Nach vorne!. Stefan Reusch
wie damals. Sein etwas zu großer Kopf lief dabei rot an und mehrmals schrie er: „Ihr seid noch immer alle Nazis.“ Sein Auftritt brachte ihm den politisch und geographisch nicht ganz korrekten Spitznamen „Mystery Train“ ein. Immerhin ein halbguter Cineasten-Gag.
Natürlich hatte Vogts nicht nur den Tiger, sondern das ganze Team, vielleicht sogar das ganze Land kastriert. Und das gleich auf viele Jahre hin. Es musste nicht mal ein Romario oder Baggio herhalten, um die deutsche Mannschaft nur wenige Maschinen nach Effenberg in die Heimat zu schicken. Yordan Letchkov reichte da völlig aus. Ausgerechnet ein Mann mit der Ausstrahlung des traurigen Clowns aus einem osteuropäischen Wanderzirkus.
„Komm, ich zeige dir meine Stadt“, sagte ich zu Saskia. Das Ganze klang ein bisschen seltsam vor dem Hintergrund, dass ich nicht mal hier wohnte und erst seit knapp zwei Wochen ein paar Stunden des Tages in Bochum verbrachte. Aber es störte sie nicht.
Ganze freie Nachmittage verbrachte ich nun mit Saskia. Wir liefen lange nebeneinander durch Bochum und ließen die Kortumstraße unsere Champs-Elysées sein. Irgendwann nahm sie fast beiläufig meine Hand und bat mich, etwas Nettes auf Schwedisch zu sagen. Ich druckste ein bisschen herum und behauptete, dass ich mir am Tage des Attentats auf Olof Palme geschworen hatte, nie wieder ein Wort in meiner Muttersprache zu sagen. Stattdessen zeigte ich ihr viele Stellen in der Stadt, an denen die schwedischen Einwanderer in den Zwanzigern ihre Spuren hinterlassen hatten. Die skandinavischen Erker an vielen Gründerzeit-Häusern, das Zacher, das früher mal Café Malmö hieß, und ich erzählte von Göran Kortum, dessen Familie für Schweden das sei, was die Fugger für Deutschland sind. Schließlich krönte ich meinen Monolog mit der Behauptung, selbst die Bochumer U-Bahn sei nach dem schwedischen Entdecker Per Sören Bogestra benannt. Dieser letzte Satz brach mir das Genick.
Das Wichtigste ist, dass man weiß, wann es Zeit ist, aufzuhören. Saskia stieg in einen Wagen der Bochum-Gelsenkirchener-Straßenbahngesellschaft und fuhr wortlos davon.
10. Juli 1994, 23.00 Uhr MEZ.
Noch immer mehr als 30 Grad Celsius. Die Waden in einem Eimer kalten Wassers gekühlt, verfolge ich das Viertelfinale zwischen Schweden und Rumänien, nicht ahnend, dass sich mein Leben in wenigen Minuten ernsthaft ändern wird. Es wird einer der wenigen Momente sein, in dem sich hinter der Fassade Fußball für den Bruchteil einer Sekunde etwas verdichtet. Etwas, das eine Art fundamentale Welterkenntnis ermöglicht. Nach einem Foul an der rumänischen Strafraumgrenze tritt Kenneth Andersson an, einen Freistoß aus circa 18 Metern zu schießen. Als sei im letzten Moment vor der Ballberührung die geplante Flugkurvenoption (lange Ecke, oben) unmöglich geworden, schiebt Andersson den Ball mit scheinbarer Nebensächlichkeit derart platziert sechs bis acht Meter in den freien Raum, dass es für den heraneilenden Tomas Brolin ein Leichtes ist, den konsternierten rumänischen Keeper Florin Prunea zu überwinden. Die Großartigkeit dieser Szene dürften einige Fußballästheten durchaus erkannt haben. An Millionen Fernsehzuschauern ist das Besondere allerdings spurlos vorbeigezogen.
Seit mehreren Tagen warte ich ab 12.30 Uhr in der Cafete auf Saskia, aber sie taucht nicht auf. Björn holt sich einen Kaffee, Gianfranco sitzt neben mir. Wir sprechen über Borussias goldenen Oktober, der noch nicht ganz vorbei ist. Seit 1977 haben wir auf vier Siege in Serie warten müssen. Stefan Effenberg und drei Schweden sind die Leistungsträger. Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie sich „Mystery Train“ eine Cola holt. Statt sie an der Kasse zu bezahlen, hält er sie der Kassiererin unter die Nase und lässt sie dann ganz langsam und provozierend fallen. Dann wird es laut. „Mystery Train“ schreit die Kassiererin an: „Das könnte dir jetzt so passen, dass der kleine Schlitzaugenmann hier putzt. Was?“ Ich versuche Gianfranco zurückzuhalten, doch dazu ist es zu spät. „Drehst du jetzt total ab, Train? Was soll die Scheiße?“ „Mystery Train“ dreht sich um und kommt langsam auf Gianfranco zu. Seine Augen leuchten. Mit fester Stimme sagt er: „Ich freue mich auf den Tag, an dem meine Brüder deinem pathetischen Volk die Grenzen aufzeigen werden.“
Wenn während einer Fußballübertragung die Klingel läutet, solltest du die Türe öffnen, denn es könnte ein Mädchen sein.
Ich zähle bis drei und öffne, sie steht vor mir und lächelt. Neben ihr eine große Sporttasche. Sie hält mir einen schwedischen Reisepass unter die Nase. Ihren Reisepass. „Komm, ich zeige dir mein Land“, flüstert sie.
Na klaro haben wir auch mal Tipp-Kick gespielt. Um genau zu sein: zweimal. Einmal und nie wieder. Viel superer fanden mein bester Freund Oke und ich es Anfang der achtziger Jahre nämlich, mit so kleinen Schlümpfen gegeneinander Fußball zu spielen – Schlumpffußball eben. Der Platz war der Wohnzimmerteppich, das Stadion wurde gebaut aus ???-Kassettenhüllen, die Tore von Papa selber gezimmert – aus so’n büschen Holz und dem (wie wir glaubten) ausrangierten Murmelnetz meiner Schwester Uta. Und neben dem Platz standen die Fans. Das war der ganze Rest an Gummi- und Plastikgetier, den die große Spielkiste im Keller ausspuckte: Tip und Tap, Grobi und Lulatsch, Barbapapa und Barbamama, der rosarote Panther und die blaue Elise, reichlich Playmobil-Männeken und so weiter und so fort: „Ausverkauftes Haus hier heute im Hamburger Volksparkstadion!“ Abgerundet wurde das ganze Szenario von ganz und gar nicht jugendfreien Fanplakaten der härtesten Sorte, erstellt aus kleinen Notizzettelchen, einmal in der Mitte geknickt: „Bayern weg, hat kein Zweck!“ oder „Fan Club Dragons“ oder so.
Die meist zehnminütigen Spiele gingen bei uns niemals 7:5 oder 6:6 aus. Viel zu unrealistisch! Ein grundanständiges 2:1 war uns dagegen genau nach der Mütze! Und immer, wenn ein Tor fiel, wurden von uns (zumindest von dem, dessen Schlümpfe gerade „genetzt“ hatten) eigenhändig alle „Fans“ auf den Kassettenhüllen durcheinandergewirbelt („Da rasten die Fans aus!“) und dazu mit der eigenen Stimme ein Jubelorkan simuliert, der eher einem schlimmen Erbrechen glich denn der Hamburger Westkurve im Spiel gegen Bayer 05 Uerdingen: „CHHHHHHH!“, dröhnte es durchs Wohnzimmer, bis Mama die Tür aufriss und mit „PSSSSSSSSST!“ für „Ruhe im Karton“ sorgte und wir den Orkan leise mit „chhhhhhhh“ ausklingen ließen. Die erneute Aufstellung der Fans nahm nach jedem Tor zwar bummelig fünf Minuten in Anspruch, aber egal: Den Spaß war es uns wert! Zumindest einem von uns…
Auf dem Platz, vielmehr dem Teppich, kämpften, grätschten, spielten und drängelten sich nicht weniger als 22 Schlümpfe. Im Gegensatz zur Tipp-Kick’schen Reduktion der Mannschaften auf einen Feldspieler und einen Torwart war beim Schlumpffußball immer Hochbetrieb, genauso wie „in echt“. Hier gab es „Mittelfeldgeplänkel“ en masse, immer wieder „Flügelläufe“, ein ständiges und „heilloses Durcheinander im Strafraum“, an dessen Ende der Ball hängen blieb „in der vielbeinigen Abwehrmauer“. Und wir lachten selbstgefällig und laut in unsere Bäuche rein und fragten uns: „Warum spielt nicht die ganze Welt Schlumpffußball, so geil, wie das ist?!“
Die wichtigste, weil einzige Spielregel ging so: Der Schlumpf, der am nächsten zum Ball stand, war dran. Damit das Spiel reibungslos verlaufen konnte, brauchten Oke und ich also, neben jeweils elf Schlümpfen, nur zwei Dinge: ein Lineal (wegen der einzigen Spielregel, s. o.!) und einen Ball – klaro! Gespielt wurde übrigens nicht mit einem dieser eckigen Tipp-Kick-Dinger, sondern mit einem vernünftigen, ernstzunehmenden Ball, den wir dem HSV-Schlumpf kurzerhand vom Fuß geschnitten hatten. In unserem Spiel sollte der zentimetergenaue Pass in die Tiefe schließlich eine Sache des eigenen Geschicks sein und nicht ein Produkt des „Schwarz-oder-Weiß“-Zufalls! Tipp-Kick war für uns nur Roulette! Reines Glücksspiel! Pah! Wir spielten lieber Schlumpffußball: „Schöner Pass, genau in den Fuß!“
Bevor