Das Zeichen der Erzkönigin. Serena J. Harper
Mylord.«
Zu ihrer Überraschung lachte er auf. Ein wenig gekränkt richtete Lyraine sich auf.
»Mylord, ich meine das mit allem Ernst, ich …«
Der Seher brachte sie mit einer knappen Geste zum Schweigen. Lächelnd beugte er sich vor, die Unterarme auf seine Knie legend. »Mylady, dann entbinde ich Euch mit allem Ernst von dieser Schuld. Ich habe getan, was jeder Alb tun sollte, der ein Kind in Gefahr sieht.«
Lyraine nickte, ein wenig verlegen.
Ein weiteres Mal atmete sie tief durch. Einen Gedanken konnte sie nicht von sich weisen – die Tatsache, wie mächtig er war. Sie hatte sie gesehen, die graue Rún. Es gab nur zwei Stufen, die mächtiger als grau waren, das Silber und das Schwarz. Alle drei Farben gehörten fast in das Reich der Legenden. Ihr war noch nie jemand begegnet, der eine solche Farbe als Rún trug.
Ihr Vater war der stärkste Mann in Amber Hall gewesen, und er hatte Kobaltblau getragen. Wenn man genau sein wollte: Kobaltblau, das an den Rändern die Tiefe von Rot annahm. Er hatte Lyraine erklärt, was das bedeutete: Wenn ein Mann in den Kreis der Herolde einer Königin aufgenommen wurde und sich mit ihr verband, dann konnte es vorkommen, dass seine Rún auf den Mythos der Himmelslichter reagierte. Wenn dieser Mann also mit einer kobaltblauen Rún geboren worden war, wie es bei ihrem Papa der Fall gewesen war, so bestand die Möglichkeit, dass in dem Moment seiner Bindung an seine Königin die Rún eine mächtigere Färbung annahm.
Es passierte nicht immer. Manchmal war es auch so unauffällig, dass es kaum einer Erwähnung bedurfte. Bei Gorwyn, das konnte sie erkennen, blieb die dominante Farbe auch das Flieder, aber der Rand von Goborns Flamme zeigte einen roséfarbenen Schimmer.
Sie hatte ihren Vater gefragt, warum die Herolde diese zusätzliche Macht erhielten. Genau bekannt war es nicht, aber ihr Vater hatte geglaubt, dass es dafür da sein musste, um die Königin besser beschützen zu können.
Ein starker, vereinigter Hof war das Fundament jeden Lebens in Norfaega.
»Ich habe … ein paar Fragen an Euch«, sagte Lyraine, die Hände im Schoß faltend.
Varcas legte den Kopf schräg.
»Was möchtest du wissen, kleine Lady?«
Lyraine konnte sich gerade noch so am Rand des Bettes festhalten. Die Wucht der Worte schnürte ihr schlagartig die Luft ab.
Kleine Lady.
Der Klang einer Stimme, einer ganz anderen, hallte in ihrem Innersten wider. Sie sprang vom Stuhl auf.
Kleine Lady.
Sie musste aus dem Raum verschwinden. Hinaus. Fort. Nur weg, weg von der Quelle dieser Worte. Weg! Sie kam keine zwei Schritte weit, blind vor Panik, als die Hände des Sehers sich um ihre Arme schlossen. Instinktiv wand sie sich, versuchte, sich loszureißen, aber selbst durch den Schleier der Angst hindurch fühlte sie die Bemühung des Alben, ihr keine Schmerzen zuzufügen.
»Ich werde dir nicht wehtun«, versprach er. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Bitte.« Seine Stimme war warm und tief.
Lyraine sah zu ihm auf. Grau, nicht silbern.
Sie spürte, wie der Widerstand ihrer Muskeln sich erweichte, und sie fiel kraftloser, als sie es selbst für möglich gehalten hätte, wieder auf den Stuhl zurück.
»Was hat dich so erschreckt?«, fragte Varcas, der sie losließ und sich zurückzog.
Lyraines Augen wanderten über sein Gesicht. Wenn sie doch nur auch ein Seher wie er gewesen wäre! Dann hätte sie unter seine Barrieren blicken können, um seine Gedanken zu lesen. Das konnten Seher doch, oder nicht?
Mit zitternden Fingern glättete Lyraine den Stoff des Kleides, das man ihr gegeben hatte.
»Ihr könnt zu mir sagen, was Ihr mögt – aber nennt mich nicht so.«
Es überraschte sie, als der Seher sich wieder vorbeugte. Der Blick aus den graublauen Augen war ernsthaft und klar.
»Ich verspreche dir, ich werde dich nie wieder so nennen.«
Er fragte nicht, wieso. Aber sein Tonfall klang feierlich wie bei den großen Zeremonien in Amber Hall. Nicht geschwollen und albern, sondern so, als hätte er noch nie etwas so sehr gemeint wie diese Worte. Sie legte ihre Hand auf ihr Schlüsselbein und atmete tief durch. Das hatte Tovilda auch immer gemacht, wenn sie sich vorher schrecklich aufgeregt hatte.
Lyraine konnte fühlen, wie die Panik sich legte und der Erleichterung wich.
Der Seher lehnte sich zurück und schien zu warten.
»Ich wollte Euch … Fragen stellen«, griff Lyraine den Gesprächsfaden wieder auf.
Varcas lächelte erneut. »Nur zu.«
Lyraines Finger fanden einen losen Faden ihres Kleides und begannen ihn zu zwirbeln. Varcas strahlte eine Ruhe aus, von der sie sich am liebsten anstecken lassen wollte. Aber manchmal logen die Leute, das hatte ihre Mama ihr immer wieder gesagt. Manchmal durfte man nur sich selbst trauen.
Lyraine straffte ihre Schultern. Sie musste versuchen, Ordnung in das Chaos zu bringen, das seit … seit Amber Hall in ihrem Kopf herrschte.
»Wer seid Ihr?«, fragte sie und hätte sich sofort auf die Zunge beißen mögen. Die Frage war aus Ihr herausgeplatzt, ungeformt. Es klang nicht so wie etwas, das ihre Eltern gefragt hätten. Ihre Mutter sprach anders mit Gesandten, mit fremden Herolden. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht, die meiste Zeit über.
»Meinen Namen kennst du bereits. Als ich geboren wurde, tat ich das unter dem Namen Debray, aber außer mir gibt es heute niemanden, der diesen Namen trägt. Auch dass ich ein Seher bin, hast du schon festgestellt«, antwortete er. Er sprach flüssig, fand Lyraine. Es klang ehrlich; nicht so, als müsste er es sich ausdenken.
»Ich lebe in einem kleinen Haus im Norden von Shayla«, fügte er hinzu, »nah an der Grenze zu Askyan.«
»Das Sturmalbenheim«, warf Lyraine ein.
»Genau«, bestätigte er mit einem Lächeln, das sie von Meister Lewyn kannte, wenn sie etwas Kluges im Unterricht gesagt hatte.
»Wieso seid Ihr hier?«, stellte sie die nächste Frage.
Dieses Mal ließ er sich mehr Zeit, bis er antwortete. Er blickte hinab auf seine Hände mit den sauberen, gefeilten Fingernägeln. Viele adlige Alben trugen die starken Nägel, die sie von Natur aus hatten, genau so. Ein kurzer Blick auf ihre eignen Hände reichte zum Vergleich. Ihre Fingernägel waren tief gesplittert, sodass unter einigen sich Flecken mit Blut zusammengezogen hatten.
»Ich habe vorausgesehen, dass hier der Ort ist, an dem ich sein sollte«, antwortete er langsam, Lyraine aus ihrem Gedanken reißend. »Und wenn ich darüber nachdenke, ist es auch so.«
Er war also einer Vision gefolgt. Meister Lewyn hatte fast nie Visionen gehabt. An besonderen Tagen wie dem Yulfest, Beltâne im Frühling oder den Rauhnächten sprach er manchmal eine Weissagung für den nächsten Jahresabschnitt aus. Aber Meister Lewyn hatte auch nur eine himmelblaue Rún getragen.
»Darf ich dir ebenfalls eine Frage stellen?«
Lyraine zögerte nur kurz. Es war nur fair, wenn er sie auch etwas fragen durfte. Sie nickte.
Zu ihrer Überraschung stellte Varcas ihr seine Frage nicht sofort. Wie sie schien auch er nach Worten zu suchen.
»Weißt du, was bei euch zu Hause in Amber Hall geschehen ist?«, fragte er schließlich.
Lyraine nickte ein weiteres Mal. Das, was Gorwyn ihr erklärt hatte, war genug gewesen, um die meisten Lücken zu schließen. Sie fühlte, dass sie noch nicht alles verstand. Dass es Dinge gab, die vor ihrer Geburt stattgefunden hatten, Jahrhunderte oder Jahrtausende vorher. Dinge, die immer noch wichtig waren.
»Wenn du das weißt, dann … dann ist dir sicher bewusst, dass du nicht dorthin zurückkehren kannst«, sagte Varcas. »Und wir müssen überlegen, wo es für dich am sichersten wäre.«
»Am