Das Zeichen der Erzkönigin. Serena J. Harper
Kleidungsstück, das nichts mit dem Protz und Tand Shaylas zu tun hatte; anschmiegsam, sodass es nicht beim Fliegen behinderte.
»So eine Tunika hat auch Fafnar Stormblood getragen, Scheißkerl«, flüsterte Tyran. Seine Tunika fiel zu Boden.
Die Königin umkreiste ihn. Als sie wieder in seinem Blickfeld auftauchte, rümpfte sie die Nase.
»Er ist schmutzig.«
Das war er – aber das war auch noch erkennbar gewesen, als er sein Hemd noch getragen hatte. Die Tage in einem Käfig auf vier Rädern hatten Spuren hinterlassen. Als ihre Fingerspitzen begannen, ein wenig Staub von seiner Schulter zu reiben, kam ihm das Bild der Königin mit gebrochenem Genick wieder in den Sinn.
»Ich will, dass er gewaschen wird«, befahl die Königin. »Danach soll er auf mein Zimmer kommen.«
Und obwohl Tyran diesen Befehl schon oft genug in seinem Leben gehört hatte, verfehlte er auch dieses Mal nicht die Wirkung auf seinen Geist, als hätte die Lady Elnesta einen Funken der Mahr auf trockenes Holz fallen lassen. Der Zorn, der eben noch in feinen Strömen durch seine Blutadern geflossen war, erhitzte sich unter der nahenden Erniedrigung.
Sie war eine Hure, so, wie Königin Lamia eine war, wie alle Marionetten, die sich in Shayla ausgebreitet hatten wie eine ansteckende Krankheit. In Kriegszeiten wollten sie sein Schwert, das, wenn man ihm genügend Motivation gegeben hatte, durch die Reihen der Widerständigen fuhr wie eine Sense in einem Weizenfeld. Aber sobald dies geschehen war, wünschten sie alle sich seine Beteiligung an einem anderen Krieg, schmutziger noch als die Himmelsschlachtfelder von Askyan.
Rodric und er hatten unterschiedliche Arten, damit umzugehen. Es war zwar seltener für Rodric, an einen weit entfernten Hof geschickt zu werden – Königin Lamia teilte ihn nicht häufig, und wenn, dann verfolgte sie üblicherweise ein tieferliegendes Motiv. Trotzdem glaubte Tyran nicht, dass Rodric noch zählen konnte, vor wie vielen Königinnen er gekniet hatte.
Genauso wenig wie er.
Und auch in der Tatsache, dass sie beide sich Wege suchten, um die Schlachten in den Schlafgemächern auf ihre Weise zu gewinnen, ähnelten sie einander.
Der wahre Unterschied lag in der Geduld, die sie dabei an den Tag legten. Rodric konnte warten. Es war für ihn gleich, ob seine Rache erfolgte, bevor die ersten Sonnenstrahlen seine Haut am Morgen berührten, oder ein Jahrhundert danach.
Der Kuss des Blutritters war ein tödliches Versprechen, wenngleich die Marionettenköniginnen es bisweilen vergaßen.
Und er … Tyran lächelte. Er war anders. Er war schneller.
Aber selbst er konnte erkennen, dass der Moment ungünstig war. Die Krieger warteten nur darauf, dass er versuchte, sich von den Ketten zu befreien. Stattdessen bückte er sich, als man ihm einen Stoß versetzte, um sein Wams aufzuheben, und ließ sich von dem Herold und mehreren herbeigerufenen Kriegern zu einer der Sklavenbaracken führen. Noch mehr Holz. Oakwrath Hall schien geradezu darum zu bitten, dass er ein Freudenfeuer entzündete, sobald sich die Gelegenheit bot.
Der Nachtalb ging mit zielstrebigen Schritten voran, die Krieger schoben Tyran hinter ihm her.
»Ich werde das nur ein einziges Mal sagen, also hörst du besser zu, askyanischer Hurensohn«, sagte der Herold, ohne sich zu ihm umzudrehen. »Ich habe von deiner Sorte hier schon so einige gesehen. Ihr kommt hier an mit eurem großen Mundwerk, den Schmierereien auf euren Armen und glaubt, weil ihr schon einmal ein Schwert in der Hand hattet, gäbe es eine Möglichkeit, aus Oakwrath zu entkommen.«
Für einen Moment gestattete Tyran sich, die Gedanken abschweifen zu lassen, in den Trott ihres Schrittes zu verfallen, die Arme und die Flügel sinken zu lassen, und hinaufzublicken in den wolkenverhangenen Nachmittagshimmel. Als Sturmalb machte ihm die Kälte in Shayla nichts aus; in Askyan hatte es sicher schon geschneit. Schneeflocken waren nichts, was seinen Schwingen oder ihm ein Problem bereiten konnte.
Oakwrath roch nach toten Bäumen und dem nahenden Winter, nicht nach Freiheit und Familie wie Askyan, aber trotzdem war Tyran dankbar über die offene Bauweise.
Der Kristallpalast lag eingebettet in der Stadt, Haus drängte sich an Haus, und trotz der unfassbar beeindruckenden Größe der Burg waren die Korridore eben nicht für Sturmalben geschaffen worden. Seine Flügel waren zu breit, als dass er sie offen und aufgespannt hätte tragen können, und manchmal, wenn er in den Sklavenquartieren nachts wach lag, dann kam es ihm vor, als rückten die Wände jeden Tag näher zu ihm heran.
Der Herold vor ihm hielt abrupt an und drehte sich zu ihm um.
»Die Wahrheit ist jedoch, dass du nicht bist, wofür du dich selbst hältst«, sagte er. »Du bist kein Krieger.«
Der Nachtalb näherte sich Tyran. Mit Befriedigung stellte Tyran fest, dass er dennoch mehr als eine halbe Hand größer war als sein Gegenüber. Noch immer blieb er still, während die Handlanger des Herolds die Ketten an seinen Händen mit denen an einem im Hof stehenden Metallpfosten verbanden.
Der Herold musterte ihn.
»Bist du taub? Ich sagte gerade, du seist kein Krieger«, er bleckte seine Zähne. »Willst du mich nicht fragen, was du stattdessen bist?«
»Mein Fehler«, entgegnete Tyran. »Ich wollte dich nicht unterbrechen, Scheißkerl. Du warst gerade so gut dabei – ich war so kurz davor, richtig, richtig schlimme Angst zu bekommen.« Tyran hob seinen Zeigefinger und Daumen. »Nein, warte – eher – so kurz.« Er führte die beiden Finger zusammen.
Die Mundwinkel des Herolds zuckten, als er mit dem Schlagstock ausholte. Die Wucht des Hiebes reichte nicht aus, um Tyran ins Wanken zu bringen. Dafür schmeckte er Blut. Langsamer, als es nötig gewesen wäre, richtete er sich wieder gänzlich auf.
»Du bist ein Stück Vieh, Askyaner«, sagte der Herold leise und trat schließlich einen Schritt zurück. »Und hier in Oakwrath wollen wir uns Vieh, das wir gekauft haben, erst einmal genau ansehen.« Er lachte, als hätte er einen erfolgreichen Scherz gemacht.
»Runter mit den Sachen. Zeig uns, was Königin Elnesta für die stolze Summe bekommen hat.«
Der Griff um Tyrans Arme löste sich, sobald er sicher angekettet war. Tyran lockerte seine Muskeln innerhalb des Spielraums, der ihm blieb, rührte sich aber nicht von der Stelle. Er legte seine Jagdtunika neben sich auf den Boden. Dann fanden seine Finger die Lederschnüre seiner Hose. Mit zwei, drei schnellen Bewegungen hatte er sie geöffnet. Tyran schüttelte sich die Stiefel von den Füßen und stieg aus seinen Beinkleidern. Als er sich wieder aufrichtete, fing er den Blick des Herolds auf. Dieser gab sich keine Mühe, zu verbergen, dass seine Augen auf etwas unterhalb von Tyrans Körpermitte gerichtet war.
»Das ist ein Schwanz«, sagte Tyran und schob die Zunge in den Mundwinkel, die Füße schulterbreit auseinander gestellt. »Ist es lange her, dass sie dir deinen und deine Eier abgenommen haben, Scheißkerl? Erinnerst du dich deswegen nicht mehr, wie so was aussieht?«
Der Geruch von losbrechender Wut erreichte Tyran beinahe so schnell wie der gezogene Dolch des Nachtalben. Der Herold packte seinen Hinterkopf und drückte die Klinge an die empfindliche Stelle unter Tyrans Auge, wenige Zentimeter entfernt von der Stelle, an der er die Scherbe stets ein wenig fühlen konnte.
»Vielleicht sollte ich dir dein hübsches Gesicht zerschneiden. Ich bezweifle, dass Königin Elnesta dann noch irgendeine Verwendung für dich hätte.«
Tyran neigte den Kopf nach vorn, erhöhte selbst den Druck des Messers auf seine Haut, bis er sein Blut auf seiner Wange spürte.
»Oh, du findest mich hübsch? Ich bin geschmeichelt«, antwortete Tyran. Seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen. »Ich bevorzuge ja die Bezeichnung unwiderstehlich, aber ich bin nicht wählerisch.«
Der Herold hielt sich nicht mehr zurück. Seine Hand rutschte herab bis zu Tyrans Hals und mit einem halben Aufschrei stieß er ihn an den Pfahl zurück, seinen Schädel gegen das Metall donnernd.
»Ich werde dir das verdammte Lächeln schon noch aus dem Gesicht prügeln«, spie er ihm entgegen.
»Ja«,