Aqua Mortis. Carsten Nagel
Zerbrechliches an dem großen, jungen Mann, der nicht viel älter als Jeanette sein konnte. Mörder? Noch ein verlorener armer Kerl in einer verrückten Welt? Beides? Bis auf Weiteres fiel es schwer, nicht ein klein wenig Mitleid mit ihm zu haben. Es würde wohl lange dauern, bis der junge Mann wieder er selbst wäre.
»Ich würde gerne so viel wie möglich über das Ganze erfahren, Mads. Es handelt sich ja um ein sehr ernstes Verbrechen. Sicherlich auch eine schlimme Erfahrung für dich und die anderen.«
»Das ist wie ein verwirrender Film«, sagte Mads, dessen Blick durch den Raum irrte. »Ich glaube nicht, dass ich mich überhaupt konzentrieren …«
Er verstummte und sah auf den Schreibtisch.
»Jetzt gehen wir das Ganze von Anfang an durch, vielleicht wird es dann weniger verwirrend. Was hast du getan, bevor du heute Morgen hierher kamst?«
»Ich habe geschlafen.«
»Wann bist du aufgestanden?«
»Das muss gegen sechs gewesen sein.«
»Wann bist du ins Bett gegangen?«
Mads dachte nach und merkte, wie er errötete, als er nicht antworten konnte. Møller bemerkte die schnell blinzelnden Augenbewegungen des jungen Mannes. Die letzte Frage hatte ihn offensichtlich unter zusätzlichen Stress gesetzt.
»Ich kann mich nicht richtig erinnern«, bekam Mads schließlich heraus.
»Okay, Mads. Was hast du gestern Abend gemacht?«
»Nichts Richtiges … Nachgedacht.«
»Warst du mit jemandem zusammen?«
Mads schüttelte den Kopf und sah zum Fenster. »Ich kann am besten alleine nachdenken.«
»So geht es mir auch. Warst du zu Hause?«
»Nein, ich bin spazieren gegangen. Ich habe mich auf eine Bank gesetzt und nachgedacht.« »Kannst du dich erinnern, welche Bank, wo?«
Mads blickte schnell in Møllers Richtung, dann ließ er seinen Blick wieder durch den Raum wandern, zu Martin, zum Fenster und wieder zu Møller. »Es klingt komisch, aber ich war auf dem Assistens Kirkegård. Es ist weil … Ich wohne gleich nebenan und bin gerne dort. Es ist ja nicht länger ein richtiger Friedhof, jedenfalls nicht ausschließlich, es ist ja fast schon ein Park.«
»Was hast du zu dieser Zeit auf dem Friedhof gemacht?«
»Ich habe dort gesessen und nachgedacht und … Ich habe dagesessen und ein paar Bier getrunken«, fügte er an Martin gewandt hinzu.
»An einem kalten Winterabend hast du dagesessen und ein paar Bier getrunken?«, fuhr Møller fort.
»Ich wollte nur die Zeit totschlagen.«
»Die Zeit totschlagen?«
»Ich meine, da war so viel Lärm, ich hatte Kopfschmerzen… Mir geht es nicht so gut«, fügte Mads hinzu.
Møller merkte, dass das auch für ihn galt. Sonst gingen ihm Verbrechen nicht mehr so an die Nieren. Doch heute war ihm schwindelig und ein wenig übel. Vielleicht war die Grippeepidemie im Anflug, die er bisher hauptsächlich als eine Mischung aus Hysterie und Marketingstrategie von Seiten der Pharmaindustrie angesehen hatte.
»Trink ein Glas Wasser, das hilft normalerweise«, schlug er Mads vor, und signalisierte Martin mit einer Handbewegung, allen einzuschenken.
»Ich will nur sichergehen, dass ich dich richtig verstehe«, sagte Møller zu Mads. »Es ist klar, dass du jetzt unter Schock stehst. Aber sagtest du, dass gestern Abend Lärm in deinem Kopf war?«
»Nein, eher in der Wohnung, oder … beides. In der Wohnung waren alle möglichen Menschen, und die ganze Zeit laute Musik, jemand schrie und lachte. Ich habe nur versucht, Ruhe zum Nachdenken zu finden.«
»Okay, zu der Wohnung kommen wir später. Hast du auf dem Friedhof mit jemandem geredet?«
»Nein. Ich sah ein Licht in der Dunkelheit, und dann den Schatten von … ich glaube, es war ein Mann. An mehr kann ich mich nicht erinnern, bis zu … der Sache heute Morgen.«
»Nicht so schnell, Mads. Ich möchte gerne hören, woran du an so einem dunklen und kalten Abend beim Rumsitzen gedacht hast.«
»An alles Mögliche.«
»Du hast über Dinge nachgedacht. Welche Dinge?«
»Nein, vielleicht eher über Menschen.«
»Menschen?«
»Ja, an etwas in der Art Vater, Mutter, Kind. Ich dachte an meine Mutter und meinen Vater … die Kinder hier.«
»Du dachtest an die Kinder hier?«
»Ja, auch an sie.«
»Was dachtest du?«
»Sie taten mir ein wenig leid.«
»Warum?«
»Ich fand es traurig.«
»Was war traurig?«
»Das Ganze. Wir sollen uns bald verabschieden. Ich verreise zu Weihnachten, das will ich ja selber. Aber es tut trotzdem weh, und ich kann es nicht ertragen, mir vorzustellen, dass es vielleicht auch ihnen wehtut und es somit auf gewisse Weise meine Schuld ist. Und dann … Plötzlich stehe ich mit einem Messer in der Hand da, der Kopf steckt im Eimer fest, und …«
»Und?«
»Dann bin ich mit der Stellvertreterin zusammengestoßen. Ist sie okay?«
»Einigermaßen«, nickte Møller. »Sie wird schon wieder. Sie war es, die Alarm geschlagen hat.«
»Was ist denn passiert?«
»Sie hat nur ein paar Haare verloren und steht unter Schock, aber ansonsten ist ihr nichts passiert. Du hast dir den Kopf am härtesten angeschlagen und bist vermutlich ohnmächtig geworden.«
»Stell dir nur mal vor … Ida«, hörte man eine aufgeregte Stimme draußen auf dem Gang. »Dem Schwein sollten sie den Schwanz abschneiden.«
»Wir sind gezwungen, dein Alibi zu überprüfen«, fuhr Møller fort.
Tränen rannen Mads’ Wangen hinab. Wie konnten sie glauben, dass er … Schluchzend vergrub er sein Gesicht in seinen Händen. Møller sah die roten, striemenähnlichen Abdrücke an den Handgelenken, wollte aber nicht gerade jetzt danach fragen.
»Was ist mit denen, die sauber machen? Das sah mir aus wie Wischwasser«, schluchzte Mads. »Vielleicht gibt es Spuren auf dem Mopp. Der Vorsitzende des Elternbeirats ist auch manchmal abends hier. Und ich habe jemanden oben auf dem Wall gesehen, ich glaube, es waren Langzeitarbeitslose … oder vielleicht Obdachlose.«
»Wir werden das Ganze untersuchen«, sagte Møller.
Er wartete einen Augenblick, bevor er Mads eines der Papiertaschentücher reichte, die er immer zu diesem Zweck mitbrachte. Bloß kein Stress. Bei einer Befragung war es, wie in allen anderen Situationen des Lebens, letztendlich war es besser, den Leuten die Zeit zu geben, die sie brauchten.
Martin hatte gut Farbe im Gesicht bekommen, sagte aber glücklicherweise nichts und verhielt sich zurückhaltend.
Møller räusperte sich, Mads trocknete sich die Augen und blickte auf, während er das Taschentuch in seiner rechten Hand zerknüllte.
»Du hast das Mädchen also gefunden«, sagte Møller. »Und du kennst es?«
»Ja, das ist … Klein-Ida.«
»Klein-Ida. Ida Thomsen?«
»Ja«, antwortete Mads so leise, dass die Stimme der Stellvertreterin aus der Küche zu ihnen drang und ihn fast übertönte: »Ich will nicht mehr, dieser Ort, das ist zu viel, und sie ist in London, ich kann nicht mehr.«
»Gibt es auch eine große Ida?«, fuhr Møller fort.
»Die große Ida«, nickte Mads. »Sie wird