – Doktor Themal hat Sie sicherlich in freundlichen Gedanken zur Fahrt aufgefordert –“

      „Ach – eine freundliche Gewohnheit. Innerlich


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