Aqua Mortis. Carsten Nagel
»Kinderbastion.«
»Ja, und wie lange warst du allein? So ungefähr.«
»Ich glaube … vielleicht eine Viertelstunde.«
»Was hast du hier als Erstes gesehen?«
»Den Sandsack … Also, es war ja keiner, auch keine Elfe, aber ich dachte zuerst … Nein, falsch, als erstes bemerkte ich, dass die Tür nicht verschlossen war, dann etwas, was von der Decke hing, ich konnte nur nicht erkennen, was es war, bevor …«
»Bevor?«, wiederholte Møller so freundlich wie möglich und versuchte, ihm da durchzuhelfen.
»Ja, also, bevor ich das Licht einschaltete, und dann … Ida? Ich habe sie erst gar nicht erkannt, ich wusste nicht, dass sie das war. Zunächst stand ich nur da. Dann versuchte ich, sie hochzuheben. Ich habe es nicht geschafft. Ich lief in die Küche, um ein Messer zu holen, ich kann mich fast nicht mehr dran erinnern.«
»Du hast sie da runtergeholt, nicht wahr?« »Ja, selbstverständlich, das musste ich, das war so … Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Du hast die Handschuhe anbehalten?« »Die Handschuhe«, sagte Mads und drehte und wendete seine Hände, als würde er erst jetzt entdecken, dass er sie noch immer trug. »Ich … Ja, das habe ich wohl.«
»Wir müssen dich bitten, sie uns zu geben«, sagte Møller.
Mads streifte sie ab, Martin Sørensen nahm sie entgegen und legte sie in eine durchsichtige Plastiktüte. Mads verfolgte den Weg der Handschuhe mit den Augen.
»Warum hast du nicht 112 angerufen?«, fuhr Møller fort.
Mads richtete sich ein wenig auf. Zum ersten Mal sah er Møller direkt in die Augen.
»Oft kommt ihr sowieso nicht, wenn man euch anruft. Ich habe von mehreren Einbrüchen gelesen, wo die Polizei überhaupt nicht …«
»Okay, Mads, du hast wohl Recht damit, dass es da Probleme geben kann, aber das lassen wir mal beiseite. Wir konzentrieren uns auf heute Morgen, okay? Wollen wir uns darauf einigen?«
»Ja, das stimmt.«
»Warum hast du das getan?«
»Was getan?«
Die Panik in Mads’ Stimme war nicht zu überhören, die Frage versetzte ihn eindeutig in Unruhe. Møller sprach gefasst weiter. »Sie dort runtergeholt.«
»Ich wollte das … sie nur befreien.«
»Hast du überhaupt nicht daran gedacht, auf uns zu warten?«
»Ich konnte es nicht ertragen, den Kopf in dem schmutzigen Wasser«, sagte Mads.
»Ja, ja«, sagte Møller. »Die Techniker sind nicht wirklich begeistert. Sie werden einige Proben nehmen, auch von dir. Und du musst mit auf die Wache und eine detailliertere Aussage abgeben.«
Mads nickte, Tränen traten ihm wieder in die Augen, er murmelte: »Klein-Ida, ihr Kopf … die Mütze … Entschuldigung.«
»Ähm, ich glaube, er steht unter Schock«, flüsterte Martin Møller zu.
Nebenan in der Küche hatte die Stellvertreterin wieder angefangen, laut zu weinen. »Die Krisenhilfe ist unterwegs«, hörte Møller jemanden beruhigend auf sie und den Rest des Personals einreden.
»Ich glaube übrigens, dass es ein Seil aus Randers war, Randers Reb«, sagte Mads wie in Trance.
Eine der Erzieherinnen klopfte an und öffnete die Tür. Neben ihr stand eine ältere, dickliche Frau, die einen scheuen Eindruck machte. Sie hielt einen Teller in der Hand.
»Ja, Entschuldigung, dass wir stören, ich bin Pernille und das ist Marie, unsere Köchin, sie wollte nur …«
Mit einem kleinen, freundlichen Schubs bugsierte sie Marie über die Türschwelle und weiter in den Raum hinein. Die runde Brille konnte nicht die tränennassen Augen der kleinen Frau verbergen, als sie zu Mads ging und den Teller mit Brötchen und Käse vor ihm hinstellte.
»Versuch jetzt ein wenig zu essen, ich weiß ja, dass du zu Hause nie was bekommst«, sagte sie.
7
Sanne Berg bat den Taxifahrer, vor dem Café Oven Vande anzuhalten, das im Erdgeschoss des »Christianshavnergården«-Hauses lag und auf Christianshavns Kanal hinausging. Es war zur Gewohnheit geworden, dass sie hier immer ein Sandwich kaufte, wenn sie von einer ihrer Dienstreisen nach Hause kam.
Sannes Penthousewohnung, der »Gipfel«, lag im selben Gebäude wie das Café. Die Wohnung war nicht groß, aber es gab eine Terrasse, und aus diesem Grund hatte Sanne zugeschlagen und sie gekauft, als alles andere in ihrem Leben auseinanderzubrechen schien. Es war Sommer gewesen, die Terrasse platzte vor Üppigkeit des Grüns und der Blumen in allen Farben. Die überwältigende Schönheit, die herrlichen Düfte, die Ungestörtheit, die Aussicht, das Ganze hatte sie wie eine große tröstende Chance verstanden: Wenn sie sich jemals mit Saras Tod würde abfinden können, dann im »Gipfel« mit dieser paradiesischen Terrasse.
»Na, zum Teufel, da sind die Bullen«, sagte der Fahrer in einem Ton, als ob schon die Tatsache selbst eine Gefahr darstellte.
Gott weiß, ob er gesucht wird oder einfach nur paranoid ist, dachte Sanne. »Das macht dann 190«, fügte er hinzu.
Sanne gab ihm 200 und stieg aus dem Wagen. Sie reiste immer so leicht wie möglich, am liebsten nur mit Handgepäck, das sie im Taxi auf dem Rücksitz behielt. Sie hatte nicht die Geduld, länger zu warten als absolut notwendig.
Ein paar uniformierte Beamte und Falck-Leute hatten auf der Snorrebrücke Stellung bezogen, die sich schräg vor dem Café Oven Vande über den Kanal erstreckte. Sie waren dabei, etwas durch die Schollen und den Eis- und Schneematsch hochzuziehen. Sannes Neugier behielt über Hunger und Kälte die Oberhand. Sie überquerte die Straße und ging zu den Männern hinüber.
»Und, wie läuft das Eisfischen?«
Die Männer blickten auf. Sie betrachteten Sanne sichtlich amüsiert und warfen einander ein paar schlecht getarnte, mehrdeutige Blicke zu. Sahneschnittchen und sowas.
Schön, dass es noch Männer gibt, die etwas vom Flirten verstehen, dachte Sanne.
»Es ist nur ein Fahrrad«, sagte der eine Beamte und deutete auf das überwiegend zugefrorene Wasser.
Sanne wusste sofort, dass von einem Verbrechen die Rede sein musste. Zu dieser Jahreszeit wurde der Kanal niemals von Gerümpel gereinigt. Im Sommer beobachtete sie das Geschehen von ihrer Terrasse aus, die auf der einen Seite Aussicht auf den Kanal und weiter über Kopenhagen und auf der anderen Seite auf die Erlöserkirche mit dem gewundenen Turm und dem ziemlich lauten Glockenspiel bot. Oft setzte sie sich mit einer Flasche Wein auf das Bollwerk, um die Sommerstimmung zu genießen und mit anderen Anwohnern zu plaudern.
»Da ist die Ladefläche, ich glaube, wir haben es, verdammt noch mal«, sagte der Beamte, während ein Falck-Mann den kleinen Kran vom Auto aus dirigierte. Eins der typischen Lastenfahrräder aus der Schmiede in Christiania kam zum Vorschein.
»Schönen Tag noch«, sagte Sanne und ging zurück zum Café.
»Gleichfalls«, erklang es von den Männern, einer von ihnen fügte am Ende sogar »Schatz« hinzu.
Sanne gefiel es, dass sie im Alter von 43 immer noch die Aufmerksamkeit von Männern erregen konnte, und oft auch mehr als das. Wenn alles andere dunkel und unmöglich schien, brachte die Erotik ein Licht in ihr Leben, das ihr für eine Weile neue Kraft gab. Sex war ganz einfach, zusammen mit gutem Wein, Sannes bevorzugte Energiequelle, wenn sie »down & under« war, wie sie es selbst gerne nannte. Dass Gammeltoft-Svendsen, ihr früherer Psychoanalytiker und jetziger Supervisor, sich auf das etabliertere Diagnosesystem bezog und zuerst über Trauer und seither von Depression gesprochen hatte, störte sie nicht. Auch nicht, wenn er die Überlebensmanöver, die auf Leiden folgten, als »Eskapaden« bezeichnete oder sogar behauptete, von einem klinischen Gesichtspunkt aus gesehen könne man von Acting-out sprechen.
Das,