Lustige Läufer leben länger - oder zumindest besser. Ulrich Knoll
zudem geistig und körperlich fit. Na bravo, dachte ich mir, wie soll der Mensch das leisten? Vor allem: Wie sollte ich das leisten? Würde ein solches prinzipientreues Leben überhaupt noch Spaß machen?
Bei den meisten Menschen im Saal spürte ich während des Vortrags ein gewisses Unbehagen aufkommen, fühlten sie sich doch anscheinend ob ihrer Unzulänglichkeiten in der Lebensführung ertappt, fast etwas blamiert. Einerseits schienen sie einzusehen, dass sie etwas an ihrem Leben ändern mussten, andererseits sollte das Leben doch wohl Freude bereiten und Essen ebenso, oder nicht? Ein liebes, langes Leben lang sich fordern, beim Laufen herumquälen und im Alltag kasteien, war das wirklich eine solch glänzende Idee? Dr. van Aaken jedenfalls war davon überzeugt und bei seinem Vortrag spürten alle, dass er seine Thesen ernst und ehrlich meinte. Wieso aber saß er im Rollstuhl? Eine Verletzung beim Sport?
Nach dem Vortrag standen die Leute im Katholischen Vereinsheim herum und diskutierten heftig, mit und ohne Dr. van Aaken. Einige Läufer und selbst einige Läufer in spe waren begeistert, andere hegten Zweifel an den strikten Thesen, die der Doktor präsentiert hatte. Richtig lustig, so wie es von den Mitgliedern der Lauftruppe des Dr. Laubmann gerne gesehen wurde, waren die Läufer hier im Saal jedenfalls nicht.
Wieso saß der gute Mann nun wirklich im Rollstuhl? Ein knorriger Läufer konnte mir Auskunft geben und schilderte mir, dass Dr. van Aaken ein schlimmes Schicksal erlitten hatte, das schlimmste, das einen Läufer erwischen konnte. Im Jahre 1972 war er beim abendlichen Laufen von einem Auto umgefahren worden, als er eine Straße überqueren wollte, und es mussten ihm beide Beine amputiert werden. Ein furchtbares Los für jeden Menschen, ein niederschmetterndes für einen Läufer und Lauftrainer. Mir fehlten die Worte. Umso bemerkenswerter war, dass er sich nicht in sein Schicksal ergab, sondern sein Leben meisterte, mit Prothesen wieder Radtraining und Gymnastik absolvierte, Vorträge hielt, junge Sportler coachte, herumreiste und Bücher über Laufen, aerobes Training und gesundes Leben schrieb und publizierte. Alle Achtung vor diesem Mann, auch wenn seine gestrengen Lebensentwürfe und Laufthesen für mich unerreichbar schienen.
Ich kaufte mir eines seiner Bücher. Es hieß „Programmiert für 100 Lebensjahre“, umfasste weit über 300 kleingedruckte Seiten und es war harter Stoff, meiner Meinung nach etwas zu moralinsauer und detailversessen. Dr. van Aaken ließ den Leser spüren, dass dieser keine Ahnung hat, er selbst aber von allen sportlichen, medizinischen, physischen, physiologischen und läuferischen Aspekten eine ganze Menge. Das war einerseits beeindruckend, andererseits nervig, vor allem wenn er sich in uferloses Detailwissen erging. Ich las also über maximale Sauerstoffaufnahme ohne Anwachsen einer initialen Sauerstoffschuld, die Vermeidung der Milchsäurebildung, gesteigerte Fermentaktivität und generell über die Vorteile des lebenslangen Laufens, also seiner Meinung nach über Schutz vor Herzkrankheiten, Prävention von Diabetes, Verringerung des Krebsrisikos, Reduktion des Depressions- und Demenzrisikos, antientzündliche Effekte, Reduzierung des Bauchfetts, Optimierung des Fettstoffwechsels, Anti-Aging-Effekt.
All das sind Dinge, die heute in den Medien omnipräsent sind. Damals, in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, hatte kaum einer von ihnen gehört oder gelesen. Mir als Nichtläufer, aber potenzieller Laufkandidat schienen die Ausführungen durchaus stringent.
Doch der Doktor verzettelte sich im Buch meiner Meinung nach im luftleeren intellektuellen Raum. Er lästerte über sinnloses Mittagessen aller Art und fachsimpelte über die Vermeidung lästiger Darmgase durch gesundes Essen. Menschliche Willensschwäche verachtete er grundsätzlich und er empfahl neben dem täglichen langen Laufen die abendliche Lektüre eines guten Buches oder wissenschaftlichen Werkes oder die Hingabe an die Kunst, vor allem die Musik. Das war natürlich sehr schön gedacht, aber wer war denn hier die Zielgruppe? Menschen im täglichen Rattenrennen gaben sich kaum immer abends noch dem Guten, Wahren, Schönen hin, oder?
Es sollte im Buch noch besser kommen, wie man so schön sagt, also eher schlimmer. Dr. van Aakens fixe Idee war, dass das Körpergewicht unbedingt drastisch reduziert werden musste, wobei er bei mir offene Türen einrannte, denn dieser Meinung war ich schon lange, allerdings erfolglos. Er schreckte nicht davor zurück, konkrete Ratschläge zu geben, wie man am besten abnimmt. Seine Empfehlung einer Einsteigerdiät zu diesem Thema gestaltete sich wie folgt:
Tag 1: 5 Eier in Abständen von 3 Stunden und 1 Liter Apfelsaft
Tag 2: 500 g Magerquark und 1500 g Äpfel
Tag 3: 300 g Reis und Tee
Tag 4: 200 g Kalbsschnitzel und 200 g Vollkornbrot mit 20 g Butter, dazu Tee oder Kaffee
Tag 5: 1 Liter Milch und 1 Liter Fruchtsaft
Tag 6: 200 g Pellkartoffeln, 200 g Vollkornbrot, 20 g Butter, ½ Liter Milch, 100 g Gouda, 250 g Magerquark
Tag 7: 200 g Schweineleber, 200 g Pellkartoffeln, 20 g Butter, 100 g Salat, 100 g Tomaten, ½ Liter Milch, ½ Liter Apfelsaft
Generell verdammte er Kakao, Süßigkeiten und Kuchen. Eier allerdings lobte er über den grünen Klee und empfahl ausdrücklich eine Eierkur.
Dass zu viel Zucker, Süßigkeiten und Alkohol schädlich sind, akzeptierte ich. Das war ja allgemeines Wissen und galt schon ewig. Ansonsten war mir das alles zu pingelig und kleinkariert. Ohne mich.
Eine Überlegung wert war sicherlich seine Abgrenzung des von ihm favorisierten Ausdauertrainings vom bis dahin üblichen und populären Intervalltraining. Denn Intervalltraining bedeutete Ausdauererwerb durch kurze Strecken mit relativ großer Intensität und häufiger Wiederholung, nur kurzen Pausen und damit unvollständiger Erholung. Das von Dr. van Aaken propagierte reine Ausdauertraining überzeugt hingegen durch kontinuierliches Steigern des aeroben Stoffwechsels. Man trainierte also, ohne sonderlich zu schnaufen, immer im Sauerstoffbereich.
Kaum war ich einen Moment lang vom Gelesenen überzeugt, erlitt ich wieder einen Rückschlag. Da hieß es bei der praktischen Anwendung des Lauftrainings zum Beispiel: Empfohlen wird bei Mittel- und Langstrecken ein kontinuierlicher Waldlauf oder Straßenlauf von 10–20 Kilometer in wechselndem Gelände, im Tempo nicht schneller, als dass man sich dabei bequem unterhalten kann.
Fein. 10–20 Kilometer, haha. Ich selbst musste erst einmal einen einzigen Kilometer schaffen und erst danach konnte ich an längere Strecken denken. So waren meine theoretischen Anfänge als künftiger Läufer hin- und hergerissen vom Laubmannschen Ansatz eines freudvollen, gesunden, „lustigen“ Laufens, ohne viele Hintergrundreflexionen und dem mit Theorie überfrachteten Laufen Dr. van Aakens.
Was ich hier formuliere, ist natürlich eine verkürzte und damit ungerechte Darstellung, aber sie entsprach meinem Grundgefühl zum damaligen Zeitpunkt. Die Situation erinnerte mich an meinen Einstieg ins Tennisspielen. Ich hatte zwei Tennistrainer: einen Tschechen und einen Amerikaner. Mit dem Tschechen kam ich praktisch nie zum richtigen Spielen, weil er sich liebend gerne in der Theorie des Spiels erging. Er predigte die hohe Kunst eines ästhetischen Ablauf des Tennisspiels und gab permanent Befehle: „In die Knie, weit ausholen, vorlaufen, richtig durchziehen! So nicht, sondern Schläger vor dem Körper runter, seitlich stehen, dann schwungvoll in den Topspin“ und so weiter. Das mochte alles richtig sein, machte mich aber ganz verrückt, weil immer etwas mit dem Schlag, der Spielanlage und dem Timing nicht stimmte. Der Amerikaner hingegen zeigte mir kurz, wie er sich das Tennisspielen vorstellte und meinte dann: „So, jetzt spiel einfach mal los, lauf und schlag.“ Während wir spielten, korrigierte er kurz und bündig ab und zu die Schläge, learning by doing sozusagen. Das „tschechische“ Spiel war ästhetischer, eleganter, jedoch für mich im Match erfolgloser, weil ich zu viel dachte. Ähnlich war es jetzt beim Laufen: ein wissenschaftlicher und hochkarätig theoretischer Ansatz kollidierte mit dem praktischen Vorschlag, einfach mal loszulaufen und dann zu sehen.
Egal. Jetzt musste ich endlich einen Startpunkt setzen und laufen, nicht nur in Theorie herumschnüffeln. Da ich ja nicht in Fußballschuhen laufen konnte, ging ich in den Keller, um Turnschuhe zu holen. In einem Regal fand ich ein paar steinharte Uraltturnschuhe. Es war nahezu unmöglich, sie anzuziehen, es war vollends unmöglich, darin zu laufen. Meine unsportliche Vergangenheit ließ grüßen.
Ich wusste, dass in meiner Heimatstadt zwischenzeitlich ein kleiner Lauf-Shop am Rande der Innenstadt eröffnet hatte. Eine Premium-Lage war für