Aqua Mortis. Carsten Nagel
Als Teil der Analyse hatte das Ganze recht einseitig angefangen: Sie lag auf der Couch und redete, während er still reflektierend am Kopfende saß. G. S. war der Einzige, den Sanne jemals in die vollständigen Umstände von Saras Tod eingeweiht hatte.
»Hej, Sanne, schon zurück, wieder zu Hause, guten Appetit. Gute Reise? BLT?«
Ahmed, der kurdische Kellner, lächelte sie an und war schon dabei, in der Küche ein Bacon-Lettuce-Tomato-Sandwich zu bestellen. Bevor sie antworten konnte, drehte er sich jedoch noch einmal zu ihr um.
»Ich Idiot, ich vergessen. Kein BLT für zwei Stunden. Chef bestellen Saugwagen … kein big problem Kloake, nich’ geh’ Küche jetzt. Küche-Toilette, Toilette-Küche … Wasser kommen hoch, hoch, hoch. Du verstehen, ja?«
Sanne verstand Ahmed ausgezeichnet, ihr Lieblingskellner, seitdem er an einem warmen Abend im letzten Sommer im Café Oven Vande aufgetaucht war. Er war immer entgegenkommend und offen für ihre Wünsche, brachte ihr ab und zu Essen in die Wohnung hinauf, wenn sie nicht die Kraft aufbrachte aufzustehen, und war im Übrigen auf angenehme Weise gesprächig. Sie ging davon aus, dass er sich wie viele andere Geringverdiener in Dänemark illegal im Land aufhielt. Er klang auf jeden Fall nicht so, als hätte er sich in einer Sprachschule ausgiebig mit der Verwendung dänischer Verben befasst. Aber heute war sie müde und wollte so schnell wie möglich nach oben. Kurze Zeit später stand sie deshalb im Aufzug auf dem Weg in den ersten Stock.
Sanne warf die Schlüssel auf den Sofatisch im Wohnzimmer und ging ins Schlafzimmer. Ihr Bett lockte, sie hatte auf dem verspäteten Flug aus Bangkok nur ein paar Stunden geschlafen. Sie hoffte, dass es ihr gelang, sich am laufenden Tag wach zu halten, um schnellstmöglich wieder in den dänischen Tagesrhythmus hineinzukommen.
Zurück im Wohnzimmer schaltete sie den Fernseher ein. TV2 News brachte in Dauerschleife einen Beitrag über einen Kindermord auf der Amagergade. Ob Møller an der Sache dran war? Sie hatte keine Kraft, länger darüber nachzudenken, und schaltete das Gerät schnell aus.
Sanne warf einen Blick auf die Terrasse, wo sich nun alles in Winterschlaf befand. Die Küche sah nicht viel besser aus, ihr Kühlschrank war gähnend leer.
Sollte sie ihre Mutter anrufen? Es war eine Ewigkeit her, seit sie miteinander gesprochen hatten. Wenn man das überhaupt als Gespräch bezeichnen konnte. Sie hatten nicht viel mehr als das gemeinsam, was ihre Mutter als »gute Gene und Schlagfertigkeit« bezeichnete.
Den Großteil ihrer Kindheit hindurch hatte Sanne das mit den Genen bezweifelt und geglaubt, sie sei adoptiert worden. Ihren biologischen Vater hatte sie nie gekannt, er starb, als Sanne noch klein war. Die einzige Erinnerung an ihn war eine Ausgabe von Shakespeare Sonetten, sein Verlobungsgeschenk an ihre Mutter, aus denen sie Sanne in der ersten Zeit nach dem Tod des Vaters auf der Bettkante laut vorgelesen hatte.
Ihre Mutter war immer ein wenig distanziert und unterkühlt gewesen, mehr an ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen und ihrer Villa in Gentofte als an Sanne interessiert. Daran hatte sich bestimmt nichts geändert, als ihr Stiefvater und Kaffeegroßhändler Holger an Sannes siebtem Geburtstag einzog.
Mit der Zeit wurde es immer mehr zu einem Teil von Sannes Persönlichkeit, sich ein Stück abseits der häuslichen Normen zu bewegen. Die Pubertät tat ihr Übriges, und je mehr Sanne über das Leben außerhalb ihres Elternhauses lernte, desto mehr empfand sie es fast als ihre moralische Pflicht, in Opposition zu stehen.
Holgers Reaktionen auf ihr Verhalten standen ihrer Dickköpfigkeit in nichts nach. Nach einer ihrer zahlreichen Auseinandersetzungen bestellte er sie in sein Büro, wo er sie mit seinen langen Armen festhielt und Sanne in Anwesenheit seines Vizedirektors mitteilte, dass er ihr, wenn er ihr richtiger Vater wäre, die Zunge abschneiden und diese als Köder an seiner Angel befestigen würde.
Zum ersten Mal fehlten Sanne die Worte. Sie wollte einfach nur abhauen, konnte sich aber nicht aus seinem Griff befreien und musste gegen die Tränen ankämpfen.
Während die Männer nicht aufhörten zu lachen und das Geräusch noch tagelang in ihrem Kopf nachhallte, überdachte Sanne ihren nächsten Zug. Die perfekte Gelegenheit bot sich schon bald: Die jährliche Abendgesellschaft der Kaffeegroßhändler. Sannes Mutter hatte sich natürlich bereiterklärt, sie in der Villa zu veranstalten – warum eine so hervorragende Gelegenheit verstreichen lassen, sich selbst, die prächtige Villa und ihren Schmuck zur Schau zu stellen?
Sanne hatte eigentlich vorgehabt, auf den Tisch zu springen, wo sie entweder das Sozialistenlied »Wenn ich eine rote Flagge peitschen sehe« singen oder zwischen Vorspeise und Hauptgang strippen wollte, aber plötzlich war die Rehkeule schon aufgegessen, das Dessert ebenfalls, der Cognac und der Kaffee in der alten Bibliothek serviert, die Holger in »sein Herrenzimmer« umgetauft hatte.
Holger hielt eine Rede, in der er sich gründlich selbst beweihräucherte. Kaffeebohnen rauf, Kaffeebohnen runter, Import, Export, Röstung, Mahlen, Austausch. Am Ende hob er sein Glas und sagte: »Liebe Kollegen, liebe Gäste! Bevor ich einen Toast mit dem Wunsch nach einem weiteren profitablen Jahr ausspreche, möchte ich nur daran erinnern, dass ich meine wunderbare Frau – abgesehen von Sanne, die heute sogar auch dabei ist, eine ganz gute Wendung zu nehmen – für den Tanz zur Verfügung stelle, der im angrenzenden Salon stattfindet. Skål!«
Die Leute ergriffen ihre Cognacgläser und prosteten Holger, ihrer Mutter und Sanne zu. Sanne blickte hinunter in ihr Zitronenwasser, dann sah sie wieder auf. Dann nahm sie den Teelöffel vom Unterteller ihres Nachbarn, schlug damit gegen eine Flasche Sodawasser, stand auf und sagte: »Liebe Gäste … auch du, Holger. Ich will euch nicht weiter ermüden, sondern fasse mich so kurz wie möglich …«
Sanne erinnerte sich an die Stille, die einige Sekunden lang herrschte, die Andeutung von Nervosität in der Handbewegung ihrer Mutter, die ihr signalisieren sollte, fortzufahren, erinnerte sich an den Blickkontakt mit ihrem Stiefvater, bevor sie sich selbst innerlich wieder unter Kontrolle bekam.
»Holger, du hast nichts außer Kaffee zwischen den Ohren, und der ist obendrein noch dünn! Skål!«
Einen Augenblick lang war nur das Ticken der deutschen Standuhr zu hören, dessen Regelmäßigkeit plötzlich wie ein unheilverkündender Countdown zur Hölle klang. Holger saß wie gelähmt da, ganz baff, die Frau des Vizedirektors neben sich. Doch dann warf ihre Mutter den Kopf in den Nacken, sodass ihr Brillantschmuck glitzerte, und brach das Schweigen mit ihrem lautesten Salonlachen: »Meine Tochter ist so witzig, das hat sie von mir. Aber worauf warten wir noch, lasst uns doch tanzen.« Während die Erwachsenen tanzten, fand Sanne eine Flasche Champagner bei der Aushilfe in der Küche. Es war kaum ein Glas voll daraus getrunken worden. Sie nahm sie mit auf ihr Zimmer und fand sofort Gefallen sowohl an seinem Geschmack als auch an der Wirkung.
Holger und Sanne hatten bis zu dem Tag gekämpft, an dem Sanne als Siebzehnjährige mit einem amerikanischen Jazzmusiker ausriss, den ihr Stiefvater als »Neger« und »kohlenschwarz« bezeichnet hatte, obwohl jeder Idiot sehen konnte, dass ihr neuer Freund nougatfarben war. Und als die Verbindung zwischen Holger und Sanne auf Drängen ihrer Mutter wiederhergestellt wurde, hörten die beiden Streithähne dennoch nicht auf sich zu bekriegen, bis Holger eines Tages inmitten einer Schimpftirade über »die gelbe Gefahr« aus China, die neben dem Tee- auch den Kaffeehandel bedrohte, einen Asthmaanfall erlitt. Daraufhin hatten sie beide versucht, den Ball flach zu halten, Sannes Mutter wegen und in der Hoffnung auf eine friedlichere Zukunft. Es lohnte sich allerdings kaum. Drei Wochen später »schlief Holger friedlich ein«, wie ihre Mutter es ausdrückte. Kurze Zeit nach Holgers Tod verkaufte die Mutter die Villa in Gentofte und zog nach Los Christianos im südlichen Teil Teneriffas. Im englischen Bridgeclub traf sie Henry, der bald Holgers Platz einnahm, woraufhin sie zusammen in einen Luxuskomplex für wohlhabende Ausländer zogen. Sanne war ihm ein einziges Mal begegnet, und es war zu keinerlei Auseinandersetzung gekommen.
Trotzdem war es wohl besser, damit zu warten, ihre Mutter anzurufen, bis sie eines Tages mehr Energie übrig hatte, dachte Sanne nun. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, falls Henry dranginge. Falls es ihre Mutter selbst wäre, wäre es nicht viel besser. Und sie würde es nicht aushalten, wenn sie sich nach so langer Zeit wieder wegen allem und nichts in die Haare gerieten.
Sanne