Nach vorne!. Stefan Reusch

Nach vorne! - Stefan Reusch


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zur Mensa, in den Fachschaftsraum und zum Asta-Büro. Junge Mädchen auf der Suche nach kaum weniger jungen Dozenten, die Zettel mit kryptischen Formeln wie GB 5/ U3/ 144 in den Händen halten. Wer sein Campus-Bild entromantisieren wollte, musste nur nach Bochum kommen.

      Seit gestern bin ich Schwede. Um genauer zu sein, bin ich es bereits seit dem späten Abend des 10. Juli, doch gestern habe ich es zum ersten Mal laut ausgesprochen.

      In diesen Tagen hinterließ die bloße Erwähnung, man studiere in Bochum, ein großes Fragezeichen auf der Stirn des Empfängers. Die Reaktion umfasste in der Regel zwei Worte und mitleidiges Grinsen. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit der Begriffspaare „Mount Everest – höchster Berg der Welt“ oder „Pelé – bester Fußballer aller Zeiten“ stand der Superlativ „Uni Bochum – höchste Selbstmordrate“ wie in farblosen Waschbeton gemeißelt. Ästhetik und Ambiente – hin oder her. Aber aus trister Umgebung auf das eigene triste Leben zu schließen – das war nicht meine Sache. Und überhaupt: Selbst, wer einen solch tragischen Schluss zieht, der müsste sich doch eigentlich für den Moment seines inszenierten Todes einen netteren Ort suchen. Nein. Selbstmord durch Sturz von GB 4 Strich 13. Das hatte definitiv keine Spur von Glamour. Sterben in Bochum kam also nicht in Frage – leben aber irgendwie auch nicht.

      Fast täglich pendelte ich 70 Kilometer entlang der A 40. Zu Hause hatte ich ein funktionierendes Kleinstadt-Umfeld. Ein zentrales Café, eine gute Verkehrsanbindung zum Bökelberg und drei Ex-Freundinnen. Zwar hatte ich mir ein paar WG-Zimmer in Bochum angesehen, zu einem Umzug konnte ich mich aber nie wirklich durchringen. Wurde es in Bochum später, und das wurde es des Öfteren, dann konnte ich in der Regel bei Gianfranco oder Björn übernachten. Am liebsten hätte ich natürlich bei Saskia übernachtet. Aber das stand auf einem anderen Blatt.

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      Anderes Blatt.

      Das Wichtigste ist, dass man weiß, wann es Zeit ist, aufzuhören.

      Es war keine Eleganz in seinen Bewegungen, er verfügte über kein atemberaubendes Spielverständnis, seine Pässe atmeten nicht, und wenn doch, dann keinen Geist von irgendwas. Wenn er mal welche schlug, dann waren sie schlicht und kurzatmig. Er wurde wegen einer einfachen, aber konsequent vorgetragenen Tugend verehrt: Wann immer ihn ein Stürmer schwindelig zu spielen drohte, immer dann, wenn seine Arme und Beine durch den eigenen Strafraum flatterten, wie heutzutage ein Querschläger Jeff Strassers, dann konnte man sich einer Tatsache sicher sein: Vogts’ Zähne blieben fest verankert im Schienbein des Gegners. Vielleicht würde man ihn noch heute als Terrier verehren, hätte er den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören nicht verpasst.

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      Als ich den Seminarraum im UG des GB 5 betrete, sitzt Saskia schon da. Außer ihrem sind erst vier weitere Stühle besetzt. „Selbstreferentialität im jungen amerikanischen Kino“ ist entweder nicht das Topthema oder hier entlarven sich einige Erstsemester durch Unkenntnis des akademischen Viertels. Zwei Gothic-Frauen haben sich im leeren Raum die letzte Sitzreihe gesichert und drehen Kippen für später. Ein koreanischer Student mit opulenter Frisur sitzt breitbeinig Mitte/Mitte und vorn, in Saskias Nähe, beschäftigt sich ein hagerer Typ mit einem Truffaut-Buch, das er umständlich in seiner zu kleinen Aktentasche verstauen will. Er trägt eine graue Jeans und ein verwaschen-schwarzes Jackett aus irgendeiner Polyestermischung. Inszenierte Pseudo-Coolness, denke ich. Er sieht aus, als sei er beim Versuch, in eine Art Leander-Haußmann-Hülle hineinzuwachsen, ungefähr auf dem Stand von Fabian Harloff stehen geblieben. Ausgerechnet er aber durchbricht die peinliche Stille und spricht mich an. An dieser Stelle wünsche ich mir, zu den Leuten zu gehören, die bunte Band-T-Shirts tragen, denn das hätte Harloff die Chance gegeben, so etwas wie „Oh, Pavement“ oder wenigstens „Tocotronic? – interessant“ zu sagen. Stattdessen trage ich einen schwarzen Rolli, Harloff dreht sich zu mir, grinst und fragt: „Na, auch Dekonstruktivist?“ Hier rächt es sich also, dass Kleinstadt-Gymnasien nun mal keine Dekonstruktivismus-LKs anbieten. Klar, ich hatte den Namen Derrida schon mal gehört, aber ob ich einer war oder nicht, das konnte ich beim besten Willen nicht beantworten. Also stammelte ich halblaut: „Ich, ich bin Schwede!“

      Harloff sieht mich verwundert an, und nach etwa drei Sekunden lacht der Koreaner laut und verächtlich auf. Ein viel zu exaltiertes, kaltes, fast krankes Lachen. Bis heute bin ich mir nicht im Klaren darüber, ob er mich oder Harloff auslacht. Ich klammere mich an die vage Chance, unbewusst einen mehrfach gebrochen Gag auf Harloffs Kosten gemacht zu haben, aber sicher bin ich mir nicht. Verschämt blicke ich zu Saskia, erkenne aber nicht mehr als ein verhaltenes Lächeln hinter ihrem diagonalen Pony, der sie noch jünger aussehen lässt, als sie sein muss. Die Gothic-Girls drehen weitere Zigaretten…

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      Dallas, Cotton Bowl, 27. Juni 1994

      Es ist scheißheiß. Eigentlich war das Ding schon gelaufen nach drei Toren in der ersten Halbzeit. Doch dann kommen die Koreaner noch einmal zurück und verkürzen auf 2:3. Der Terrier muss absichern und bringt Helmer für Effenberg. Der verlässt den Platz. Im Publikum sitzen deutsche Fans. Oder deutsche Touristen, Deutsche jedenfalls, soviel ist sicher. Sie haben Geld bezahlt und pöbeln Effenberg an. Der lässt sich nur ungern anpöbeln, pöbelt aber nicht zurück. Effenberg hat eine Message und die lautet ungefähr: Ihr glaubt also, ihr könntet lustig aus Südhessen nach Texas fliegen, einen klimatisierten Spießer-Jeep mieten, euch mit durchgeschwitzten karierten Hemden auf die Tribüne setzen, die Welle machen und euch wie Superchefs fühlen? Das könnt ihr vergessen, verpisst euch, Freunde der Sonne!

      Das Geniale an diesem Moment war, dass Effenberg keine Worte gebrauchte, sondern nicht mehr als eine kleine, dezente Geste, um all diese Gefühle präzise auf den Punkt zu bringen.

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      Das Wichtigste ist, dass man weiß, wann es Zeit ist, aufzuhören:

      „Und du bist echt Schwede?“, fragt Saskia.

      „Nein, das war nur ein blöder Spruch, weil der Typ mich mit Dekonstruktivismus genervt hat“, denke ich und sage: „Ja, Kiruna, ganz im Norden, aber ich lebe in Deutschland, seit ich 15 bin.“

      „Und wie war es da so?“, fragt sie.

      „Schön“, sage ich, „und … manchmal kalt.“

      Natürlich war das ein Fehler, aber man weiß ja nie. Vielleicht war Saskia irgendwie sverigophil, wenn es so etwas gibt. Vielleicht wäre das zart aufkeimende Interesse an mir sofort erloschen, hätte ich ihr die Wahrheit gesagt. Und das konnte ich natürlich nicht riskieren.

      Wir saßen nun öfter gemeinsam in der Cafete. Manchmal waren wir, wie zufällig, beide schon ein halbes Stündchen früher da als notwendig. Wir sprachen über Schweden, über Filme und über zu große Mengen hässlicher Teppiche in Multiplexkinos. Sie lachte viel und manchmal sah sie mich einfach ein paar Sekunden lang an.

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      Der Terrier unterstrich seine hölzernen Sätze, indem er sie selbst kommentierte. Meistens positiv. An jeden Satz hängte er ein „Ja“ an. Es war, als liefe eine Reflexionsmaschine noch einmal über alles, was er von sich gab, und bestätige die Richtigkeit des Gesagten. „Ich habe das mit Egidius Braun besprochen, ja. Wir sind da einer Meinung. Stefan Effenberg fliegt nach Hause, ja.“

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      Als Saskia und ich den Seminarraum betreten, performt der Koreaner bereits auf Hochtouren. Wie Gianfranco uns nachher berichtet, hatte er im Rahmen einer Diskussion über Gender im Mainstreamkino beherzt das Wort ergriffen. Nun präsentiert er dem verdutzten Auditorium eine erstaunliche Theorie über die systematische Desexualisierung asiatischer Männer in westlichen Medien. Seinen Argumenten kann man dabei kaum widersprechen. „Nennt mir drei Filme, in denen Asiaten mit Amerikanerinnen, Europäerinnen


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