Aqua Mortis. Carsten Nagel

Aqua Mortis - Carsten Nagel


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seiner Haut an diesem immer noch dunklen Morgen.

      Vielleicht spielte diese alte Fernsehserie da mit rein, »Oh, diese Mieter«. Seine Mutter hatte sie geliebt und alle Folgen auf Video gehabt. Sie hatten sie oft gemeinsam gesehen. Die Serie spielte genau dort, wo Mads jetzt arbeitete, sodass er an jedem einzelnen Tag an seine Mutter erinnert wurde, und an all das, was sie zusammen erlebt hatten. Aber jetzt musste er erstmal an seinen Vater denken. Sich darauf konzentrieren, ein Mann zu sein. Sich auf die Jagd freuen.

      Dieselbe Straße und doch zwei ganz unterschiedliche Welten – damals und heute. Zusammenhalt, Solidarität, Gemeinschaft, daran erinnerte er sich, und nicht nur aus dem Fernsehen. Heute, im Zeitalter von Gier und Egoismus, hieß es alle gegen alle. Oder empfand nur er so? Sollte er wieder anfangen, seine Medikamente zu nehmen? Was, wenn die Ärzte nun doch Recht gehabt hatten und er krank war? Vielleicht nur ein bisschen krank. Leider half die Medizin nicht halb so gut wie Bier, im Gegenteil. Sie lähmte ihn so sehr, dass er es einfach nicht mehr mit sich selbst aushielt, aber schließlich auch nicht einfach ausreißen und ein anderer sein konnte.

      Die Dunkelheit löste sich langsam auf, als Mads sich der Kinderkrippe näherte. Hier war ja die Hölle los! Unten am Ende der Straße, ein Stück hinter der Kinderbastion, die städtischen Reinigungsdienste waren offensichtlich schon auf dem Wall zugange. Einige der Langzeitarbeitslosen wurden wohl herausbeordert, was auch immer sie zu dem Zeitpunkt auch machten. Die Festangestellten waren selten so früh zu sehen.

      Der ganze Wall befand sich in Verwandlung, dort sollte getrimmt und gefällt und entfernt werden. Die Ortsansässigen hatten protestiert, sie wollten das Tierleben und die üppige Natur erhalten. Den Politikern war das egal, sie hatten beschlossen, die alte Festungsanlage neu aufzubauen. Vielleicht passt es auch ganz gut, dass wir wieder zu einer kriegsführenden Nation geworden sind, dachte Mads, und eine Sekunde später: Vielleicht kann ich Soldat werden und nach Afghanistan gehen!

      Er öffnete das Tor und betrat den krippeneigenen Spielplatz. Es war keine Seele zu sehen. Und keine leeren Flaschen oder Spritzen, überhaupt kein Durcheinander, der Sandkasten wirkte fast wie frisch geharkt. Er musste nun wirklich dringend, steckte eilig den Schlüssel ins Schloss. Was zur Hölle, die Tür war unverschlossen und glitt auf. Mads blieb stehen und hielt die Luft an. Im Raum, der trotz des grauenden Morgens immer noch in Dunkelheit gehüllt war, war nichts zu hören oder zu sehen.

      Er trat ein und blieb wieder stehen. Er musste den Raum durchqueren, um zum Lichtschalter zu gelangen. Doch die Konturen des wohlbekannten Raums und der Möbel traten nun hervor. Der nächste Kindertisch war mit Fichtenzweigen und einer Art Papierschnipseln übersät, und so niedrig, dass er seinen großen Körper beugen musste, um einen davon aufzuheben. Sein Rücken schmerzte wie nach harter körperlicher Arbeit, als er sich wieder aufrichtete und erkannte, was er in der Hand hielt: Es war ein Heinzelmännchen. Naja, bald war ja Weihnachten. Und, Moment mal: Irgendein Weihnachtsfanatiker unter den Erziehern hatte sich offenbar ebenfalls mit Pappmaché beschäftigt, denn vom Querbalken mitten an der Decke hing noch eine Art Elf, ein ganz schön großer Bursche sogar.

      Nun konnte er aber nicht länger warten, er musste sofort aufs Klo. Auf dem Weg dorthin verspürte er plötzlich den Drang, gegen die Pappmachéfiguren zu schlagen; warum hatte er nie daran gedacht, dort einen Punchingball aufzuhängen, damit er und die Jungen sich abwechselnd daran abreagieren konnten?

      Auf dem Gang zur Toilette schaltete Mads das Licht an und warf einen inspizierenden Blick zurück in den Raum.

      Augenblicklich verkrampfte er sich und spürte, wie sein Haar sich sträubte. Dann floss ihm der warme Urin in die Hose und die Schenkel hinab.

      Das Kind hing kopfüber am Querbalken an der Decke. Hände und Füße waren gefesselt; die Hände auf dem Rücken, die Füße in einer Schlinge aus demselben Seil, das rauf zum Balken und wieder hinab führte, wie bei einer Art Flaschenzug. Sein Herz hämmerte und das Blut schoss durch seine Adern, als Mads einen Schritt näher trat. Das Kind hing unter dem Balken, den Kopf in einem Eimer verborgen. Er war gefüllt mit schmutzigem Wischwasser, in dem das Kind ertränkt worden war. Das Wasser war übergeschwappt und über den Fußboden gelaufen. Neben dem Eimer lag eine nasse, hellrote Mütze.

      5

      Mads ergriff die Knöchel des Kindes. Er wollte es ein wenig hochheben. Der Schmerz stach wie ein Eispickel durch seinen Rücken, doch er ignorierte ihn. Es gelang ihm, das Kind ein wenig anzuheben, sodass das Aufwischwasser von seinem Kopf rann. Jetzt noch ein Stück, dann wurde das Wasser zu einem Rinnsal, das aus den Haaren zurück in den Eimer floss. Mads erschrak so sehr, dass sein Griff nachgab und das Kind ihm entglitt. Es war Klein-Ida. Ihr Gesicht war geschwollen und unheimlich verzerrt. Das Seil zuckte, das Wasser platschte und spritzte über den Fußboden. Sie hing dort. Unverändert.

      Mads stürzte zum Ausgang, blieb dort stehen und wandte sich wieder dem Raum zu. Was war geschehen? Was bedeutete das alles? Stell dir nur vor, wenn jemand glaubte, dass er … Stell dir nur vor, dass er … Er musste weg! Aber er konnte sie doch nicht einfach da hängen lassen! Nach einigen Sekunden lähmender Schockstarre wusste Mads, dass er Klein-Ida dort runterholen musste, bevor er sich aus dem Staub machte. Aber er musste gut aufpassen, Fingerabdrücke vermeiden.

      Mads fielen seine Schweinslederhandschuhe ein, und er ging rückwärts durch den Raum, hin zur Garderobe. Die Handschuhe lagen dort, wo er sie am Tag zuvor vergessen hatte. Er nahm sie und ging weiter in die Küche. Die Messer blitzten am Wandmag­net. Erst das stumpfe Brotmesser, als letztes in der Reihe das für Gefrorenes. Wieder stach es in seinem Rücken, als er über den Tisch nach dem Gefriermesser griff. FISKARS stainless steel stand auf der Klinge. Die Buchstaben auf der Messerklinge schienen ihn einige Sekunden zu blenden, als er zurück in den Gemeinschaftsraum lief.

      Das Seil war dick und stark. Mads bearbeitete es ein Stück oberhalb der Knöchel des Mädchens. Die Klinge des Messers fuhr an den dichtgeknoteten Strängen des Seils vor und zurück, die nur langsam nachgaben. Ich gebe auf und verschwinde von hier, dachte Mads, doch im selben Augenblick riss das Seil, und der Körper des Kindes gab der Schwerkraft nach.

      Jemand schnappte geräuschvoll nach Luft. Die Stimme der Stellvertreterin drang von der Tür her zu ihm: »Mads, was ...?« Sie traute ihren Augen nicht: Mads, der mit einem großen Messer herumfuchtelte, vor ihm auf dem Boden lag ein offensichtlich lebloser Kinderkörper, über dessen Kopf ein Eimer gestülpt war. Sie schrie.

      Mads fuhr herum: »Nein!«, schrie er, von Tränen erstickt.

      Die Stellvertreterin stürzte zur Tür, Mads lief ihr hinterher.

      »Du darfst nicht, es ist nicht so …« rief er. »Du darfst nicht!«

      Er erwischte ihren Haarschopf, ergriff ihn, eine Sekunde, bevor sie die Tür erreichte, die sie nur zu öffnen brauchte, um aus der Kinderbastion zu rennen. Raus und nichts wie weg von dem lebensgefährlichen Wahnsinnigen, auf den sie gerade gestoßen war, wo sie doch geglaubt hatte, einfach wie jeden Morgen den Duft von frischgebrühtem Kaffee zu riechen und in einen ganz normalen Arbeitstag zu starten. Sie kämpfte sich weiter vor, ergriff die Türklinke. Mads riss mit aller Kraft an ihrem Zopf und schrie wieder laut auf. »Neeein!« Sie stürzte und riss ihn mit zu Boden.

      Weit entfernt hörte Mads, wie eine Stimme sagte, dass die Polizei endlich angekommen sei. Danach spürte er, wie jemand ihn leicht an der Schulter rüttelte und ihm vorschlug, sich hinzusetzen.

      Über ihm standen zwei Männer, der eine im mittleren Alter mit braunem Haar, ruhigen Augen und einer kleinen Narbe am Kinn, der andere nur ein wenig älter als Mads selbst.

      Der Junge reichte Mads eine Hand und half ihm auf. Mit seiner hellen Mähne und den blauen Augen erinnerte er Mads an einen durchtrainierten Typen, mit dem er ab und zu im Fitnessstudio in Nørrebro Gewichte hob.

      Der Ältere sagte, er heiße Hugo Møller und sei von der Kopenhagener Polizei, Mordkommission.

      6

      Møller wunderte sich. Während seiner mittlerweile vielen Jahre als Mordermittler bei der Kopenhagener Polizei hatte er ja schon so einiges gesehen. Aber wer zum Teufel tötet auf diese Weise ein kleines Mädchen? Mit einer Art Flaschenzug, den Kopf in einem Eimer und mit gefesselten Händen


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