Das gefälschte Testament und andere Mordfälle aus Mitteldeutschland. Griseldis Wenner
des Falles für Furor. Zwölf Messerstiche verursachten den Tod des Mr. Samuel Edward Ratchett. Der Unsympath und Mörder hatte unter falscher Identität eine Kabine im Orientexpress gebucht, als das Schicksal ihn ereilte. »Der Pass ist auf den Namen Ratchett ausgestellt worden, der unrichtig ist. In Wirklichkeit hieß der Mann Casetti und war der Urheber einer scheußlichen Kindesentführung in Amerika«, weiß der Detektiv sehr schnell. Jener gemeine Verbrecher hatte die kleine Daisy Armstrong gekidnappt, erpresste daraufhin ihre Eltern, und diese zahlten die verlangte Summe anstandslos. Doch hatte Casetti das Kind schon lange vorher getötet. Die aufmerksame Leserschaft erkannte sofort die Parallelen zum Verbrechen des Jahrhunderts. Das Kidnapping des Lindbergh Babys 1932 hatte aufgrund seiner Kaltblütigkeit und Brutalität entsetzt und sorgte bei Erscheinen des Romans noch immer für Schlagzeilen. Ein Täter war dieser Schreckenstat bislang nicht überführt. Die Familie Lindbergh litt und mit ihr Menschen in aller Welt.
Charles Lindbergh war ein Held, der grenzenlos geliebt wurde. Sein Nimbus ist heute verblasst, doch im Bewusstsein geblieben. Lindbergh hatte das Menschenmögliche gewagt: Sein Leben nicht schonend, setzte er sich am 20. Mai 1927 ins Flugzeug Spirit of St. Louis in New York und landete nach 33½ Sunden ohne Zwischenstopp sicher auf dem Flughafen Paris-Bourget. Begeistert wurde er empfangen. Menschenmassen säumten Straßen, die er im Triumphzug durchfuhr. Kinostars und Staatsmänner gratulierten und ließen sich mit ihm auf Bilder bannen. »Ich war verblüfft, welche Auswirkungen meine erfolgreiche Landung in Frankreich auf die Länder in aller Welt hatte. Mir kam das vor wie ein Streichholz, das ein Freudenfeuer in Brand setzt.«
Lindberghs Familienleben wurde öffentlich: Schöne Frau und schönes Haus und zu allem Glück dazu wird der jungen Familie am 22. Juni 1930 ein Sohn geboren: Charles Lindbergh jr. Die Idylle zerbricht jäh: Am 1. März 1932 sitzt man im Wohnzimmer der Villa Hopewell, als (mindestens) ein unbekannter Täter eine Leiter an die Hauswand lehnt und Charles Lindbergh jr. aus dem Kinderbettchen im ersten Stock entführt. »Wanted! Information as to the whereabouts of Chas. A. Lindbergh, jr.«
Nach Tagen melden sich Erpresser, die Eltern zahlen ohne Diskussion die geforderte hohe Summe. Doch zu aller Schrecken findet man das Baby 72 Tage später, keine zwei Meilen von Hopewell entfernt. Charles jr. war noch am Tag seines Verschwindens ermordet worden. Die Todesursache war aufgrund starker Verwesung nicht mehr festzustellen, »eine Schädelfraktur durch äußerliche Gewalteinwirkung« sei anzunehmen. Diese Familientragödie wird für Agatha Christie Folie des »Mordes im Orientexpress«. Im Roman richten die Hinterbliebenen den Mörder selbst.
Realiter führten die Ermittlungen erst zwei Jahre später zur Verhaftung. Die Kassiererin eines New Yorker Kinos hatte den Schein des Eintrittsgeldes mit den polizeilich gesuchten Nummern verglichen und so den Täter überführt: Bruno Richard Hauptmann. Er war ein Emigrant aus Sachsen, der in der Neuen Welt sein Glück zu finden hoffte. Er leugnete vehement die Tat, doch fanden Kriminalbeamte in seiner Wohnung Holz der Leiter, die an Lindberghs Villa lehnte, und auf dem Küchenbord ein Päckchen Geld. Es war ein Gutteil der Erpressersumme, die Nummern bewiesen es eindeutig. Ein Indizienprozess sprach Bruno Richard Hauptmann schuldig. Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verfahrens hatte es sofort gegeben. Am 3. April 1936 um 20.45 Uhr vollstreckte die Justiz das gefällte Todesurteil.
Bruno Richard Hauptmann wurde am 28. November 1899 in Kamenz geboren, erlernte den Beruf eines Tischlers, diente im I. Weltkrieg als Soldat an der Westfront und wurde mehrmals verwundet. Zunächst fand er eine Anstellung als Fabrikarbeiter in Chemnitz, nach seiner Entlassung aber blieb er wie viele seiner Kameraden in Deutschland arbeitslos. Hauptmann wurde kleinkriminell. Raub, Einbruch und Diebstahl brachten ihm fünf Jahre Gefängnis, vier saß er ab. Als er danach erneut festgenommen wurde, floh er aus der U-Haft. »Beste Grüße an die Polizei« habe auf einem in der Zelle hinterlassenen Zettel gestanden. Dann wollte Bruno Hauptmann raus aus Deutschland. Seine Überfahrt in die Vereinigten Staaten erfolgte illegal, der dritte Versuch mit falschen Papieren gelang. Unter den Immigranten fand er Freunde mit gleichem Schicksal, unter anderem Isidor Fisch und Anna Schöffler aus Markgröningen, Württemberg. Bruno Hauptmann heiratete Anna Schöffler. Er arbeitete als Zimmermann, sie in einer Bäckerei, in der New Yorker Bronx nahmen sie Quartier. Im September 1934 wurde er verhaftet. Doch trotz der Beweise: Bruno Hauptmann leugnete und erzählte seine Version, wie er zu dem Gelde gekommen sei. Er habe für seinen Freund Isidor Fisch dieses Geld nur aufbewahrt. Aber jener Isidor Fisch hatte im Dezember 1932 eine Reise in die alte Heimat angetreten, um seine Eltern zu besuchen, und war am 29. März 1934 in Leipzig an Tuberkulose gestorben. Ihn konnte niemand mehr befragen. »Mein Gott, mein Gott, wo gibt es Gerechtigkeit in der Welt?«, klagte Hauptmann. Seine Memoiren, die er im Gefängnis verfasste, wurden zum Bestseller. Darin heißt es: Ich begegnete »Isidor Fisch zum ersten Mal in Hunters Island. Ich sah ihn mit einem anderen Mann an unserem Badeplatz. Da beide deutsch sprachen, wurden wir bald in eine Unterhaltung verwickelt, wie es auf dem Island üblich ist.« Man traf sich wieder, trank zusammen und erwies sich Gefälligkeiten. »Herr Fisch fragte mich, ob ich Interesse am Pelzhandel hätte. Ich sagte ihm, dass ich darin keine Erfahrungen besitze. Er meinte, dass er gern Effektengeschäfte machte, aber nie selbst gekauft habe. Er fragte mich, ob ich für ihn kaufen wollte. Ich sagte ›Na, na?‹, da ich den Markt nur beobachten und daraus lernen wollte, war ich nicht gewillt, die Verantwortung für die Anlage seines Geldes zu übernehmen. Aber ich sagte, wenn er für mich Pelze kaufen wollte, würde ich ihm gern später helfen. Auf diesen Plan einigten wir uns.« Auf diese Weise kam man ins Geschäft und handelte.
Mit dem Pelzhandel hatte Isidor Fisch Erfahrung. Am 26. Juli 1905 war er als Sohn eines Leipziger Pelzhändlers geboren worden. Ihr Geschäft betrieben die Fischs in der Jahnstraße (heute Industriestraße) 45. Isidors Schwester Hannah verkaufte bei Tobias Braudes Pelze auf der Katharinenstraße. Bruder Pinkus besaß ein eigenes Unternehmen der Branche, Brühl 47, II. Etage. Auch Isidor hatte den Beruf eines Kürschners erlernt. 1925 wanderte er nach Amerika aus. Tuberkulose ließ ihn in die Heimat zurückkehren. Die Hauptmanns gaben für den Freund ein Abschiedsessen. »Es war der letzte Sonnabend, ehe er nach Deutschland reiste. Herr Fisch kam gegen 9 Uhr. Da meine Frau zu der Zeit gerade im Kinderzimmer war, ging ich an die Tür, als er läutete, und ließ ihn ein. Wir gingen am Vorderzimmer vorbei, dessen Tür offen war, in die Küche. Hier gab er mir ein kleines Paket und bat mich es an einem trockenen Ort aufzubewahren. Ich fragte ihn: ›Haben Sie Papiere darin?‹ Ich glaubte, dass er einige Kleinigkeiten vergessen habe, wie Briefe und Fotografien, und dass er diese Dinge in ein kleineres Paket geschnürt habe. Ich entsinne mich nicht mehr genau, wie er sich zu meiner Vermutung äußerte. Wenn er mir gesagt hätte, dass das Paket Geld enthielte, würde ich mich anders verhalten haben. Ich hätte ihn wenigstens gefragt, woher es stamme. Da wir in der Küche waren, legte ich das Paket auf das obere Brett des Küchenschrankes. Wir benutzten dieses Brett selten, da wir dorthin Dinge stellten, die wir nicht häufig brauchten. Dennoch war das Brett ziemlich voll, sodass ich erst Platz für das Paket machen musste. Es ist deshalb leicht erklärlich, dass meine Frau es nicht bemerkte, und selbst wenn sie es gesehen hätte, würde sie nur gedacht haben, es enthielte etwas, was ich nicht mehr brauchte, aber nicht wegwerfen wollte. Die ganze Geschichte mit dem Paket war mir so unwesentlich, dass ich sie bald vergaß.« Doch dann überführt das Päckchen Bruno Hauptmann des Verbrechens des Jahrhunderts.
Die Geschwister Hannah und Pinkus Fisch werden zum Sensationsprozess geladen. Denn Pinkus hatte nach dem Tod des Bruders wegen etwaiger Außenstände bei Bruno Hauptmann angefragt. »Ich schlug drei Wege vor, den Nachlass zu ordnen. Er solle selbst herüberkommen, um alles in die Hand zu nehmen, wobei ich ihm, so gut wie es ginge, helfen würde. Falls sein Geschäft keine längere Abwesenheit von Deutschland zuließe, solle er mir alles Nötige schicken und mir notarielle Vollmacht geben. Oder er würde die ganze Angelegenheit einem Rechtsanwalt übergeben. Von letzterem Vorschlag riet ich ab, weil am Ende nicht viel übrig bleibt, wenn die Sache den Rechtsanwälten übergeben wird.« Quittungen besaß weder Pinkus Fisch in Leipzig, noch hatte Bruno Hauptmann für die Pelzgeschäfte Unterlagen.
»Und so sitze ich hier, zehn Fuß vom elektrischen Stuhl entfernt und wenn nichts getan werden kann, um mir zu helfen, wenn nichts getan werden kann, um jemanden dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen über die Art und Weise, wie die gegen mich verwendeten Beweise beschafft wurden, oder wenn nicht jemand die Wahrheit über jene sagt, die tatsächlich an diesem Verbrechen beteiligt waren und es begangen