Aqua Mortis. Carsten Nagel
kein Problem sein, den Arm um Martins Hals zu legen. Mit dem richtigen Dreh könnte er ihm beim ersten Versuch das Genick brechen. Aber dann würde das Auto ins Schleudern kommen, die Ärzte würden vergeblich auf Møller warten, der einfach in irgendeiner Schneewehe liegen und sterben würde, und Mads selbst würde sich nur vor noch mehr Anklägern verteidigen müssen.
Außerdem war Martin schnell. Neige hatte er einfach so übersetzt, während Mads auf der Treppe der Kinderbastion wartete und der Schnee fiel. Er war ein wenig wie der hilfsbereite große Bruder, den er sich immer gewünscht hatte.
Einen Augenblick lang stellte Mads sich sie beide bei einer Schneeballschlacht vor. Sie tobten im Schnee vor Landlyst und froren überhaupt nicht, sie grinsten, seiften einander ein, erst war der eine oben, dann der andere.
Ein Knistern aus dem Funkgerät und Martins Antwort riefen Mads wieder in den Wagen zurück.
»Da kommt was Weißes aus Møllers Mund, es läuft sein Kinn hinunter«, schrie Martin das Gerät an.
Seine Stimme zitterte. Vielleicht ging das Ganze auch für ihn zu schnell. Wer weiß, vielleicht befand er auch er gerade in einem Film, dachte Mads.
Es würde wahrscheinlich vom Zufall abhängen, wer von ihnen seinen Kampf gewinnen würde. Aber in Handschellen? Nie im Leben! Dann lieber die Chance ergreifen und riskieren zu verlieren.
11
»Danke für letzte Nacht. Gilles«, stand auf dem Zettel, den Sanne auf ihrem Nachttisch vorfand. Das Laken lag zerknüllt neben ihr. Es war 10 Uhr. Sie brauchte Kaffee.
Während Sanne Wasser in den Kocher füllte und einen Filter in dem Trichter über der Thermoskanne platzierte – sie hielt nichts von Kaffeemaschinen, weder von den altmodischen noch von den hypertrendigen –, zappte sie zwischen CNN, BBC World, DR Update und TV2 News hin und her.
Auf den dänischen Kanälen lief überall etwas über den Mord und über Tange. Dann war Møller doch nicht an der Sache dran? Vielleicht war es Tange gelungen, Møller diesmal ins Abseits zu manövrieren. Diese beiden und ihr Kampf um Beförderung! Ursprünglich hatten sie, das jüngste Team der Mordkommission, gut zusammengearbeitet und eine sehr wirkungsvolle Rollenverteilung gehabt. Das »Good cop, bad cop«-Spiel hatte sie bei ihren Ermittlungen weit gebracht und höchsten Instanzen imponiert. Zu irgendeinem Zeitpunkt jedoch hatte der Konkurrenzdruck in der freundschaftlich-kollegialen Zusammenarbeit Oberhand gewonnen. Als Sanne hinzukam, waren die Gegensätze sowohl im Denken als auch bei den Verhörmethoden so frappierend, dass Sanne den Eindruck gehabt hatte, dass diese Rollenverteilung überhaupt keinen professionellen Hintergrund hatte, sondern eher in der Natur ihrer Charaktere lag. Sie konnte Tange nicht ausstehen und zweifelte weiterhin daran, dass seine Aggressionen sich auf das Oral-Sadistische begrenzten, was sich unter anderem daran bemerkbar machte, dass er seine Zähne in alles und jeden schlagen musste, nicht zuletzt in seine stinkende Pfeife und eben auch in andere Menschen, je schwächer, desto besser.
Nun, ihr konnte Møllers und Tanges interner Hahnenkampf ja egal sein, zumindest ließ Møller sie in Ruhe.
Sara, kleiner Schatz … Rein moralisch gesehen hätte sie Møller natürlich von Anfang an einweihen sollen, aber es war einfach zu spät gewesen, und im Übrigen … Sie hatten beide ihren Alltag, er mit seiner Familie und bei der Polizei in Dänemark, sie mit Samuel in den USA, bis er … Schluss jetzt, wie schwer es ihr immer noch fiel, ihren Hass zu kontrollieren.
Sanne goss sich Kaffee ein, er war wie ein guter Freund und fast eine Voraussetzung für den ordentlichen Beginn jedes neuen Tages.
Tange lächelte übertrieben zufrieden vom Flachbildschirm an der Wand. Das war just, bevor die Anmoderation und die Fragen des TV-Journalisten ihn zum Nationalheld ausriefen. Das ganze Land stand nach dem schrecklichen Kindermord in der Kinderkrippe in der Amagergade unter Schock.
Auf dem Anrufbeantworter war eine Absage von Sannes einziger Klientin. Sanne war frei. Wunderbar frei, wenn sie sich entspannen und es genießen konnte. Gefährlich frei, wenn Unruhe und Rastlosigkeit wieder die Macht über sie ergriffen und sie auf eine wilde Flucht in alle Richtungen schickten.
So schön es mit Gilles auch gewesen war, hatte sie weder heute noch morgen vor, ins Lagkagehuset zu gehen, so viel wusste sie.
Sie konnte mit dem Vortrag für die Sigmund-Freud-Gesellschaft anfangen, den GS ihr auf’s Auge gedrückt hatte. Falls sie sich also konzentrieren konnte. Und falls sie ihn überhaupt halten wollte. Warum eigentlich Zeit dafür verschwenden? Mit Eros verhielt es sich für sie ein bisschen wie mit der Philosophie: Er sollte nicht nur studiert, sondern in erster Linie gelebt werden. Und Thanatos … War es nötig, Vorträge über den Tod zu halten, wo er doch ganz von allein kam?
In G. S.’ Welt war das mit Eros und Thanatos natürlich komplizierter. Das war es auch in Sannes, wenn sie sich theoretisch darin vertiefte. Aber es war das Praktische, die wahrhaftige Begegnung mit dem einzelnen Menschen, die ihr das Gefühl vermittelte, Gutes zu tun. Sowohl im Therapiezimmer als auch draußen in der Welt, wo sie gebraucht wurde.
Früher war sie im ganzen Land umhergereist und hatte viel verdient. Die Vorträge brachten ihr Prestige und gutes Geld. Es gab keinen Vorstand oder Führungsstab, vor dem sie nicht schon einmal referiert hatte. Sie war seinerzeit am Höhepunkt ihrer Karriere angelangt, mit fetten Honoraren.
Mit ihren drei größten Erfolgen hatte Sanne das Geld geradezu geschaufelt. Abhängig von der Art des Arrangements und der Teilnehmerzahl lag sie zwischen 30 000 und 40 000 Kronen pro Vortrag. »Kommunikation mit schwierigen Personen« war ein klarer Gewinner, dicht gefolgt von »Dynamische Führung, weck deine Mitarbeiter«, und schließlich »Positive Totalkommunikation von A – Z«.
Bei der Sigmund-Freud-Gesellschaft würde ihr »Eros und Thanatos mit einem persönlichen Twist« höchstens sechs Flaschen Wein von zweifelhafter Qualität einbringen. Sanne hatte aus zwei Gründen mit den Vorträgen aufgehört. Zum einen stand damals der Umzug in die USA bevor.
Zum anderen brachte ihr die Arbeit nichts mehr ein als die Befriedigung einer gewissen Gier, die narzisstische und vollkommen selbstbetrügerische Bestätigung in einer aufs Geld fixierten Kultur: Sieh mich an, so groß bin ich, so viel bin ich wert!
Als ob einige Menschen mehr wert wären als andere, hatte sie da gedacht und darüber sinniert, dass die ›schwierigen Personen‹ – im Gegensatz zur Verteilung des Geldes – einigermaßen gleichmäßig auf die Mitarbeiter und Vorgesetzte, denen sie begegnete, verteilt waren.
Seitdem Sanne aus den USA zurückgekehrt war, hatte sie nicht einen einzigen Vortrag gehalten. Arbeitsmäßig hatte sie sich auf die SOS-Reisen sowie die Betreuung von Mitarbeitern in einer Reihe internationaler Nothilfeorganisationen beschränkt. Dazu einige private Klienten. Staatliche Aufträge nahm sie nicht entgegen, zum einen, weil sie es nicht nötig hatte, aber auch ganz einfach deswegen, weil sie mit allzu viel Verwaltungsaufwand verbunden waren. Alles in allem machte ihr ihre Arbeit Spaß.
Nichtsdestoweniger brachte dieses nomadische Arbeitsleben jene irritierende innere Unruhe mit sich. »Unruhe ist ein Teil des Daseins« sagte sie ihren von eben diesem Zustand geplagten Klienten oft. »Du kannst gerne unruhig sein, das ist ein Zeichen dafür, dass du lebst, Ruhe kommt von selbst, Ruhe findest du im Grab. Jetzt im Moment bist du quicklebendig.«
Sanne wünschte sich jetzt selbst allerdings ein ruhiges Leben, in dem sie nicht nur in die Ferne, sondern auch in sich selbst hinein flüchten konnte. Sie ließ gute Bekannte und zu enge Freundschaften fallen und wollte einfach in Frieden gelassen werden. Bevorzugt auf der Terrasse im Sommer und mit einer Flasche besseren Blubberwassers in Reichweite, der Sapphire aus Bombay konnte gut und gerne Gesellschaft bekommen, wenn nur die Qualität stimmte.
Natürlich konnte jeder Idiot sehen, dass Isolation auf diesem Niveau ein symbolischer Vorgeschmack auf den Tod war. Genauso wie sie mit Gilles einen Vorgeschmack auf einen Augenblick der Nicht-Existenz bekommen hatte. Es war nicht ganz abwegig, wenn die Franzosen den Orgasmus als la petite mort bezeichneten. Genau das war es nämlich letzte Nacht gewesen. Der Körper brannte, das Gehirn wurde zu einer explodierenden Sonne, die sie hinaus in ein wunderbares, befreiendes Nichts katapultierte. Woraufhin dieselbe Sonne