Aqua Mortis. Carsten Nagel

Aqua Mortis - Carsten Nagel


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versuchte, sich selbst etwas aufzumuntern, um diesem Gefühl hoffentlich besser entgegentreten zu können. Die SOS-Reisen, bei denen sie in Not geratenen Skandinaviern auf der ganzen Welt half, boten ihr sowohl sinnvolle Arbeit als auch ein vernünftiges Einkommen. Es war eine gute Reise gewesen. Es war ihr gelungen, der jütländischen Familie in Laos bestmöglich zu helfen. Der Mann, der unglücklicherweise zu dicht an eine der unzähligen kleinen Streubomben gekommen war, die die Amerikaner während des Vietnamkriegs so reichlich auf das Land hatten rieseln lassen, war schnell behandelt und mit ihrer Hilfe in eins der führenden Krankenhäuser des Nachbarlands überführt worden. Der Spezialist im Krankenhaus in Bangkok erklärte ihnen, dass der Patient ein typisches Opfer der ›Bombies‹ war. Er würde den Fuß und den untersten Teil des Beins verlieren, aber überleben. Sanne hatte die Familie unmittelbar ins Krankenhaus gerufen und über die relevanten Details ausgefragt. Und nach dem psychologischen Rapport hatten sowohl das Ehepaar als auch die Kinder ihre Krisenhilfe angenommen und davon profitiert. Sie hatten zu weiteren Einrichtungen Kontakt aufgenommen, die Behandlungen ohne Warteliste anboten und die der Familie zur Verfügung stehen würde, sobald sie nach Dänemark zurückgekehrt war. Im Flugzeug hatte sie ihren vollständigen Bericht geschrieben und ihn kurz nach ihrer Landung in Kastrup an SOS International geschickt. Ihre Aufgabe war damit erledigt und sie konnte in Ruhe auf ihr Honorar warten. Und der Tag war, wie jedes Mal, wenn sie von einer SOS-Tour zurückkam, völlig klientenfrei.

      Doch die innere Anspannung ließ sich leider nicht so einfach verdrängen. Sie überlegte, eine Schlaftablette zu nehmen und ins Bett zu gehen.

      Wenn sie ausgeruht war, hatte Sanne das Gefühl, mit fast allem fertig werden zu können. Da war nicht viel anderes als die Tragödie mit Sara, die sie quälte. Ohne ausreichenden Schlaf fühlte sie sich oft so schwach und hilflos, dass sie sich wünschte, sie wäre nie Psychologin geworden, und dass ihr ausnahmsweise mal geholfen werden müsste. Sie sollte am besten bald Kontakt zu G. S. aufnehmen, wenn sie auch versuchen würde, Sara aus den Gesprächen rauszuhalten. Einen Augenblick erinnerte Sanne sich an die Wochen, in denen ihr klar wurde, dass ihr Betreuer von ihren Mutter-Kind-Verlust-Problemen genug hatte.

      »Deine Tochter wurde neun Monate alt, du hast ein Jahr lang ununterbrochen getrauert und von ihr gesprochen. Wann gedenkst du mit dem Bluten aufzuhören?«, hatte G. S. Sanne unumwunden gefragt, als sie ihm in Tränen aufgelöst von Saras Tod und ihren eigenen wilden Fantasien erzählt hatte. Und bereits eine Woche später sagte er: »Sanne, ich weiß, dass du es besser weißt. Es ist Zeit, von einem verlorenen Objekt auf ein lebendiges überzugehen.«

      Was hatte G. S. sich vorgestellt? Sollte sie sich ein kleines Meerschweinchen kaufen? Seine international berühmte Abhandlung über »Die Geschichte der Bestialität aus Psychiatrischer Perspektive« war auf jeden Fall keine Garantie für ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen bei seiner klinischen Arbeit.

      War seine Frage ein Ausdruck von Professionalität, Ungeduld oder Zynismus, dachte Sanne nun. Vielleicht eine Mischung aus allem. G. S. selbst war kinderlos, genau genommen unfruchtbar, nachdem er ein mumpsverwandtes Testikelproblem missinterpretiert und ignoriert hatte.

      G. S. interessierte sich vor allem für den Einfluss der Kindheit auf die Gefühle, die Gedanken und den Grad der Reife eines Erwachsenen, wohingegen Kinder selbst ihn nicht besonders beschäftigten.

      Wenn es um Sannes eigenes kleines Mädchen ging, durfte nicht einmal G. S. ihr vorschreiben, was sie tun musste oder sollte, egal, wie viel Zeit vergangen war. Es sollte ihr erlaubt sein, in Frieden zu leiden, ohne das typisch leere Geschwafel ihres Fachs über die Krise als Wendepunkt hin zu einem intensiver wahrgenommenen und authentischer gelebten Leben. Solange es ihr passte, würde sie weiterhin ihr stummes Ja nicken und aufstehen, wenn ihr Leid ihr andeutete, dass sie bis in alle Ewigkeit miteinander tanzen würden.

      War es bloß das Nachhausekommen, das ihr immer schwerer wurde und sie einfach umzuwerfen drohte? Warum konnte sie sich nicht einfach entspannen und genießen, zu Hause zu sein?

      Der Anrufbeantworter des Festnetztelefons war voller Nachrichten von Freunden, Einladungen von Bekannten, zwei neuen Anfragen von Privatklienten, abgesehen von G. S., der dabei war, eine neue Vorlesungsreihe für die Sigmund-Freud-Gesellschaft zu planen. Der Fokus lag auf den unterschiedlichen Auffassungen über den Lebens- und Todestrieb, ausgehend von Freuds Schriften über Eros und Thanatos. Würde Sanne am 23. Juli etwas dazu vortragen wollen? Es könne auch gerne ein Beitrag mit einem persönlichen Twist sein. Und die letzte Nachricht kam von ihrem besten Freund Jack, der mit ihr heute Abend zu einer Vernissage und anschließend in einem neuen Schwulenrestaurant essen gehen wollte, aber die Nachricht war bereits über eine Woche alt.

      Sie hatte nicht die Kraft, auf irgendetwas davon jetzt zu antworten. Einen Augenblick dachte sie darüber nach, ihre Sporttasche zu packen und trotz des Wetters mit dem Fahrrad zur Fitness World auf Holmen zu fahren, wo sie boxte und ab und zu eine Spinningstunde mit Jack einlegte.

      Körperliche Betätigung war ein hervorragendes Mittel gegen innere Unruhe, negative Gedanken und eine lange Reihe anderer Qualen. Sanne trieb selbst so oft wie möglich Sport und empfahl es all ihren Klienten, wenn sie nur meinte, dass es auch nur den kleinsten Effekt haben könnte. Trotzdem ließ sie sich jetzt einfach aufs Sofa fallen.

      Über ein Jahr lang waren Hass und Trauer gleichzeitig da gewesen. Weder wollte noch konnte sie die Trauer loslassen, denn ließ sie sie los, war es ihr, als verlöre sie dadurch den letzten Kontakt zu Sara. Und was dann? Der Hass hingegen … Sie spürte zwar, dass sie nicht den Rest ihres Lebens damit zubringen konnte, aber noch war sie einfach nicht bereit, Samuel die Alkoholfahrt zu vergeben, die Sara das Leben gekostet hatte.

      Sanne versuchte es noch mal mit den TV2 News. Ihre Ahnungen wurden bestätigt: Møller war am Mordfall in der Kinderbastion dran, der Reporter brachte mit einem breiten Lächeln seine Hoffnung auf eine baldige Aussage von »einem der führenden Mordermittler des Landes« zum Ausdruck.

      Wer weiß, ob er noch einmal versuchen würde, seine Klauen in sie zu schlagen. No way, sie würde nicht darauf eingehen. Zwar hatte ihre Doktorarbeit das Thema »Tod und der Sterbende« behandelt, aber weder die Abhandlung noch der amerikanische Täterprofilingkurs machten aus ihr eine Kriminalpsychologin. Ihr Hauptgebiet war und blieb Traumatologie und alles, was mit Krisen- und Katastrophenpsychologie zu tun hatte.

      Dass sie im Rahmen der Verlängerung ihres Lehrauftrags an der Polizeischule bei einer Reihe ernsthafterer Verbrechen hinzugezogen und zuletzt von der Mordkommission auf Beraterbasis angestellt worden war, änderte nichts an der Sache. Wie gerne Møller sie auch ins Boot der Mordkommission holen wollte, für sie war das Vergangenheit.

      Møller war ehrlich gesagt der Letzte, auf den sie jetzt Lust hatte, allein schon der Gedanke an ihn regte sie auf. Møller war gleichzusetzen mit … ja, in der Tat in erster Linie mit einer Toten. »Ich möchte dich bitten, die Dinge zu differenzieren«, sagte Sanne ab und an zu ihren Klienten, was tatsächlich oft schon half. Sie selbst konnte das nicht, wenn es um die Gefühle ging, die Møller in Gang setzte. Zusammen wurden Leid und Trauer in einen mächtigen Ringer verwandelt, der sie wie ein kleines, hilfloses Opfer zu Boden warf.

      Wenn es auf dieser Welt etwas gab, was Sanne nicht sein wollte, dann ein Opfer. Oder auch nur wehrlos. Ich bin eine Überlebende, schärfte sie sich wieder und wieder selbst ein, wenn sie Sara nicht mehr in ihren Armen spüren konnte.

      »Herr, gib mir Kraft, durch diesen Tag zu kommen«, hörte Sanne sich plötzlich selbst murmeln, zu ihrer eigenen großen atheistischen Verblüffung.

      Sie stand auf und ging in den Flur. Vor dem Spiegel frischte sie ihre Lippen mit rosa Lipgloss auf. Das helle, schulterlange Haar band sie zu einem kleinen Pferdeschwanz, was ihr Gesicht offener und zugänglicher machte. Der Concealer überspielte die Müdigkeit unter ihren Augen.

      Sie musste jetzt raus auf die Straße. Sie brauchte dringend etwas zu essen und Sex.

      8

      Der Wind peitschte die gefühlte Temperatur auf minus 15 Grad hinunter, obwohl das Thermometer nur ein paar Grad unter Null anzeigte. Martin hatte Probleme mit seinem Auto auf der Amagergade: Das Schloss ließ sich weder über die Zentralverriegelung noch manuell öffnen. Møller schüttelte sich und versuchte,


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