Nach vorne!. Stefan Reusch

Nach vorne! - Stefan Reusch


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und Marotten. Einige hatten richtiggehende „Starallüren“, wie Oke wusste. Er hatte das Wort ein paar Tage vorher im Fernsehen „mal gehört“. Aber auch solche „Paradiesvögel“ (wieder Oke!) hatten wir im Griff. Wir ließen uns nicht beirren und teilten mit viel Bedacht jedem Schlumpf, egal ob „Star“ oder nicht, eine feste Position auf dem Spielfeld bzw. dem Teppich zu. Und das ging so: Die besonders dicken Schlümpfe, die im günstigsten Fall sogar etwas in den Händen hielten, kamen natürlich ins Tor. Prädestiniert dafür: Der Schlumpf mit dem Nudelholz! „Der ist gut, Axel! Der fischt mit der Keule auch gerne mal einen Schuss aus dem Winkel!“ In der Mitte der Verteidigung war dann, ganz wichtig für uns HSV-Maniacs, ein „Jakobs-Typ“ gefragt. Oke erstellte ein klares Anforderungsprofil an seine „Nummer 4“: „Ich brauch da hinten einen, der so richtig aufräumt! Der auch mal einen Ball kompromisslos aus der Gefahrenzone schlägt, Axel!“ Die perfekte Wahl: Torti, der Tortenschlumpf! Der Schlumpf hatte, und hiermit sind wir beim wesentlichen Güteprädikat, neben einer Torte in der Hand auch perfekte „Schaufelfüße“, also Beine, die ein sofortiges, kompromissloses „Herausschlagen des Balles aus der Gefahrenzone“ ermöglichten, wenn nicht sogar einforderten! Linker Verteidiger war immer eher einer der Schlümpfe, die nicht so gut stehen konnten, oder die, die „so Linksdrall“ hatten, wie es Oke nannte. Der Gewichtheberschlumpf zum Beispiel, der hatte nicht so viel drauf, aber zum Abblocken einer Flanke war er dann doch noch zu gebrauchen. Über rechts, schon wichtiger, wurde ein „Kaltz-Typ“ händeringend gesucht, einer, der „auch mal Druck ausübt“ und „gefällige Flanken“ hineinzuschlagen verstand! Torti, den Tortenschlumpf, hatte ich doppelt. Torti also über rechts. Als Kaltz. Würde sicherlich nicht schaden, den Gegner durch die frappierende Ähnlichkeit zwischen „Ausputzer“ und rechtem Verteidiger zusätzlich zu verwirren. Im Mittelpunkt dann die „Arbeitsbienen“: der Geschenkschlumpf und Schlumpfine. Oke gab sich bezüglich Letzterer großzügig: „Och, die Olle kann da ’n büschen rumstehen und fertig!“ Frauen in der Männerdomäne Schlumpffußball? Bei uns auf Nordstrand schon Anfang der Achtziger nicht undenkbar. Ihren Stammplatz hatte „die Olle“ trotzdem nie sicher: „Die hat so komische Füße!“ Schlumpfines Glück: Die Konkurrenz war nicht allzu groß. Sie bestand aus einem Plastikschlumpf aus dem Kaugummiautomat, der nur etwa die Hälfte der Größe der normalen Schlümpfe besaß und von daher immer nur als A-Jugend-Talent („Walter-Laubinger-Typ“, laut Oke) galt, als einer, den man beim Stand von, sagen wir mal, drei bis vier zu null ins kalte Wasser schmeißen konnte. Wie bereits erwähnt gingen unsere Spiele nie „sagen wir mal drei bis vier zu null“ aus. Schlumpfine hatte mehr Glück als Fußballverstand.

      Die Regie im Mittelfeld führte so ein Schlumpf mit einem Lexikon in der Hand und einer Brille auf der Nase. Für uns hieß der „Lexi“ und war, logo, der „Felix-Magath-Typ“ schlechthin! Der konnte das Spiel „auch mal lesen, auch mal ruhig machen“ und – besonders super – „den tödlichen Pass“ spielen! Auf diesen lauerten drei Stürmer, schließlich waren wir (2:1-Ergebnisse hin oder her) Verfechter schneidigen Offensivfußballs. Links und rechts außen wirbelten kleinere Schlümpfe: der, der die Zunge rausstreckte (Typ Wolfram Wuttke), den wir nach langem, zähem Überlegen „frecher Schlumpf“ tauften, und der, der eine Blume in der Hand hielt (Typ Lars Bastrup) und einen ebenso verwegenen Namen trug: Blumi. Die zentrale Figur des Spiels, neben dem Magath-Schlumpf: der Mittelstürmer! Oke erwartete Wunderdinge von eben jenem: „Vorne drin brauche ich einen kopfballstarken Spieler! Damit ich auch mal mit hohen Bällen operieren kann!“ Die Wahl fiel auf den „Hammerschlumpf“, der, oh heilige Einfalt, was in der Hand hielt? Einen Hammer! Der war, wenn man Oke und seinen geilen, weil leidenschaftlichen Kommentaren während des Spiels Glauben schenken durfte, „in jedem Spiel für ein Tor gut“, konnte „beidfüßig schießen“, war „extrem spurtstark“ und bei seinen „gefährlichen Dribblings“ zudem „kaum vom Ball zu trennen“. Um den Hammerschlumpf rankten sich dann auch jedes Mal längere, fachliche Diskussionen inklusive eines Austauschs überzeugendster Argumente zwischen uns beiden: „Och Mönsch! Du hast den doch schon gestern gehabt!“ – „Na, und?“ – „Ja, aber trotzdem!“ – „Ich hol meine Mutter!“ – „Mach doch!“ – „Mach ich – echt?!“

      Es war die Frage aller Fragen im Schlumpffußball-Kosmos: Welcher Schlumpf spielt für welches Team? Wochen, nein, Monate waren wir damit beschäftigt, ein faires, ausgeklügeltes System der Spielerwahl auszubaldowern, das eine realitätsnahe Vorgehensweise ermöglichte. Schließlich waren wir nicht nur Schlumpffußball-Spieler, sondern auch Schlumpffußball-Manager! Darum entschieden wir uns letztlich für eine Variante, die uns Halbwüchsigen am plausibelsten erschien: „Alle Schlümpfe auf einen Haufen und dann Augen zu, und jeder zieht immer einen Schlumpf. Erst ich einen, dann du…“ – „Wieso ‚erst ich einen, dann du einen‘?“ – „Wieso nicht?“ – „Und überhaupt, du schummelst doch!“ – „Ich?“ – „Ja. Du fühlst immer vorher heimlich, welcher Schlumpf das ist!“ – „Mach ich nicht!“ – „Machst du doch!“ – „Mach ich gar nicht!“ – „Hast du aber schon mal!“ – „Hab ich noch nie!“ – „Hast du doch!“ – „Ich hol meine Mutter!“ – „Machst du nicht!“ – „Mach ich doch!“ Und so weiter und so fort… Und der Hammerschlumpf wartete in der Zwischenzeit sehnsüchtig auf „gefällige Flanken“…

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      In Zeiten, in denen Fußball in Wohlfühltempeln mit Kinositzen und Winkelementen stattfindet, ist das heimische Sofa manchmal fast so etwas wie das letzte verbliebene Mahnmal – ein Mahnmal dafür, dass Fußball etwas Einfaches, etwas Anarchisches haben sollte. Einfach dasitzen, dem Spiel wie immer folgen und dabei reden, reden, reden – ohne sich darum zu kümmern, was man sagt.

      Seit einiger Zeit besucht mich mein Schwiegervater regelmäßig in meinem Fußballkeller, um die Spitzenspiele der Fußball-Bundesliga mit Beteiligung des FC Bayern zu verfolgen. Das ist mittlerweile tatsächlich ein lieb gewordenes Wochenendritual geworden. Lieb geworden auch deshalb, weil er seit ein paar Spieltagen regelmäßig einen seiner alten Kumpel mitbringt, den mein kleiner Sohn Carl liebevoll Onkel Puskás nennt. Puskás deswegen, weil er mir auf einem dieser unumgänglichen Familienfeste mit einem abendfüllenden Gespräch über die ungarische Legende Ferenc Puskás und dessen Heldentaten für Honvéd Budapest und Real Madrid den Abend gerettet hat. Und sich damit diesen wunderbaren Beinamen sicherte. Manchmal kann das Leben wirklich einfach sein, wenn man weiß, wer Ferenc Puskás war.

      Jedenfalls sitzen nun diese beiden Männer schlesischer Abstammung regelmäßig bei mir zu Hause, schenken mir das ein oder andere Gläschen vom mitgebrachten Honigschnaps ein und erklären mir die Welt des runden Leders aus ihrer unverblümten Sicht. Und keine Frage: Das ist großartig! Das ist ganz, ganz großes Kino! Da werden die neuesten Lukas-Podolski-Gerüchte aus erster Hand seziert. Weil beide einst mit dessen altem Herrn zusammenspielten, sind sie natürlich bestens informiert. Sie wissen, wie schlecht es dem armen Jungen dort unten im fernen München geht – da sind auch das viele Geld des armen Poldi und die Villa am Starnberger See keine Argumente mehr. „Was willst du mit all diesen Millionen, wenn in deiner Mannschaft alle nur Dupas sind“, lautet ihre einfache, aber einleuchtende Podolski-Theorie. „Dupas“ – das ist übrigens ihr Wort für Leute, die wir gelinde gesagt „Hammerwerfer“ oder „Ohrfeigengesichter“ nennen würden. Natürlich finden vor allem die Konkurrenten Podolskis keine Gnade. Unbarmherzig der Kommentar von Onkel Puskás, als Luca Toni einen Ball verspringen lässt. „Weißt du, Sascha, mein Vater war im Krieg in Italien stationiert, und der hat immer gesagt: Die Italiener – die sind nur zum Bumsen geboren!“ Zustimmend nickt mein Schwiegervater beim Anblick von Tonis Großaufnahme im Fernsehen und ergänzt, dass Miro Klose den Ball noch nie lupfen konnte, und macht mit einem Schaumstoffball meines Sohnes nach, wie es richtig geht. Zwar ist der Zusammenhang zwischen dem angeblich naturgegebenen italienischen Hang zum Liebesakt und Kloses fehlendem Spielverständnis nicht unbedingt spontan oder auf den ersten Blick nachvollziehbar, aber vielleicht liegt das auch nur daran, dass es bisher noch niemand in einen Zusammenhang gestellt hat. Ein simultanes „Kurva“ – das schlesische Wort für alles, was, na ja, sagen wir: nicht rund läuft – beendet die Stürmerkritik und macht Fragen meinerseits bestenfalls überflüssig. Was soll ich hier auch fragen?


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