Aqua Mortis. Carsten Nagel

Aqua Mortis - Carsten Nagel


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nichts mehr zu diskutieren. Sie wurde, wie andere auch, zu noch einer Runde gepeitscht, mit all der Unruhe und der Leere, die das Leben ausmachten. Vielleicht würde sie sich dieses Blickwinkels bemächtigen, falls sie sich entschied, ja zu dem Vortrag und den sechs Flaschen Rotwein zu sagen, die sie verschenken würde, um nicht eine Runde migräneähnlichen Katers zu riskieren.

      Sie musste mit G. S. darüber reden, was er eigentlich erwartete, bevor sie ihre Entscheidung traf. Aber nicht heute, wo sie sich immer weniger selbst spürte und überhaupt keine Idee hatte, was sie mit dem Tag anstellen sollte.

      Die polnische Reinigungskraft sollte kommen. Wenn sie sich doch nur krankmelden würde, damit Jack, dem es chronisch an Geld fehlte, für sie einspringen könnte. Doch das tat Krystyna nicht, sie war viel zu pflichtbewusst, um derart spät abzusagen. Sanne hatte oft Lust ihr zu helfen, doch davon wollte Krystyna nichts hören. Stattdessen hatte sie fast immer ihren erwachsenen Sohn dabei, und so arbeiteten sie in der Hälfte der veranschlagten Zeit als ein wohlfunktionierendes und pausenlos miteinander plapperndes Team zusammen. Da wäre sie bloß ein störendes Element.

      Wie wäre es mit Training? Nein, bei diesem Wetter? Kleidung aus, Kleidung an, schwitzen, duschen, und so weiter. Von ihrer Terrasse konnte Sanne runter in Jacks bescheidene Wohnung im Sandkagen sehen. Ab und zu erspähte sie ihn im Fenster, von wo aus er schräge Sicht auf den Kanal hatte, wenn er auf dem breiten Fensterbrett saß und schrieb. Vielleicht konnten sie heute frühstücken, wenn ihm nicht die Deadline irgendeines seiner Blogs im Nacken saß oder er vollständig von seinem Ewigkeitsprojekt »Verzweifelte Bekanntschaften« in Anspruch genommen wurde, eine Romanerzählung, die ihn dazu gebracht hatte, die Journalistenausbildung mittendrin abzubrechen.

      Sanne ergänzte den Bademantel um ein Halstuch und ging auf die Terrasse. In Jacks Fenster waren nicht einer, sondern zwei Schatten zu erkennen. Sie berührten einander. Vielleicht hatten er und Jesper wieder zusammengefunden, während sie verreist gewesen war. Oder vielleicht war er in der Stadt gewesen und hatte bei jemandem gepunktet, der es nicht so eilig hatte weiterzukommen wie Gilles.

      Sanne sog die Wärme auf und murmelte: »Der Ball ist im Tor, doch das Tor ist voller Löcher.«

      Die postkoitale Leere war keineswegs Neuland für Sanne, aber das hier war mehr. Es ging nicht um Gilles, den Spaß, den sie zusammen gehabt hatten, die vorübergehende Erlösung und das darauffolgende Gefühl innerer Leere. Es ging nicht um Sex. Auch nicht um ihr vielleicht zu einsiedlerhaftes Arbeitsleben.

      Es ging in erster Linie um Sara, und um Sannes Intuition und ihre Gefühle. Das, was G. S. extrasensorische Wahrnehmung nannte, oder einfach nur ESW: eine Art von übersinnlichem Empfinden, das Sanne dazu befähigte, etwas zu erleben, das sich jenseits des Objektiven und unmittelbar Zugänglichen abspielte. Es ging um ihre eigene kleine Sara, die Sam unmittelbar nach dem Unfall hatte beerdigen lassen, während Sanne sich in Dänemark aufhielt, um ihre absolut letzte und – wie sie nun wusste – gleichgültigste Vortragsreihe mit dem Titel »Kommunikation mit schwierigen Personen« abzuschließen.

      Warum hatte man sie nicht gleich nach dem Unfall informiert? Warum war Sara schon beerdigt gewesen, als Sanne in die USA zurückkehrte? Warum hatte sie während der gesamten Gedenkfeier das Gefühl, als ob man ihr etwas verschweigen würde? Selbst als Samuel sein Urteil wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss entgegennahm und mit Handschellen direkt in die Haft geführt wurde, beschlich sie dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmte, dass etwas immer noch ungesagt und verkehrt war.

      Weiter brachten ihre Intuition und ESW sie hingegen nicht. Wahrscheinlich handelte es sich nun eher um zunehmende Fantasien, die im schlimmsten Fall zu reiner Paranoia ausarten konnten, als um irgendeine Form extrasensorischer Wahrnehmung, für die es nicht den geringsten wissenschaftlichen Beleg gab.

      War Sara überhaupt tot?, fragte sie sich täglich selbst. Sie hatte ja niemals die Leiche gesehen. Es verging kein Tag, an dem Sanne nicht bedauerte, dass sie nicht verlangt hatte, das Grab öffnen zu lassen.

      Was, wenn die kleine Kinderleiche, die in dem Sarg lag, überhaupt nicht Sara war. Und weiter: Was, wenn es überhaupt kein Unfall gewesen war? Was, wenn Samuel aus dem einen oder anderen geisteskranken Grund Sara etwas angetan hatte? Seine Eifersucht war grenzenlos. Aber Mord? Nein, auf keinen Fall … oder vielleicht … weil alle Erfahrung zeigte, dass nichts sicher war in dieser Welt, in der die Wirklichkeit die Fantasie so oft übertraf.

      Aber nein, natürlich nicht, ihre Psyche spielte ihr einen Streich. Ihre starke Intuition, ESW oder nicht, hatte ihr in der Kindheit oft geholfen, auch später als klinische Psychologin, ja, sogar bei der Zusammenarbeit mit Møller und der Mordkommission. Aber die Intuition war niemals etwas anderes als ein Zusatz gewesen. Sie musste die Situation akzeptieren, wie sie war. Sie litt immer noch unter ihrer Trauer, die alles überschattete, an einem langjährigen Leugnen des Unerträglichen. Vielleicht nicht die angemessenste Reaktion, aber doch eine Art Schutz vor dem totalen Zusammenbruch.

      Dieser Erkenntnis zum Trotz war Sanne tagtäglich hin- und hergerissen: Sollte sie weiterhin als ein Teil der kontinuierlichen Trauerbewältigung in diesen Gedanken und Fantasien herumgraben – oder sollte sie in die USA fliegen, vor Gericht gehen und verlangen, dass ihr Kind exhuminiert und endlich in Sannes Anwesenheit identifiziert würde?

      Samuels Priester hatte, vermutlich um sie zu trösten, gesagt, Trauer sei ein Ausdruck tiefer Liebe. Aber war es nicht auch die Angst davor, der grauenvollen Wahrheit ins Auge zu blicken, dachte Sanne jetzt. Dass sie im Grunde ganz allein war und sich nichts sehnlicher wünschte, als diesen Zustand zu ändern, egal wie?

      Sie brachte immer seltener die Kraft auf, sich Menschen zuzuwenden. Viele von ihnen würden vermutlich Alzheimer entwickeln und an einem Herzinfarkt sterben, bevor sie sich dazu würde aufraffen können, ihnen eine Einladung zu irgendeinem unbedeutenden Abendessen oder einer Cocktailparty auf der Terrasse zu schicken, Dinge, um die es sich in ihrem Bekanntenkreis ständig drehte.

      Wann hatte sie zuletzt mit ihrer eigenen Mutter geredet? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Waren ihre Lebensauffassungen und Werte immer noch so unterschiedlich, dass sie ein vernünftiges Gespräch, eigentlich jeden Kontakt unmöglich machten? Ihre Mutter war jetzt älter, aber immer noch eine Mutter, die ebenfalls in gewisser Weise ihr Kind verloren hatte. Die Nabelschnur war schon lange auf mehr als eine Art gekappt. Ihr Magen sackte ab, als Sanne sich einen Augenblick lang vorstellte, wie sie ihre Mutter anrief und ihr von den Nächten erzählte, in denen sie träumte, wie sie auf dem amerikanischen Friedhof auf der Erde lag und mit ihren bloßen Händen grub, bis ihre Nägel einrissen und das Blut floss, tiefer und tiefer hin zu der Kinderleiche im Kirschholzsarg, die nicht dort sein konnte, nicht dort sein durfte, nicht Sara!

      Plötzlich kam es Sanne widernatürlich vor, dass eine Mutter und eine Tochter sich so entfremden konnten. Oder vielleicht war es nicht die Natur, sondern das Ergebnis dessen, was etwas zu euphemistisch Gesellschaftsentwicklung genannt wurde? Wann und womit hatte es überhaupt angefangen?

      Licht, Luft, und Bewegung, das war es, was sie jetzt brauchte. Sie würde einen Spaziergang auf dem Wall rund um den Stadtgraben machen. Ja, dann konnte sie an der Kinderbastion vorbeigehen und sich den Fundort von außen ansehen. Sie musste nur aufpassen, weder Møller noch Tange in die Arme zu laufen.

      12

      Mads lag ausgestreckt auf seiner Pritsche im Vestre-Gefängnis.

      Im Augenblick gaben sich die Miseren einander die Klinke in die Hand. Woher zum Teufel hätte er auch wissen sollen, dass Martin Judo-Experte war?

      Der Kampf hatte nur wenige Sekunden gedauert, dann lag Mads auf dem Boden vor dem Eingang zum Traumazentrum des Rigshospitals. Der nun von der Pritsche im Vestre abgelöst worden war.

      Die Füße ragten ein wenig über die Pritsche hinaus, weil Mads so groß war. In den ersten Tagen war er den Raum mehrmals abgeschritten. Das Ergebnis war jedes Mal das gleiche. Die Zelle maß acht Quadratmeter.

      Er wäre gerne den Tisch, den Stuhl, und den Schrank losgeworden, um mehr Platz zu haben, aber das war nicht möglich. Er hatte den nettesten der Gefängniswärter um Erlaubnis gefragt – sie wurden richtig sauer, wenn er sie so nannte – an jenem Tag, als sie ihm den Fernseher wegnahmen, weil Tange, der Staatsanwalt und irgendein


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