17. Mike Müller-Reschreiter
vor den Kindern“, kontert Mutter wieder. Das ging noch eine Weile so hin und her, ohne ein konkretes Ergebnis.
„Ich habe es doch erst heute Nachmittag erfahren, verflucht! Was willst du denn?“, erklärt sich mein Alter nochmals.
„Was ich will, Karl? Ich will, dass du ehrlich zu mir bist und nicht irgendeine Ausrede erfindest, um dich mir und den Kindern zu entziehen!“, schreit Mutter nun.
„Ich entziehe mich niemandem, ich habe einen größeren Auftrag erhalten, der nun mal einige Zeit in Anspruch nehmen wird! Und es ist keine andere Frau im Spiel!“, brüllt Vater, den letzten Satz besonders betonend.
„Ach, wenn ich das nur glauben könnte, nach deiner Affäre“, wirft Mutter wiederum anklagend meinem Vater ihren Frust vor die Füße.
Was zum Geier ist da los? Hörte ich eben richtig? Eine andere Frau? Eine Affäre? Wie?
Bei all dem Streitwerk sausen mir bald die Ohren. Als ich das Wort Affäre vernahm, wusste ich anfangs nicht genau, was Mutter damit gemeint hatte. Doch im Laufe des folgenden Streitgespräches bestätigt sich meine Vermutung, dass Vater neben meiner Mutter wohl noch eine andere Frau begehrt. Das ist schlimm! Einerseits, es aus dem verzweifelten Mund meiner Mutter zu hören, andererseits, dass es die unwiderrufliche Gewissheit zu Tage bringt, Vater und Mutter haben sich nicht mehr lieb.
Stocksteif erstarrt, hocke ich am Geländer und versuche weiter zu lauschen, obgleich sich um mich herum alles wie wild dreht.
Meine Beine fangen an zu zittern, schlafen ein, und ich wäre beinahe die Treppe hinunter gesegelt. Das würde eine saftige Abreibung geben. Ich versuche aufzustehen, ohne dabei einen Mucks von mir zu geben. Das gestaltet sich als äußerst schwierig, denn die Gelenke sind wie eingerostet.
Mutter und Vater führen ihre Auseinandersetzung unbeirrt fort, als wären sie allein im Haus. Als ob es uns Kinder nicht gäbe. Das empfinde ich als sehr egoistisch, besonders meiner Schwester gegenüber, die darunter sehr leidet. Gott sei Dank schläft sie noch immer, stelle ich beruhigt fest, da aus unserem Zimmer kein Laut zu hören ist.
„Ich wollte vor den Kindern nicht weiter über meinen neuen Auftrag reden, versteh das doch bitte“, setzt Vater nochmal an, auf Verständnis hoffend.
„Was soll denn das überhaupt für ein ominöser Auftrag sein, dass du so ein Geheimnis daraus machst, Karl?“, schnappt Mutter wieder zu.
„Ein unangenehmer“, erwidert Vater, nun resignierend und knapp.
Auf einmal herrscht Stille. Jetzt muss ich auf der Hut sein.
„Ich werde im Gefangenenlager Dachau persönlich die Dachdeckarbeiten leiten! So, jetzt weißt du es“, erklärt sich mein Vater, der sich inzwischen wohl einen Kurzen hinter die Binde gekippt hat, weiter.
„Dachau?“ Mutter wiederholt diesen Namen, als würde es sich dabei um eine unheilbare Krankheit handeln. „Aber warum kommen die gerade auf dich, Karl?“ Vater beantwortet diese Frage nicht.
Langsam, aber sicher wird mir das Hocken zu anstrengend. Die Müdigkeit hat mich längst übermannt, doch ich will um jeden Preis weiter lauschen. Ich hätte besser ins Bett gehen sollen, denke ich noch, als ich den Halt verliere, über drei Stufen nach unten falle, wo ich mich dann aber in letzter Instanz abfangen kann.
Blitzartig trete ich den Rückzug ins Zimmer an. Nur weg! Nehme dabei keine Rücksicht auf die knarrenden Dielen, schließe geschwind die Tür hinter mir und werfe mich ins Bett. Schwer atmend liege ich unter der Decke. Mein Herz würde wohl stehen bleiben, so sehr geht mir die Muffe vor dem, was gleich folgen würde.
Dann höre ich sie, die flinken Sätze meines Vaters über die desolate Stiege. Gleich stürmt er ins Zimmer, packt mich, wirft mich zu Boden und lässt seinen Gürtelriemen über meinen Rücken schnalzen. Aber die schnellen Tritte stoppen plötzlich, weil meine Mutter zu ihm heraufschreit. Ich vernehme Vaters Worte ganz deutlich. Sie dringen durch die Tür wie Stahlspeere, scharf bohrend, mir mitten ins Mark.
„Na schön! Doch morgen nehme ich ihn mir vor, der kann was erleben“, sagt mein Vater betont bedrohlich, da er weiß, dass ich ihn hören kann.
In dieser Nacht tue ich kein Auge mehr zu, verbringe die Zeit damit, mir auszudenken, wie ich am besten türmen kann, während meine Schwester den Schlaf der Gerechten schläft. Ich bin noch nie dem Neid so verfallen wie in dieser Nacht.
Am nächsten Morgen will ich retten, was noch zu retten ist. Fast sterbend schleiche ich mich die Treppe hinunter. Keine Wahl! Bevor ich die Tür zur Küche öffne, hole ich noch einmal tief Luft. Stirb mutig! Dann setze ich die leidendste Mine auf, die mir möglich ist. Man erwartet mich aber schon.
Der Dachdeckergürtel tanzt seine schmerzlichste Kür. Die darauffolgenden Tage kann ich mich kaum rühren. Vaters Strafe auf mein unerlaubtes Handeln ist härter ausgefallen, als ich es geglaubt hätte.
Doch jeder Hieb mehr wäre mir lieber gewesen, als ich erfahre, dass Vater vorhat, mich in den Sommerferien bei sich arbeiten zu lassen, quasi zur Züchtigung meiner entglittenen Vernunft. So kann ich also alle Pläne getrost über den Haufen werfen. Ferien ade!
So komme ich ungewollterweise nach Dachau, nicht in den Ort, sondern in den Schrecken, den dieser beherbergt. Dort soll meine bis dahin verfestigte Ideologie nicht in Frage, sondern gänzlich auf den Kopf gestellt werden.
Schon als sich mir die ersten Türme zeigen, in denen uniformierte Wachen hinter Maschinengewehren lümmeln, weiß ich, dass es kein guter Ort sein kann. Die riesigen Lampen, die dicht gereiht aneinander baumeln, sind alle eingeschaltet, obwohl es noch taghell ist.
Vater bemerkt, dass ich immer mehr hinter ihm zurückfalle, und ermahnt mich barschen Tones, doch einen Schritt zuzulegen. Ich möchte dort nicht hin, bei Gott, ich schwöre, dass ich mir fast in die Hose mache.
Er geht schnurstracks auf das Häuschen zu, welches man neben das riesige Gitterportal gezimmert hat. Links und rechts davon sind Sandsäcke zu Nestern gestapelt, in die sich Wachsoldaten gezwängt haben und Zigaretten rauchen. Ein weiterer Soldat läuft vor dem Tor auf und ab. Ein baumlanger Lax mit Segelohren! Er kommt mir ziemlich gelangweilt vor, so, wie er da umherlatscht.
Doch je näher wir dem Eingang kommen, umso mehr versteinern sich die Gesichter der Wachen zu bedrohlich glotzenden Fratzen. Da ich aber in voller Jungvolksmontur gekleidet bin und sich mein Vater rechtzeitig ausweisen kann, verfliegt der bedrohlich einschüchternde Ausdruck in ihren Augen. Ich bin so perplex durch diese für mich unheimliche Situation, dass ich andauernd den rechten Arm zum Hitlergruß emporstrecke und fortwährend „Sieg Heil“ rufe. Vater wirft mir einen verächtlichen Blick zu. Kurz, aber bestimmend. Die Wachen lachen über mich. Meinen Vater hingegen betrachtet man eher skeptisch.
In dem provisorisch errichteten Häuschen liegen jede Menge Ordner und zig lose Zettel auf einfachen Tischen. Eine Schreibmaschine neben einer Kaffeekanne, die mit bunten Blumen bemalt ist. Das kleine Fenster steht sperrangelweit offen, dadurch habe ich gute Sicht ins Innere. Einladend?
Wir treten auf der Stelle und warten, bis endlich jemand erscheinen würde, der meinem Vater weitere Anweisungen geben soll. Ich besehe die lange Straße, auf der wir hergekommen sind, und bemerke ihre ungewöhnliche Breite, da könnten bestimmt fünf Busse nebeneinander herfahren. Düster und einsam zieht sie sich zum Horizont hin, bis die Sicht zu verschwimmen beginnt. Hier aber vor dem großen Eingangsportal ist ihr Anfang. Oder doch ihr Ende? ‘Endstation’, denke ich mir.
Ich habe mich auf meinen Koffer gesetzt und sehe mich weiter um. Beim Betrachten des aus Eisen geschmiedeten Eingangsportals fällt mir der Satz auf, welcher mittig im Tor verschweißt ist. Arbeit macht frei steht da, etwas verzerrt in der Form, aber gut lesbar.
Was für eine Aussage. ‘Kommen die etwa eher frei, wenn sie gut arbeiten?’. Ich verstehe den Satz nicht ganz, schon gar nicht, in welchem Zusammenhang er stehen soll. Es ist ein Straflager, das weiß ich, weil es mir Vater sagte. Ein Gefängnis für Verbrecher. Auch das hatte mir Vater erklärt. Doch aufgrund der Größe dieses Gefängnisses oder Lagers beginne ich innerlich zu frösteln, bei dem Gedanken, wie