Das Zeichen der Erzkönigin. Serena J. Harper
trat vor, noch immer umwehte ihn der Schleier der Tarnung, sodass die Männer erst kaum auf ihn reagierten. Als er die Hand an seinen Gürtel legte und seinen Geldbeutel löste, sahen sie beim Klirren des Goldes auf.
»Dreihundert Goldmark«, sagte Varcas. »Zweihundert für das Fehlen der Milchkuh – einhundert, um den Eldermann bestatten zu dürfen.«
Die Albenmänner wandten sich ihm zu. Leicht, dachte er, es wäre so erschreckend leicht, sie zu töten. Aber er beschloss gleichzeitig, dies nur als die allerletzte Möglichkeit anzustreben. Die Dorfbewohner benötigten keine Leichen von Lamias Kriegern. Sie brauchten einen dauerhaften Schutz. Ganz gleich, was er jetzt anbot: Es würde jede Gier nur kurzfristig stillen. Aber sein alter Meister hatte ihm früher oft den weisen Ratschlag gegeben, ein Problem nach dem anderen zu lösen. Wer an dem ersten scheiterte, musste sich um das dritte keine Gedanken machen.
»Und wie kommst du zu diesem Geld, alter Mann?«, fragte der Lichtalb. Nur die Skepsis in seinen Augen konnte sich mit der Gier in seinem Blick messen.
»Ich habe es aufbewahrt für den richtigen Moment«, antwortete Varcas nichtssagend. »Und es scheint mir, der ist nun gekommen. Nehmt das Geld. Verzeichnet die zweihundert Goldstücke für Königin Lamia und reitet in die nächste Stadt. Für einhundert Goldmark könnt Ihr in jedem Bordell eine Frau finden, mit der Ihr mehr Vergnügen haben werdet als mit dem Mädchen dort.«
Varcas konnte die Gedanken hinter den Stirnen der Männer kreisen sehen.
Sie tauschten kurze Blicke. Schließlich kam einer von ihnen näher. Varcas reichte ihm den Geldbeutel – was den Gesichtsausdruck des Alben schlagartig in Hohn verwandelte.
»Oder, alter Mann«, sagte er grinsend, »wir nehmen dein Geld und töten dich.«
Varcas lächelte.
Fast wünschte er sich, dass sie ihm einen Grund geben würden – einen, den er nicht würde ignorieren können.
»Wenn Ihr in Zukunft in diesem Dorf immer wieder Gold finden wollt, dann wäre diese Vorgehensweise nicht ratsam, meine Herren. Aber vielleicht reicht Euch eine einmalige Zahlung von dreihundert Goldmark ja auch.« Varcas hob leicht die Schultern an. »In diesem Fall: Lasst euch nicht aufhalten.«
Erneut blickten die Alben sich an. Varcas atmete ein, versuchte, die mentalen Signaturen genauer zu erfassen, und spürte, dass die Gier Oberhand gewann. Es war zu einfach für diese Männer – zu einfach, zu glauben, dass sie noch genügend Gelegenheiten haben würden, ihn zu töten, wenn das nötig sein sollte.
Der Lichtalb steckte sein Schwert weg und warf den Beutel leicht in die Höhe, als wollte er ihn wiegen.
»Also schön, alter Mann.« Sein Kumpan zog bereits die Zügel der Pferde über ihre Hälse. »Dein Dorf ist für heute sicher. Und verscharrt Euren Eldermann. Wenn wir das nächste Mal wiederkommen, soll nicht alles nach verrottetem Erdalb stinken.«
Varcas schwieg und sah zu, wie der eine bereits aufsaß. Der andere Alb schob seinen Fuß in den Steigbügel seines Pferdes.
Eine Wahrnehmung ließ Varcas den Atem anhalten, genauso wie diese Empfindung den Lichtalb dazu brachte, in der Bewegung zu stocken.
Nein!
Der Pulsschlag seiner Vision ging ihm durch Mark und Bein. Die Quelle des Bildes war nah. Sie war hier.
Varcas fühlte, wie sein Seherblut zu rasen begann. Dennoch war er für einige Augenblicke wie versteinert, als der Alb den Fuß wieder senkte, um sein Pferd herumtrat, und mit langen Schritten in das Gebüsch zwischen zwei Häusern trat. Das, was als Nächstes an Varcas’ Ohren drang, hätte er mit dem Fauchen einer Katze verwechseln können.
Nah. So nah.
Und dann zerrte der Lichtalb ein Mädchen aus dem Gebüsch. In Varcas begann alles sich zu drehen. Ein Mädchen. Ein Kind, vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Kein Gegenstand. Ein Nachtalbenkind mit dunklem Haar.
Die Hand des Lichtalbs hatte sich fest um den Unterarm der Kleinen geschlossen. Er zog ihren Arm dabei so sehr in die Höhe, dass kaum mehr als ihre Zehenspitzen – nackte Füße, wieso hatte sie nackte Füße? – den Boden berührten. Sie trug ein besticktes Nachthemd, das schon bessere Tage erlebt hatte. Aber selbst unter Spuren von Ruß und Erde erkannte Varcas, dass es sich um ein feines, teures Gewebe handelte. Nichts, was sich eine Frau aus diesem Dorf hätte leisten können – geschweige denn, was jemand für die Nachtkleidung eines Kindes hier ausgegeben hätte.
»Scheiße!« Der zweite Alb beugte sich über seinen Sattel herab und stieß einen schrillen Pfiff aus. »Schau nach, ob sie die roséfarbene Rún trägt.«
Kaum dass er diese Worte ausgesprochen hatte, begann das Mädchen, zu zappeln, was den Mann nicht davon abhielt, ihren Ärmel hochzuschieben. Zart schimmerte dort im roséfarbenen Himmelslicht der Diamant, mit dem die Alben geboren wurden.
»Sie ist es. Sie ist die Tochter der getöteten Königin von Amber Hall!«
Varcas hatte nicht bemerkt, wie er seinen Stab fester umschlossen hatte. Das Seherzepter sang, als er mit einer kurzen Handbewegung den feinen Mechanismus betätigte, der erlaubte, das Zepter auszuziehen, sodass es länger wurde, als Varcas hoch war.
Das Kind merkte es als Erstes. Eben noch stumm, aber zappelnd, hielt sie fast schlagartig inne. Die Sinne der Männer waren weniger fein.
Varcas spürte, wie seine graue Rún sich mit dem Seherzepter verband. Es wurde zu der Verlängerung seines Arms, der Verlängerung seines Geistes, und beinahe hätte die Energie ihn selbst von den Füßen gerissen. Jahrhunderte, Jahrtausende war es her – und nun war seine Macht wie ein lang gestauter Fluss, der den Damm brach und sich seinen Weg in ein vertrocknetes Flussbett suchte.
»Lasst sie los!«
Varcas’ Stimme war weich wie Samt. Er fühlte die Wut der Alben, die sich nicht mit der der Menschen vergleichen ließ, in jeder Faser seines Körpers.
Ein Kind. Kein Gegenstand. Ein Mädchen. Ein Waisenmädchen.
Er bemerkte kaum, wie die Dorfbewohner alle vor ihm zurückwichen. Aber er sah, dass die Narren vor ihm seinem Befehl nicht nachkamen. Stattdessen zogen sie ihre Schwerter. Endlich konnte er in ihren Augen Nervosität erkennen, den Anflug des Unverständnisses, was sich soeben abspielte.
Er verstand es selbst nicht ganz. Aber der Blick des Mädchens ruhte weiterhin auf ihm, und Varcas wusste, was er zu tun hatte.
Er stieß den Stab in den Boden und ließ die Tarnung von sich fallen.
Die beiden Albenkrieger keuchten auf. Ja, dachte Varcas, seht hin. Seht mich an.
Die graue Aura seiner Rún verdichtete sich um den Albenlord. Als Linkshänder hatte er früher ein Schwert in der linken Hand und den Stab in der rechten geführt. Jetzt fühlte seine Linke sich merkwürdig leer an.
Die Krieger vor ihm errichteten Schutzschilde mithilfe der Mahr, doppelt verstärkt um ihre Waffen. Als sie ihn angriffen, war Varcas bereit. Er sammelte seine Macht im Seherzepter, ließ sie auf einen schmalen Radius entweichen, und vor seinen Augen zermalmte die Druckwelle seiner Kraft die Schwerter. Das metallische Bersten klang hoch und schrill, als die Mahr sich durch die Waffen fraß. Varcas stoppte nicht.
Die selbst auferlegten Fesseln der Vergangenheit fielen von ihm ab, als er die Männer angriff, den Stab gegen sie richtend. Die Wucht der gleißenden Druckwelle sprengte zuerst ihre Schilde, dann lagen sie so schutzlos wie Menschen vor ihm.
All dies spielte sich in Sekundenbruchteilen ab. Es dauerte keinen Herzschlag, bis Varcas unter ihre mentalen Barrieren geschlüpft war. Für einen Moment war er angewidert von dem, was er fand – klebrig wie Pech war der Kern ihres Geistes, verdorben von all den Dingen, die sie im Auftrag Lamias und zu ihrem eigenen Vergnügen getan hatten.
Varcas entzündete das Seherfeuer in ihrem Inneren, ohne dass sie irgendetwas hätten tun können, um ihn aufzuhalten. Der grüne Alb warf sich ihm entgegen, in einer letzten Verzweiflung aufheulend, doch das Seherfeuer, das seinen Geist – nur den – verschlang, war zu schnell