Das Zeichen der Erzkönigin. Serena J. Harper
er, dass er den Atem angehalten hatte. Als er ihm entwich, musste er sich für einen Moment auf seinen Stab stützen – nicht, weil er sich geschwächt fühlte. Es war keine Schwäche. Es war eine Überreizung durch die Macht, der er sich so lange entzogen hatte.
Varcas’ Augen fanden das Kind, das immer noch ihn und nicht die Getöteten ansah.
Es war eine merkwürdige Eingebung, die ihn dazu brachte, in die Hocke zu gehen, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein.
Funken der Mahr stoben immer noch aus der Krone seines Seherzepters und erhellten ihre Miene. Es war das elfenbeinerne Gesicht einer Puppe mit den feinen Zügen eines adligen Albenmädchens. Sie schob sich eine dunkle Strähne aus der Stirn, als sie auf ihn zutrat. Das Licht fand ihre Augen.
Ein Schauer rann über Varcas’ Rücken.
Ihn traf der Blick aus smaragdfarbenen Augen bis ins Mark.
Varcas glaubte für einen Moment nicht, dass er sprechen können würde. Doch noch während er sie anblickte, halb auf den Knien, den Stab umfassend, zogen sich die Flammen ihrer Iris zurück und ließen nun nur das beruhigte Grün sehen. Es war weniger die Farbe, die sich im Schein der mahrischen Funken änderte, als die Beschaffenheit ihrer Augen. Sie waren noch immer grün – waldgrün, haselgrün, durchzogen von Licht und Dunkelheit – aber das uralte Lodern erlosch.
»Meister«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte.
»Varcas«, nannte er seinen Namen.
»Meister Varcas«, korrigierte sie sich selbst. »Ihr habt mir … einen großen Dienst erwiesen. Aber ich muss Euch um noch mehr bitten.« Jetzt, da das smaragdgrüne Feuer erloschen war, schien sie beinahe schüchtern. Trotzdem trug sie ihre Worte mit größtmöglicher Ernsthaftigkeit vor. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass sie an einem Königinnenhof aufgewachsen war. Sie sprach, als hätte sie das typische Hofzeremoniell mit der Muttermilch aufgesogen.
»Mein Begleiter ist verletzt. Sehr schwer. Er braucht Hilfe.«
Das musste der Mann sein, den er in seiner Vision gesehen hatte – der dieses Mädchen aus Amber Hall gerettet hatte.
»Kannst du beschreiben, wo er ist?«, fragte er das Mädchen.
Es nickte.
Varcas richtete sich auf. Als er sich zu den Dorfbewohnern umblickte, spürte er, wie ihn die Welle ihrer Furcht und ihres Misstrauens erfasste. Sie hielten Abstand.
Vielleicht zu Recht.
Varcas richtete seine Aufmerksamkeit auf Lenka: »Heilerin, ein Albenmann ist verletzt.«
Die Heilerin trat näher. Die Vorsicht, die sie dabei walten ließ, galt nicht nur ihm, sondern auch dem Kind, stellte Varcas fest, als er dem Mädchen zuhörte, wie es den Weg durch den Wald zu einer Lichtung beschrieb.
Einige Männer des Dorfes sammelten sich auf Lenkas Geheiß und entzündeten Fackeln.
Lenka trat auf das Kind zu.
»Komm doch in mein Haus, Kleine, und wir schauen, ob wir für dich etwas zum Essen und etwas zum Anziehen finden.«
Das Mädchen rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen wanderte ihr Blick zurück zu Varcas.
»Werdet Ihr Meister Gorwyn wirklich finden?«, fragte es.
Varcas verstärkte den Lichtstrahl seines Seherzepters und lächelte.
»Das werde ich. Verrätst du mir auch deinen Namen?«
Das Nachtalbenkind zögerte. Zu lange. Ihre Unsicherheit wurde für Varcas’ Sinne fast greifbar stark.
»Wir reden später. Geh und ruh dich ein wenig aus. Ich werde alles tun, um deinen Meister Gorwyn zu finden.« Er nickte ihr zu, als Lenka die Hand auf die Schulter des Kindes legte.
Varcas näherte sich den beiden Leichen. Er drehte einen der getöteten Alben herum und zog das Schwert, das jener auf seinen Rücken geschnallt mit sich geführt hatte. Es war kein Meisterstück der albischen Schmiedekunst und die Kerben auf der Klinge erzählten von vielen Kämpfen, die damit schon bestritten worden war.
Es würde reichen. Für jetzt. Für ihn. Für den Anfang.
Rodric
7
Es war eine seltsame Sache mit dem Töten, stellte Rodric fest, als er, die Beine lässig ausgestreckt, auf den Stufen zum Thron saß, einen fast geleerten Weinpokal in seiner Hand.
Der erste Mann, der je den Tod durch Rodrics Hand gefunden hatte, war einer von Lord Vaharéls Schergen gewesen; ein unbedeutender Alb, der die anderen Handlanger an Grausamkeit weder übertroffen noch unterboten hatte. Es war ein halbes Versehen gewesen, eine Situation, die Rodric selbst vielleicht als Fehler bezeichnet hätte, wenn er damals irgendeinen Funken von Reue in sich gespürt hätte. Doch dieser Mann, an dessen Namen er sich beim besten Willen nicht erinnern konnte, hatte ihm nichts bedeutet. Er sah sein Gesicht nicht, wenn er nachts die Augen schloss, und ihn plagten keine Schuldgefühle.
An die erste Frau, die er getötet hatte, erinnerte er sich besser. Rodric wusste nicht, ob es daran lag, dass sie weiblich – oder dass sie eine Königin gewesen war. Es war schwer gewesen, im ersten Moment, aber dann doch so erschreckend einfach. Rodric konnte nicht mehr sagen, was ihn so schrecklich wütend gemacht hatte – war es die Art gewesen, mit der sie ihn ansah? War es die Selbstverständlichkeit gewesen, mit der sie seine Hand ergriff, inmitten der Gäste von Königin Lamia, um sie zu ihrem eigenen Gesicht zu führen? Er wusste es nicht. Dafür wusste er noch genau, dass die schwarze Mahr ungehindert über seine Fingerspitzen geflossen war. Sie ließ nicht viel übrig von der Wange, an die sie seine Hand gelegt hatte.
Man hatte ihn danach natürlich in Gewahrsam genommen.
Einen Königinnenmörder erwartete nur ein Schicksal – nur der Tod, ein langsamer, konnte eine angemessene Strafe für das Widernatürlichste aller Verbrechen unter Alben sein. Aber so war es nicht gekommen. Stattdessen hatte Königin Lamia ihn auspeitschen lassen, nicht schlimmer als sonst auch, und ihn wenige Tage später zu sich in den Thronsaal gerufen.
Bei allen verschwimmenden und vagen Erinnerungen war diese gestochen scharf und klar, wenn er sich darauf besann: Eine ihrer Rivalinnen, gefesselt, geknebelt, und der Dolch, den Lamia ihm reichte.
Seitdem hatte der Thronsaal im Kristallpalast viele Hinrichtungen gesehen.
Rodric war an den wenigsten selbst beteiligt gewesen – der Jäger übernahm diese Aufgabe meistens hingebungsvoll.
Aber während Rodric im Dunkel der angebrochenen Nacht beobachtete, wie die Sklaven Holz stapelten, gab es nichts, was er sich hätte sagen können, um seine Beteiligung an dieser Exekution herunterzuspielen.
Bis auf die arbeitenden Diener lag der Kristallpalast noch in einer trügerischen Stille – jedenfalls in diesem Teil des Palastes. In den Gesellschaftsräumen hatte sich der gesamte Adel, der am wichtigsten Hof Shaylas residierte, vor Stunden eingefunden, um zusammen zu speisen und den Vergnügungen zu frönen. Heute Nacht würde Königin Lamia einen neuen Gespielen in ihr Schlafzimmer einladen, einen blonden Lichtalbenjüngling von den Frühlingsinseln, der ihr begeistert wie ein Welpe gefolgt war. Rodric erinnerte sich nicht an seinen Namen, obwohl er sich ihm mit der Arroganz eines jungen Lords vorgestellt hatte.
Rodric warf einen Blick auf den beinahe vollständig errichteten Scheiterhaufen, auf den durch das geöffnete Kristalldach der Halle die Himmelslichter schon die Vorahnung von Flammen zeichneten. In wenigen Stunden würden von der Begeisterung und der Arroganz des Lichtalben nicht mehr viel geblieben sein. Es war sein Vorteil, dass er der zweite oder dritte oder sechste Sohn irgendeiner mittelmäßig bedeutsamen Familie war und Königin Lamia sich deswegen ihm gegenüber mehr zurückhalten würde als gegenüber den bemitleidenswerten Burschen, die nicht von einem Namen oder einem Titel geschützt wurden.
Rodric griff nach dem Kelch, blickte kurz auf seinen Grund und leerte ihn dann mit einem Zug. Er erhob sich und reichte ihn an einen der Sklaven weiter, die begonnen hatten, eilig