Aqua Mortis. Carsten Nagel
Tatort war abgesperrt, die unmittelbaren Befragungen durchgeführt, die Institution geschlossen, das Personal in der Küche versammelt, die Kollegen von der Kriminaltechnik unterwegs, aber wegen des Wetters verspätet. Bis auf Weiteres musste Møller sich mit dem jungen Martin Sørensen zufriedengeben, der gerade erst bei der Mordkommission angefangen hatte.
Møller arbeitete die Neuen für gewöhnlich gerne ein. Dieses Mal hatte er jedoch protestiert, da Martin einen langjährigen Assistenten abgelöst hatte. Der Chef der Mordkommission hatte aufgrund von Møllers Weigerung kurz davor gestanden, Tange zu der Sache in der Kinderkrippe zu schicken. Hans Tange, den Stinkstiefel, der rein karrieremäßig mehr damit zu tun hatte, Møller im Nacken zu sitzen als Verbrechen aufzuklären.
Møller hoffte, dass der junge Martin Sørensen nicht allzu smart und forsch sein würde. Auf den ersten Blick erinnerte er mehr an ein keckes Fotomodell als an einen Mordermittler. Aber man musste fair bleiben. Bisher schien Martin ein ausgezeichneter Aspirant zu sein.
Møller wollte schnellstmöglich versuchen, sich einen soliden Überblick zu verschaffen, damit er die unterschiedlichen Mitarbeiter auf die vernünftigste Art und Weise in ihren jeweiligen Bereichen einsetzen und von da an selbst übernehmen konnte.
Unabhängig vom Motiv hinter dem Verbrechen musste es sich um eine wirklich kranke oder gestörte Person handeln. Das war der logischste Ansatz. Es würde Møller sehr überraschen, wenn nicht die eine oder andere Form von Perversion dahinter stünde.
Auf der anderen Seite setzte die ganze Szene wahrscheinlich einen Täter mit einer gewissen gedanklichen Ordnung und Struktur voraus. Auf jeden Fall ausreichend, um detailliert planen und entsprechend handeln zu können.
»Neuigkeiten von den Technikern, Martin?«, fragte Møller im Büro der Leiterin.
Martin Sørensen auf dem Gang steckte seinen Kopf zur Tür hinein. »Ähm, ich rufe die gleich wieder an.« »Schaff auch den Rechtsmediziner her.« »Das habe ich schon versucht. Kein Streifenwagen kann ihn abholen, überall in der Stadt ist der Teufel los. Er kommt mit einem Taxi.«
Es wäre auch schön gewesen, Sanne Berg für eine erste psychologische Einschätzung dabei zu haben, aber sie war wieder irgendwo mit »SOS International« unterwegs; diesmal Laos und Thailand, wie Møller bei »SOS« erfahren hatte. Außerdem hatte sie sich jegliche Form von weiterem Kontakt mit ihm und der Kopenhagener Polizei verbeten, ihn auf eine für sie eigenartige Weise abgewiesen, als er sich das letzte Mal gemeldet hatte. Als wäre sein Angebot einer weiteren guten Beratungsaufgabe etwas Persönliches. Er brauchte ihren Beistand, und wollte ihr gleichzeitig zu einer guten Freelanceaufgabe verhelfen. Was war daran falsch? Nach allem, was sie zusammen fertiggebracht hatten. Møller begriff das nicht. Und gerade Sanne, die sonst so direkt und unumwunden sein konnte. Warum spuckte sie es nicht einfach aus, wenn er etwas Falsches gesagt oder getan hatte? Er hatte sie das letzte Mal, als sie miteinander geredet hatten, geradezu um eine Erklärung angefleht, aber es hatte nichts geholfen. Møller realisierte leicht irritiert, dass Sannes kategorische Abweisung ihn gleichermaßen bekümmerte, wie sie ihm unverständlich war.
»Tag, Møller«, erklang es fast synchron von den zwei Technikern, die endlich aufgetaucht waren.
Møller war erleichtert, es waren erfahrene Kollegen, die wussten, was sie zu tun hatten. Er wies sie kurz ein und sie gingen an ihre Arbeit.
Was wäre Sannes unmittelbare Reaktion gewesen? Wie hätte sie den Tatort interpretiert, die Szene mit dem Eimer, dem Kind und der Hebevorrichtung eingeordnet? Hatte der Täter eine Signatur hinterlassen und was war in dem Fall seine Visitenkarte? Abgesehen von ihren rationalen und analytischen Gaben verfügte Sanne über eine besondere Intuition, aus der schlau zu werden verteufelt schwer war. Gefühle versus Vernunft, hatte er nachsichtig gedacht, als sie zwei das erste Mal zusammengearbeitet hatten. Später hatte er für sich selbst erkannt, dass das, was sie ab und zu spürte, sie tatsächlich oft in die zutreffende Richtung führte. Doch jetzt war es mehrere Jahre her, seit sie zusammen an einem Mordfall gearbeitet hatten.
Eins war sicher: Er würde nicht mehr betteln. Da war die berufliche Ebene, aber er musste auch auf seinen persönlichen Stolz achten. Außerdem waren da Else und die Kinder. Seit dem letzten Schub ihrer Multiplen Sklerose war Else an den Rollstuhl gefesselt. Sie brauchte ihn mehr als je zuvor. Und die Mädchen! Beim bloßen Gedanken an die Mädchen schlug sein Herz schneller. Er sah sie ganz deutlich vor sich, wie sie auf dem Foto in seinem Portemonnaie posierten, ohne dass er es anzuschauen brauchte. Er hatte das Bild letzten Sommer bei ihrem jährlichen Gartenfest geschossen und zum genau richtigen Zeitpunkt auf den Auslöser gedrückt. Hand in Hand lächelten die Mädchen und Else vor dem weißen Schmetterlingsflieder, dessen dichte Sträucher mit ihren süß und würzig duftenden Blüten gerade aufgeblüht waren. Jeanette mit der frisch erworbenen Studentenmütze, ein wenig nach hinten geschoben über dem langen, blonden Haar. Das Nesthäkchen Eva, mit hellen Locken, unschuldig, und die Überraschung ihres Lebens. Møller und Else hatten beide geglaubt, dass Else aus diesem Alter raus war. Und jetzt war Eva gerade elf geworden. Auf dem Foto guckte sie fasziniert und erwartungsvoll zu ihrer großen Schwester auf, als würden ihre großen, hellblauen Augen sowohl »Herzlichen Glückwunsch« als auch »und eines Tages bekomme ich auch so eine Mütze« sagen.
Møller hielt es für sehr wahrscheinlich, dass es sich bei dem toten Mädchen um das Kind handelte, das am Vorabend verschwunden war. Es hatte unter der Abdeckung auf der Ladefläche des Lastenrads seiner Mutter geschlafen, sicher an seinen Sitz gegurtet, während die Mutter bei 7-Eleven einen Liter Joghurt kaufte.
Die ganze Nacht hatten die Kollegen nach dem Mädchen gesucht, ohne Ergebnis. Zugegeben, dachte Møller verärgert, es hatten nicht viele Beamte zur Verfügung gestanden, fast alle Kräfte waren eingesetzt worden, um während des internationalen Gipfeltreffens Ruhe in der Stadt zu gewährleisten. Und mindestens genauso schlimm: Die Notrufzentrale hatte zunächst irrtümlicherweise verstanden, dass es sich um eine Anzeige wegen eines gestohlenen Fahrrads handelte – was es auch war, denn das Fahrrad war weg, als die Mutter aus dem 7-Eleven kam – und sie den Angaben zufolge betrunken und hysterisch gewirkt hatte, als sie in den Hörer rief: »Mein Fahrrad ist weg, was habe ich getan, ich wollte doch nur ein bisschen Joghurt, mein Fahrrad wurde gestohlen, ihr müsst mir helfen, sofort«, während sie unzusammenhängend von ihrer Tochter und ihrem Exmann zu reden begann. Drei Mal hatte sie angerufen; die ersten beiden Male wurde sie angewiesen, ein Formular im Internet auszufüllen und sich eventuell persönlich am folgenden Werktag an die Station Amager zu wenden, bevor die Verbindung unterbrochen wurde. Erst beim dritten Versuch war es beiden Seiten gelungen, einander zu verstehen.
Nach einer letzten Runde in der Kinderbastion nahm Møller im Büro der verreisten Leiterin Platz, abgeschirmt vom schlimmsten Theater. Die Stellvertreterin hatte vier oder fünf Mal in Tränen aufgelöst wiederholt, dass die Leiterin der Einrichtung in London sei. Vermutlich war es Zufall, aber unter diesen Umständen wichtig zu notieren.
»Bring den jungen Mann wieder herein«, sagte Møller und fuhr sich, wie vor jeder wichtigen Befragung, mit der linken Hand durchs Haar.
»Yes, Sir«, antwortete Martin energisch und führte breit grinsend eine Art Salut aus, bevor er verschwand.
Møller folgte ihm mit den Augen, bis er weg war. Was war falsch, mit »Ja« oder »Jawohl« oder »Wird gemacht« zu antworten? Glaubte Martin, dass sie in einem englischen TV-Krimi mitspielten? Naja, vielleicht war er einfach ein bisschen ausgelassen. Møller würde es nur ansprechen, falls es sich wiederholen sollte, und unter allen Umständen bis später warten, um nicht auf irgendeine Weise ihre heutige Zusammenarbeit zu beeinträchtigen.
Die zwei jungen Männer erschienen in der Tür: Der eine stand vor einer ziemlich vielversprechenden Karriere bei der Polizei, der andere befand sich wahrscheinlich auf direktem Kurs in eines von Dänemarks Gefängnissen.
»Ja, ich würde gerne noch einige Worte mehr mit dir wechseln«, erklärte Møller Mads und wies mit einer Handbewegung auf einen Stuhl, sodass sie einander schräg gegenübersaßen. Besser das Ganze freundlich und ruhig angehen und sehen, wohin es führte, anstatt ihn gleich während der ersten Befragungen einzuschüchtern. Møller deutete Martin mit einem Nicken an, dass er sich rechts neben ihn setzen