Das Zeichen der Erzkönigin. Serena J. Harper

Das Zeichen der Erzkönigin - Serena J. Harper


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an die sie sich zu erinnern glaubte, waren echt gewesen, und würden Amber Hall ausgehöhlt haben wie die Schale einer Nuss. Aber sie war dem Feuer entkommen. Und allem anderen auch.

      Varcas stützte sein Gesicht nachdenklich in seine Hand.

      »Weißt du, Nachtalbenkind, die Königin Lamia hat deine Familie aus politischen Beweggründen angegriffen und euer Zuhause zerstört. Du weißt, dass es in Shayla früher elf große Höfe gab, ja?« Er wartete dieses Mal nicht auf ihre Bestätigung, um weiterzusprechen. »Natürlich existierten kleine Höfe – die von Königinnen mit schwächeren Farben, die sich nur um Dörfer und kleine Bezirke kümmerten. Oftmals war dies gar nicht notwendig, wenn eine starke Heilerin oder Hüterin vor Ort war, die als Elderfrau oder mit einem Eldermann zusammen die Angelegenheiten eines Dorfes regeln konnte. Aber die elf Höfe von Shayla sind … sie sind mehr als nur Regierungszentren.«

      »Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was Ihr mir sagen wollt«, erwiderte Lyraine ein wenig unbehaglich.

      Varcas’ Blick ruhte weiterhin auf ihrem Gesicht.

      »Lass es mich so erklären: Ein Hof kann überall entstehen und eine Königin braucht kein Schloss und kein Anwesen, um zu herrschen. Aber diese Provinz, in der wir leben, wurde seit sehr langer Zeit traditionell von einem der elf Höfe regiert und zwar mit dem Sitz im Amber Hall. Du hast aber einen Anspruch auf die Festung, die Königin Lamia für sich fordert.«

      Ihr wurde schlagartig ganz kalt.

      »Aber Königin Lamia lebt doch im Kristallpalast«, sagte sie. Ihre Schultern sanken herab. Nicht nur, dass Amber Hall zerstört worden war, jetzt wollte diese … diese Frau sich in IHREM Zuhause einnisten? »Wieso will sie in Amber Hall einziehen?«, fügte Lyraine hinzu. Konnte der mächtige Seher das nicht verhindern?

      »Ich denke nicht, dass sie dort einziehen will, Königinnentochter«, antwortete Varcas. Er erhob sich von seinem Stuhl, mit einem Mal sichtbar unruhig. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und wanderte ein paar Schritte durch den Raum. Lyraine sah ihm zu, wie er bis zum Fenster ging und die Vorhänge aus grobem Leinen zur Seite zog, um hinauszuspähen. Bald würden die Himmelslichter aufsteigen – im sich verdunkelnden Osten zeigte sich schon der Hauch des aufsteigenden, tiefen Grüns.

      »Königin Lamias Macht beruht darauf, dass es ihr gelungen ist, viele Personen für sich zu gewinnen – und jene zu beseitigen, die sie nicht für sich einnehmen konnte. Als die Anzahl ihrer Anhänger groß genug wurde, haben sogar viele von denen, die sie nicht unterstützen wollten, aus Furcht die Seiten gewechselt.« Der Seher drehte sich um. Langsam strich er sich über den Bart, während er sich an das Fensterbrett lehnte. »Sie wird eine ihr treu ergebene Königin in Amber Hall einsetzen und den Hof neu gründen lassen. Eine Überlebende aus der vorher herrschenden Familie kann sie sich nicht leisten.«

      Seine Worte kamen auf sie zu wie ein kalter Luftzug. Die Erkenntnis, was das zu bedeuten hatte, verdichtete sich mehr und mehr.

      »Meister Varcas«, Lyraine erhob sich ebenfalls, »was wird Königin Lamia mit mir machen, wenn sie mich findet?«

      Das Schweigen, das sich in dem Raum ausbreitete, verwandelte Lyraines Magen zu Stein. Auf einmal fühlten sich ihre Arme und Beine schwer an, ihr Kopf ganz leicht.

      Der Seher löste sich von seinem Platz am Fenster. Sie wich nicht vor ihm zurück, als er näher kam. Sehr vorsichtig und langsam legte er eine Hand auf ihre Schulter.

      »Ich weiß es nicht«, antwortete er leise. »Aber wir müssen davon ausgehen, dass es nichts Gutes wäre.« Mitgefühl trat in seinen Blick. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie schwer es sein muss, nicht mehr nach Hause zurückkehren zu können.«

      Wie bei ihrer Begegnung draußen im Dorf ging er wieder in die Hocke.

      »Hast du noch Familienmitglieder? Jemand, der nicht in Amber Hall mit euch lebte, zu dem du gehen könntest?«, fragte er.

      Lyraine schüttelte den Kopf. »Ich habe zwei Onkel. Sir Alaric und Sir Avallan. Sie sind die Brüder meiner Mutter. Onkel Alaric ist ihr Schild. Er war es, meine ich.«

      »Und Sir Avallan?«, hakte der Seher nach.

      »Er war einer der Herolde. Sie lebten beide auf Amber Hall.« Lyraine rieb ihre klammen Finger. »Sonst gibt es niemanden mehr.«

      Niemanden. Jeder, der mit ihr das Blut geteilt hatte, war tot. Ihre Mutter, die Königin von Amber Hall, die es vermochte, bei jedem ehrfurchtsgebietend wie eine Löwin zu sein, aber im nächsten Moment die Maske der Politik vom Gesicht nahm, und einfach ihre Mama war. Ihr Vater, der nicht nur der Gefährte der Königin gewesen war, sondern auch ihr Ehemann, der mächtigste Mann der Provinz, der Alatans Schwert getragen hatte, der ihr nie wieder einen Kuss auf den Scheitel geben würde. Und mit ihnen der ganze Hof, Bron Nychester, Kay Hollow, Rogan und Brandon Dusk, ihr Onkel Avallan, Resemir Redwyne und Jonar Ironbrace. Selbst vom Königinnentrigon war nur der Truchsess geblieben, nur Meister Gorwyn.

      Und obwohl sie verstand, dass es genau so sein musste – dass alle diese Männer tot waren, mitsamt der Köchin, den Burschen, die sich um die Pferde kümmerten, den Mädchen, die die Zimmer sauber hielten – obwohl sie die Leichen gesehen hatte, als Gorwyn sie hinausgetragen hatte, war sie sich für einen Moment völlig sicher, dass im nächsten Moment einer von ihnen in der Tür stehen und ihr sagen würde, dass alles eben doch nur ein schrecklicher Traum gewesen war.

      Und als hätte sie selbst prophetische Fähigkeiten, lenkte eine Bewegung im Türrahmen ihre Aufmerksamkeit vom Seher weg, aber es war nur die Heilerin.

      Nach einem kurzen Blick auf den Patienten wandte sie sich an Lyraine.

      »Du solltest jetzt versuchen, dich ein wenig auszuruhen«, meinte Lenka.

      Intuitiv wollte Lyraine protestieren, doch kein Laut kam ihr über die Lippen. Sie war müde, und sie wollte schlafen. Wenn sie schlief, dann musste sie nicht darüber nachdenken, dass die Wahrheit des Verlustes für den Rest ihres Lebens, wie kurz oder lang er auch sein möge, in ihr bestehen bleiben würde.

      »Das ist eine gute Idee«, stimmte Varcas zu, doch er veränderte seine Position nicht. Lyraines Augen fanden die seinen. »Ich verspreche dir, ich werde mir etwas einfallen lassen.« Er sprach leise, vertraulich, obwohl die Albensinne der Heilerin sicher gut genug waren, um das Flüstern zu verstehen.

      Varcas streckte die Hand aus, und ein weiteres Mal sah Lyraine sie an. Schneller, als sie darüber nachdenken konnte, legte sie ihre Hand in seine. Seine Haut war warm und angenehm, und ihre Hand verschwand fast völlig in seiner.

      »Du hast mein Wort darauf«, fügte er hinzu, ihre Hand leicht drückend, bevor er sie entließ und sie sich der Heilerin näherte.

      »Meister Gorwyn …« Sie hatte ihn beinahe vergessen, obwohl sie mit ihm in einem Raum war!

      »Ich werde bei ihm bleiben«, versprach Varcas. »Und wenn du dich ausgeschlafen hast, ist er vielleicht auch wach.«

      »Na komm«, sagte Lenka behutsam, doch die Hand, die sie auf Lyraines Rücken legte, ließ wenig Widerspruch zu. Aber etwas hielt sie zurück. Sie zögerte, obwohl sie ihre Entscheidung längst getroffen hatte.

      »Meister Varcas.« Sie wandte sich noch einmal zu ihm um. »Mein Name ist Lyraine.«

      11

      Der Thronsaal.

      Die warme Hand an seiner Wange.

      Der Schmerz.

      Die Scherbe.

      Es war ein stolzer Tag.

      Vielleicht der glücklichste in seinem ganzen bisherigen Leben. Er und die anderen gleichaltrigen Jungen hatten die Initiation an Beltâne hinter sich gebracht, das Blut war geflossen, und seine Rún hatte sich vervollständigt. Alatans Schwert, das Zeichen der Krieger, glänzte schwarz auf seinem Unterarm.

      Es war der erste warme Tag nach einem langen Winter, aber im Kristallpalast war es dennoch kühl. Er trat mit vor Stolz geschwellter Brust ein und


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