Das gefälschte Testament und andere Mordfälle aus Mitteldeutschland. Griseldis Wenner
Auf dem Wege zum Bahnhof erblickt er zufällig auf der anderen Straßenseite Hannelore. Er wagt es zunächst nicht, sie anzusprechen. Als sie ihn bemerkt, steuert sie jedoch unverdrossen auf ihn zu. Schon ihre Art zu gehen zeigt ihm, dass sie nicht mehr ganz nüchtern ist. Der Alkohol lässt ihre Augen matt glänzen. Sie lächelt den Gatten freundlich an: »Gehst du mit mir einen trinken?«
Sofort schlägt Michael sein Vorhaben, nach Meerane zu fahren, in den Wind, beginnt ein Gespräch über die Widrigkeiten seines Lebens in Trennung, fragt, was er tun müsse, um sie wieder für sich zu gewinnen, und gibt unmissverständlich zu erkennen, dass sein Verlangen nach ihr übermächtig sei.
»Leih mir zwanzig Mark«, fordert sie. »Montag gibt’s erst wieder Lohn, dann kriegst du sie zurück!«
Michaels Gesicht zeigt herbe Enttäuschung, was ihr nicht entgeht, denn sie korrigiert ihre Forderung mit einer Offenheit, die ihn verblüfft: »Die alte Thieme ist bis nächsten Monat in Bremen, besucht ihre Kinder. Kauf ’ne Pulle Klaren und wir gehen zu mir. Dann kannst du mich ficken.«
Dieses verlockende Angebot will er sich keinesfalls entgehen lassen. Doch Hannelores Untermieterbude, der Ort, an dem sie sich mit ihrem Liebhaber verlustiert, ist ihm verhasst. Er will ins vertraute eheliche Schlafzimmer. Deshalb schwindelt er: »Ich hab nicht so viel bei mir. Komm mit nach Hause, du kriegst das Geld.«
Das Paar trottet in scheinbarer Eintracht in Richtung der ehelichen Wohnung. Dort angekommen, sind sie sich über den absonderlichen Deal schnell einig: eine kleine Flasche Apfel-Korn und fünf Mark gegen einen Geschlechtsverkehr. Michael wird derart von seiner Begierde beherrscht, dass er Hannelore schnell zur Sache drängt. Als er die Flasche aus dem Schrank hervorholt und das Geld überreicht, stellt sie leidenschaftslos ihren Körper zur Verfügung. Michael macht sich über sie her, schnell ist alles vorbei. Hannelore bringt den Gatten sofort wieder auf Distanz, erkennt aber auch, dass der potente Mann durchaus zu einem wollüstigen Marathon fähig wäre. Während sie ihr Haar ordnet und das Kleid richtet, stellt sie zu seiner großen Freude in Aussicht, am Abend wiederzukommen. »Was lässt du dafür springen?« Michael muss nicht lange überlegen. »Zehn Mark und ’ne Pulle«, ist seine spontane Antwort.
Gegen 19.30 Uhr ist sie wieder zur Stelle. Sie trägt ein knallrotes Minikleid, das die Konturen ihres molligen Körpers unterstreicht. Der aufreizend herbe Duft ihres Parfüms kaschiert die Alkoholfahne. Michaels Blut gerät in Wallung. Er präsentiert seiner Frau zwei Flaschen »Nordhäuser Doppelkorn«, von denen eine flugs in ihrem Kunstlederbeutel verschwindet. Aus der anderen gießt er zwei Gläser randvoll und prostet ihr auffordernd zu. Er will sich Zeit nehmen, braucht ein erotisches Vorspiel, glaubt insgeheim, auf diese Weise auch Hannelore in Leidenschaft zu versetzen.
Und während beide auf dem Sofa sitzend die Flasche leeren, lenkt Michael das Gespräch immer wieder auf eine Versöhnung, appelliert an ihr Gewissen, will die Gründe wissen, warum sie ihn ablehnt und das Scheidungsbegehren nicht aufgibt. Sein larmoyantes Gebaren macht Hannelore nur noch abweisender und kälter. Ihr wiederholtes schroffes »Nein« versetzt ihn schließlich in Zorn. Mit einem Mal ist ihm nämlich die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen bewusst geworden: Er hat sie verloren. Die Enttäuschung versetzt ihn in Rage. Er brüllt seine ganze Wut über die verkorkste Ehe und ihre Trinksucht heraus und überschüttet Hannelore mit Vorwürfen. Sein Gebrüll reizt jedoch auch sie. Unmissverständlich donnert sie ihm entgegen: »Lass den Scheiß! Ich bereue jede Minute mit dir, und du willst einfach nicht wahrhaben, dass es aus ist. Begreife endlich, ich liebe einen anderen!«
Sie erhebt sich grollend und will die Wohnung verlassen. Michael ist außer sich: Wenn Hannelore jetzt geht, ist er wieder allein in seinem kalten, leeren Heim. Sie hingegen vergnügt sich bald wieder in den Armen eines anderen. Nein, das verkraftet er nicht. In seinem Gehirn toben wirre Überlegungen, bis er zu einem Entschluss kommt, furchtbar und mit normalem Menschenverstand nicht nachvollziehbar: »Wenn ich sie schon nicht kriege, soll sie der andere auch nicht haben!«
Später vor Gericht wird er diesen Satz, der wie eine schwache Rechtfertigung anmutet, mehrmals wiederholen. Wie ferngesteuert ergreift er die leere Schnapsflasche. Noch ehe Hannelore die Gefahr erkennt, trifft ein wuchtiger Hieb ihren Schädel. Ohne einen Laut von sich zu geben stürzt sie zu Boden. Augenblicklich schwinden ihr die Sinne. Michael beugt sich über sie, die Flasche, die den Schlag unversehrt überstanden hat, in der Hand. Aus einer Platzwunde am Schädel sieht er etwas Blut herausquellen, das in ihrem blonden Haar versickert. Reglos liegt sie zu seinen Füßen. Nur ein kaum wahrnehmbares Röcheln verrät, dass sie nicht tot ist. Sonst ist Stille. Seine Wut verfliegt im Nu. Neue, absonderliche Gedanken schwirren durch sein Hirn: Jetzt ist sie mein! Jetzt kann ich sie haben!
Michael eilt in die Küche, ergreift ein Messer, um ihr den Hals aufzuschlitzen. Jetzt ist er ganz dicht bei ihr, Körper an Körper, so wie er es sich immer gewünscht hat. Ihr Leben ist in seinen Händen. Dann sticht er zu. Zu seiner Verwunderung tritt verhältnismäßig wenig Blut aus der klaffenden Wunde. Dafür vernimmt er ein stoßweises keuchendes Gurgeln, das bei jedem Atemzug der Bewusstlosen die in die Wunde eintretende Luft verursacht. Nach einigen Minuten ist es vorbei. Er kann nicht wissen, dass Luft in Hannelores Blutgefäße drang und das Herz schnell zum Erlahmen brachte. Michael erhebt sich.
Seine sexuelle Erregung ist plötzlich abgeklungen und wird durch ein umfassendes Wohlbehagen ersetzt, ausgelöst durch das Gefühl des Sieges. Das Gefühl ist so überwältigend, dass es weder Angst vor Entdeckung noch Schuldgefühle aufkommen lässt. Michael will es genießen, die uneingeschränkte Macht über die Frau auszuüben, auf die er so lange verzichten musste. Dass sie tot ist, erscheint ihm dabei nebensächlich. Überlegungen zur Beseitigung ihres Leichnams und aller Spuren unterdrückt er, verschiebt sie auf einen späteren Zeitpunkt. Sie sollen seinen Siegesrausch nicht stören.
Bei leiser, anheimelnder Radiomusik entkleidet er die tote Frau. Der Anblick ihrer Pobacken mobilisiert erneut das Gefühl der Macht. Die Erregung ist übermächtig. Doch wie kann er seine Lust befriedigen? Vor einem regelrechten Geschlechtsverkehr mit der Toten schreckt er zurück. So liegt er länger als eine Stunde dicht bei der Toten, liebkost den noch warmen Körper, insbesondere die Gesäßpartie. Es ist ein makabrer Vorgang, absurd und zugleich zärtlich. Der Mörder sucht die absolute Nähe zu seinem Opfer.
So verrinnt die Zeit und mit ihr das bisherige Wohlbefinden. Schließlich packt ihn doch die Angst vor Entdeckung seiner Tat. Eines ist gewiss, er muss sein Verbrechen vertuschen. Er ist zuversichtlich, ungeschoren davonzukommen, wenn er es richtig anstellt. Er will die Tote zerstückeln und die Teile im Glauchauer Stausee versenken. Dazu holt er sich aus dem Arsenal seiner Werkzeuge eine Tischlersäge. Bevor er sein schauerliches Werk beginnt, wendet er die rücklings auf dem Wohnzimmerfußboden liegende Tote auf den Bauch, um die Säge in der Mitte der Wirbelsäule ansetzen zu können. Doch dann hält er inne: Erneut versetzt ihn der Anblick des üppigen Pos in lüsterne Erregung. Mit teuflischer Lust schneidet er mit dem Küchenmesser zwei große Stücke aus dem Gesäß, tranchiert sie säuberlich, legt das Fleisch in einen großen Tiegel, deckt ihn sorgfältig ab und deponiert das Gefäß in der kühlen Speisekammer. »Ich wollte mich später wieder daran erregen«, gibt er in der späteren polizeilichen Vernehmung an.
Ins Wohnzimmer zurückgekehrt zersägt Michael die Leiche seiner Frau in zwei Teile, umwickelt diese mit Plastikfolie und verpackt sie in alte Kohlensäcke. Den Sack mit dem Torso des Oberkörpers zwängt er in einen Koffer und stellt diesen im Schlafzimmer ab, um ihn bei nächster Gelegenheit im Keller zu vergraben. Den anderen Sack, der sich mühelos auf der Lenkstange seines Fahrrads transportieren lässt, bringt er zum Stausee und versenkt ihn im flachen Uferwasser.
Müde und abgespannt kehrt Michael nach Hause zurück, reinigt den Fußboden des Wohnzimmers und verbrennt Hannelores Sachen. Vorsorglich hat er ihre Hausschlüssel an sich genommen. Gegen drei Uhr sinkt er ermattet in die Kissen, um einige Stunden tief zu schlafen.
Gegen sieben Uhr ist Michael wieder auf den Beinen. Doch seine Bemühungen, im Keller eine Grube auszuheben, scheitern, der harte Kellerboden widersteht den Attacken der Kohlenschaufel. Deshalb bringt er den Koffer mit dem grausigen Inhalt wieder ins Schlafzimmer zurück und setzt die Reinigungsprozedur fort. Kurz vor Mittag beendet er die Spurenbeseitigung. Nun ist er zufrieden.
Wollüstige