Das Zeichen der Erzkönigin. Serena J. Harper
Offensichtlich aber zu spät, denn er blutete erkennbar aus mehreren Wunden. Der ältere Alb presste sich eine Hand auf eine Verletzung im Bauchraum, die, wie Varcas erkannte, von einem der Nekrophagen stammen musste.
Aus der Ferne hätte man sie für gewöhnliche, wenn auch sehr, sehr große Wölfe halten können; besaßen sie doch den gleichen agilen Körperbau und langes graues Fell. Doch ihr Oberkiefer war anders geformt, die Eckzähne waren zu Säbelzähnen entwickelt, lang wie die Elle eines Kindes und so gebogen, dass sie damit den Körper ihrer Beute mit Leichtigkeit öffnen konnten. Ganz gleich, ob diese noch lebte oder nicht.
Einer von ihnen musste den Erdalb erwischt haben. Als er Varcas entdeckte, war es keine Erleichterung, die sich auf seinem faltigen Gesicht abzeichnete, sondern eine Steigerung der Furcht.
Varcas ignorierte das Zögern der Dorfbewohner, die sich keinen Schritt weiter wagten. Es war besser so. Er konnte spüren, dass die Kraft der fliederfarbenen Mahr des Erdalben sich bald erschöpfen würde – der Glanz auf seinem Unterarm wurde schwächer und matter mit jedem verzweifelten Atemzug, den er tat.
Zum zweiten Mal in dieser Nacht betätigte Varcas den kleinen Drehmechanismus seines Seherzepters, um es zu dem langen Stab auszuziehen. Die Tiere waren hungrig, aber nicht abgemagert, sondern so wohlgenährt, dass sie den Kampf riskieren würden. Zudem war ihr Rudelverhalten ausgesprochen schlau – würde er sich nach vorn bewegen, fänden sicher einige ihren Weg an ihm vorbei bis zu den Dorfbewohnern.
Varcas steckte das Schwert weg, um sich gänzlich auf seine Rún und die durch ihn hindurchfließende Mahr zu konzentrieren.
Die Grimwölfe hatten sich verteilt. Drei von ihnen behielten knurrend und mit hoch aufgestellten Augen ihre auserwählte Beute im Blick, die übrigen hatten sich ihm zugewandt, das Fell im Nacken gesträubt.
Varcas ließ seinen Geist über die Nekrophagen streichen. Es gab da etwas, das er in Askyan über sie gelernt hatte …
»Bleibt ganz ruhig, Meister Gorwyn«, sagte er. Eins nach dem anderen nun. Varcas war mächtig genug, um einen grauen Schutzschild um sich selbst zu errichten und auch den umzingelten Erdalben zu schützen – und noch genügend Tiefe der Macht ausschöpfen zu können für den nächsten Schritt.
Wie hatte Hjalvar die Grimwölfe immer genannt? Die Alben unter den Tieren? Sie waren ein Spiegel ihrer eigenen Gesellschaft, ihnen allen ähnlicher, als sich auf den ersten Blick vermuten ließe.
Varcas’ Blick fiel auf eins der Weibchen. Es war nicht sonderlich groß, wurde aber von den drei stärksten Männchen flankiert.
Er lächelte, als er kraft seiner Mahr unter die Barrikaden des Geistes des Grimwolfweibchens schlüpfte. Für unerfahrene Seher war es eine merkwürdige – ja, eine beunruhigende – Erfahrung, durch den Geist eines Tieres zu streifen und ihn zu manipulieren. Aber eigentlich, so hatte Varcas es stets empfunden, gab es gar keine so großen Unterschiede. Mehr Instinkt. Mehr Gefühl. Weniger Gedanken. Aber dafür keine Lügen, keine Täuschungen, die er als Seher hätte entlarven müssen.
Im nächsten Moment entspannte das Weibchen sich völlig. Es richtete sich aus der angriffslustigen Haltung auf und schlagartig reagierten auch die anderen Tiere, die sich zu ihr zurückzogen.
Varcas schritt unbehelligt an den Grimwölfen vorbei und ging neben dem Erdalben auf die Knie.
»Meister Gorwyn, ich wurde geschickt von … von …«
Erst jetzt erinnerte er sich, dass das Nachtalbenkind ihm keinen Namen genannt hatte.
Doch der Erdalb hörte ihm sowieso kaum zu. Seine Gesichtsfarbe war fahl geworden, die Mahr nahezu versiegt. Er sank kraftlos weiter in sich zusammen. Nur seine Augen suchten nach etwas an Varcas. Der Seher spürte, wie der Verwundete seinen Blick nicht von seinen Händen lösen konnte.
»Nein, Meister Gorwyn«, sagte er sanft, während er ihn einen Arm unter den Rücken schob, um ihn zu stützen, »ich trage keinen Hofring. Ich diene keiner Königin.«
»Die … die Grimwölfe …«, brachte der Erdalb keuchend hervor. Varcas nickte, wob aber einen grauen Wärmezauber. Er hatte zu wenig Heilerfahrung, um eine derartige Wunde zu schließen. Sie würden die Heilerin brauchen. »Wie habt Ihr das getan? Die Grimwölfe …«
»Sie dienen einer Königin«, sagte Varcas schlicht und wies auf das Wolfsweibchen, auf dessen Rücken einer ihrer Krieger seinen Kopf gelegt hatte.
Lyraine
10
Gorwyns Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Das war ein gutes Zeichen. Um das zu wissen, brauchte man keine Heilerin zu sein.
Aber als der Seher – Varcas – und die Dorfbewohner den Truchsess hereingetragen hatten, wenige Stunden zuvor, als gerade die Sonne aufging, hatte der Atem des Erdalben noch ganz anders geklungen. Die Heilerin Lenka hatte ganze Arbeit geleistet.
Sie hatte genauso schnell gearbeitet wie die Heilerin in Amber Hall: mit flinken, geschickten Griffen. Erst hatte sie Lyraine hinausschicken wollen, doch als selbst der Truchsess sagte, sie dürfe bleiben, hatte sie nachgegeben. Und so hatte Lyraine sich neben Meister Gorwyn gesetzt, seine Hand gehalten und zugesehen, wie die Heilerin die Hose von unten und das Hemd von oben aufschnitt und die Wunden zu versorgen begann.
»Totes Gewebe«, hatte sie Lyraine erklärt und auf die Ränder der klaffenden Wunde gedeutet. Als Lyraine fragend auf etwas weiß Schimmerndes wies, zögerte sie erst noch, bevor sie ihr den Oberschenkelknochen zeigte.
Nachdem Gorwyn einen Trank eingeflößt bekommen hatte, war er flach atmend eingeschlafen. Genügend Zeit für die Heilerin, um das tote Gewebe mit einem seltsam gekrümmten Messer, das sie vorher mit einer Zunge mahrischem Feuers erhitzt hatte, wegzuschneiden.
Sie hatte die Wunde gesäubert und begonnen, sie zu nähen, den Singsang der Heilerinnen auf den Lippen, jedes Mal, wenn sie die Haut durchstochen hatte.
Nun schlief Gorwyn endlich ruhig, mit tiefen, gleichmäßigen Atemzügen. Aber Lyraine blieb sitzen, wo sie war. Sie wusste von der Heilerin in Amber Hall, dass es wichtig war, Kranke nicht allein zu lassen. Manchmal konnte man kleine Anzeichen der Verschlechterung übersehen, und dann starben sie, ohne dass man etwas dagegen hätte tun können.
Eine Bewegung im Türrahmen ließ Lyraine aufblicken.
»Meister Varcas«, sagte sie.
Er neigte den Kopf. Sie wusste nicht, ob es Zustimmung oder eine angedeutete Verneigung war. Verbeugen musste sich vor ihr niemand.
Nicht mehr.
»Darf ich mich zu euch beiden setzen?«, fragte der Seher und wies auf einen zweiten Stuhl.
Lyraine nickte.
Er war groß, selbst für einen Albenmann, und es fiel ihr ausgesprochen schwer, zuzuordnen, zu welchem der Albenvölker er gehörte. Er hatte schwarzes Haar wie die Nachtalben, das an den Schläfen und an vereinzelten Stellen bereits silbern wurde. In seinem Bart würde das Silber bald das Schwarz übertreffen.
Auch die Hörner auf seinem Haupt waren geformt wie bei Nachtalben üblich – wie es bei ihrem Vater der Fall gewesen war: in einer eleganten, runden Krümmung, die sich erst nach hinten und dann nach vorne neigte. Seine Haut hingegen war dunkler als die der meisten Nachtalben, die sie kannte – es war ein schöner, milder Bronzeton, der sie an die Erdalben des Dorfes erinnerte.
Als er Platz genommen hatte, holte sie Luft, bevor er etwas sagen konnte:
»Es ist gut, dass Ihr hier seid, Meister Varcas«, sagte Lyraine. »Ich wollte sowieso mit Euch sprechen. Ich wollte … ich wollte mich bedanken.« Lyraine suchte nach seinem Blick. Seine Augen hatten fast die gleiche tiefe, grau-blaue Färbung seiner Hörner. »Ihr habt mir gegen die … die Krieger beigestanden. Und Ihr habt Meister Gorwyn hierhergebracht. Die Lady Lenka hat gesagt, er wird es überleben.«
Varcas nickte.
»Das denke ich auch. Die Versorgung der Wunde war noch rechtzeitig.«
Er