Aqua Mortis. Carsten Nagel
Anrecht darauf besitzen?«, hatte er eines Tages gefragt, als sie dasaßen, über Intimes plauderten, und ihre gemeinsame Leidenschaft genossen, Bombay Sapphire. Nicht bloß irgendein Gin, es musste schon die blaue Flasche sein. Sie waren sich einig, dass ein Saphir im Blut wie eine Feder am Hut war, abgesehen von einem bedeutend leichteren Gang durchs Leben.
Sanne ging weiter zum Lagkagehuset mit dem guten Bäcker auf der Torvegade. Sie wollte sich ein Sandwich holen, bevor sie zu einem Spaziergang auf dem Wall aufbrach.
Sie sah den Unbekannten schon durchs Fenster, bevor sie die Bäckerei betrat. Er saß auf einem der hohen Caféstühle mit Aussicht auf den Kanal, sein Haar glänzte blauschwarz, seine Haut glühte dunkel, bronzefarben.
Sanne ging hinein und zog eine Nummer. Die Auslage quoll über vor Baguettesandwichs, mit denen sie sich zu versorgen gedacht hatte. Sie drehte sich für einen Augenblick um und sah in Richtung des unbekannten Mannes. Er trank aus einem großen Pappbecher Kaffee. Auf dem Tisch vor ihm lag ein unberührtes Sandwich auf einer Serviette. Jetzt sah auch er sie an.
Im selben Moment rief eine junge Frau hinter dem Tresen Sannes Nummer auf.
»Ich hätte gerne eins von diesen da mit Hummus und sonnengetrockneten Tomaten«, sagte sie. »Da ist auch Rucola drauf«, erwiderte das Mädchen. »Gut, das nehme ich, und dann noch einen großen Becher Kaffee.«
Den Kaffee in der einen und das Brot in der anderen Hand ging Sanne zum Fenster hinüber und setzte sich ein paar Plätze von dem Unbekannten entfernt hin. Sie registrierte, wie seine Augen ihr den ganzen Weg zu ihrem Platz folgten.
Sie setzte sich bequem hin, nahm ihr Sandwich mit beiden Händen und sah in seine Richtung. Sie hatten direkten Blickkontakt. Sie hob ihr Baguette an und machte eine Art Skålbewegung in seine Richtung.
Der Unbekannte zögerte einen Augenblick. Dann beantwortete er ihren Gruß, indem er ebenfalls sein Sandwich nahm und es anhob, begleitet von einem leicht überraschten Lächeln.
Sie tat ihren ersten Bissen, ohne ihren Blick von ihm abzuwenden, der immer intensiver wurde.
Braune Augen, dunkle Bartstoppeln, wundervolle Hände, nicht schlecht, dachte Sanne.
Der zweite Bissen folgte. Die Sehnen und Muskeln am Hals des Unbekannten traten hervor, während er aß.
Sanne fiel auf, dass sie im Takt kauten, und spürte gleichzeitig das Verlangen danach, zu verschwinden und sich in seinen Armen zu verstecken. Biss für Biss verwandelten sie sich immer mehr in zwei wilde Instrumente, die allzu lange solo gespielt hatten, und genau in diesem Augenblick fanden sie in einem kleinen Stück Musik zusammen, nur für sie beide.
Ein Polizeiwagen donnerte mit heulenden Sirenen und blinkendem Licht auf der Torvegade vorbei.
Sanne leckte sich ein wenig Hummus von den Lippen. Der Mann stand auf. Die Serviette rund um den Kaffeebecher gelegt blickte sie von ihm zum Ausgang und wieder zurück. Eine Sekunde lang geriet sie in Zweifel. Hatte der Unbekannte seine Meinung geändert, war er auf dem Weg raus? Oder war er auf dem Weg zu ihr herüber? Sie spürte ihr Herz schlagen, ihr wurde noch wärmer und sie wusste, dass herüber auch hinein bedeutete – in sie.
»Lass mich dir helfen«, sagte der Unbekannte und wischte mit seiner Serviette das letzte bisschen Hummus von Sannes Lippen.
»Danke.«
Allein sein Geruch und seine Hand an ihren Lippen ließen sie erschaudern. Weder wollte noch konnte sie ihrem Bedürfnis widerstehen. Jetzt musste sie spielen und die Chance nutzen. Direkt und ohne Umschweife.
Er kam ihr zuvor: »Wie viel Glück kann man haben?«
Sein Dänisch war fast perfekt. Sein leichter Akzent klang französisch und wunderbar.
»Sehr viel«, antwortete sie. »Lass den Kaffee stehen und komm mit mir nach Hause.«
Sie verließen das Lagkagehuset gemeinsam und gingen durch den Schnee den Kanal entlang zu Sannes Wohnung. Der Unbekannte zeigte auf den Bootsverleih mit dem dazugehörigen, auf dem Wasser treibenden Hausboot, das ein Café beherbergte, und erzählte, dass er Miteigentümer sei und in der Sommersaison dort arbeitete. Momentan war er nur kurz zu Besuch. Im Winter wohnte er in Nizza. Sanne kannte die Gefahr, auf dem Gehsteig und unter den Hausvorsprüngen von herunterfallenden Eiszapfen getroffen zu werden, also zog sie ihn mitten auf die kopfsteingepflasterte Straße. So schön, so gefährlich, dachte sie und betrachtete die nadelspitzen Eiszapfen, die von den Dachrändern hingen, während sie gleichzeitig die Hand des Unbekannten in ihrer spürte.
Vor Jacks Sandkagen legte er seinen Arm um Sanne und zog sie zu sich, sodass ihre Lippen sich unvermeidlich trafen. Im selben Moment knurrte ihr Magen ein zufriedenes »Danke fürs Essen«, und sie mussten beide lachen.
»Wir müssen dahin«, sagte Sanne und nickte in Richtung Christianshavnergården. »Ich kann uns warmen Gløgg machen.«
»Danke, aber hättest du vielleicht auch einen Aquavit? In Dänemark halte ich mich so gut es geht an die lokalen Sitten und Bräuche, nicht zuletzt an euren Schnaps.«
Beim bloßen Klang des Wortes Schnaps fühlte Sanne sich wieder in die Unizeit mit ihren Sauftouren zurückversetzt. Sie hatte Aalborg Rot getrunken und hatte sich sofort in eine Solotänzerin am Königlichen Ballett und daraufhin in eine Trapezkünstlerin in einem Wanderzirkus verwandelt. Alle einengenden Schnüre waren verschwunden, als sie die schönste Pirouette drehte und einen doppelten Salto mortale rückwärts vollführte – leider auf einem Ausziehtisch. Sie erwachte in der Gentofte Notaufnahme mit einem gebrochenen Handgelenk und den mehr oder weniger aufmunternden Worten ihrer Mutter: »Lass das dein Lehrgeld sein, Sanne, und mach es von nun an wie ich: Champagner, Champagner und Wasser. Jedes dritte Glas sollte immer Wasser sein, nichts ist weniger schick als das dehydrierte Gesicht einer Frau.«
»Du bist so still geworden. Stimmt etwas nicht?«, fragte der Unbekannte.
»Nein, nein, du bekommst Aquavit«, erwiderte Sanne.
Sie gingen das letzte Stück am Kanal entlang. Direkt vor ihrer Eingangstür wäre er fast auf der glatten Straße ausgerutscht.
»Ich heiße übrigens Gilles«, sagte er, als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. »Sanne«, sagte sie und öffnete die Tür.
Im Eingang umarmte er Sanne und küsste sie wieder, sodass sie spürte, wie ein Wohlgefühl sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete.
»Jetzt müssen wir nur noch den Aufzug zum Gipfel nehmen«, sagte sie. »Der Gipfel«, wiederholte er. »Den erreichen wir heute schon noch.«
10
Mads bekam mehr und mehr das Gefühl, in einem Hollywoodfilm mitzuspielen. Alles ging so schnell, dass die Wirklichkeit einfach nicht mithalten konnte. Der Flug über den Fahrradlenker, der Gefangenentransport der Polizei bei Nørreport, die Schneidezähne des rothaarigen Mädchens auf dem Asphalt, Klein-Ida kopfüber in diesem Eimer, die Angst in den Augen der Stellvertreterin, die Polizei, die ihn verhörte, als wäre er ein verdammter Krimineller, und jetzt saß er auf dem Rücksitz eines Einsatzwagens mit Blaulicht auf dem Weg nicht einmal mehr zur Polizeiwache, sondern zum Traumazentrum des Rigshospitals.
Martin Sørensen trat aufs Gaspedal, während er Nachrichten über das Funkgerät aufgab und empfing. Das Auto rutschte heulend durch jede Kurve, vor Mads schaukelte Møller von einer Seite zur anderen, nur gehalten vom Sicherheitsgurt.
Was würde Martin tun, wenn sie das Krankenhaus erreichten? Møller und den Ärzten ins Krankenhaus folgen? Im Auto bleiben und sofort weiter zur Polizeiwache fahren? Mads Handschellen anlegen?
Handschellen, da würde er sich auf jeden Fall weigern! Doch was konnte er tun? Bei voller Fahrt aus dem Wagen zu springen war zu riskant. Er musste warten, bis sie das Krankenhaus erreichten und blitzartig die Lage einschätzen.
Mads fixierte Martins Nacken. Der war schön muskulös. Muskelmäßig befand Martin sich ungefähr auf dem Niveau von Mads’ Trainingskameraden aus dem Fitnessstudio.
Mads schien es, als wäre er selbst ein wenig größer als Martin,