Lustige Läufer leben länger - oder zumindest besser. Ulrich Knoll
öfter einmal aus der Stadt hinaus zu irgendwelchen Wanderparkplätzen zu fahren. Dort stellte ich das Auto ab und lief dann einfach auf einem Forstweg vom Auto weg, kehrte nach wenigen Kilometern um und lief zum Auto zurück. Das war zwar für mich eine neue Laufvariante, aber es war nicht unbedingt, was ich mir auf Dauer vorstellte. So einfach von A nach B laufen, also vom Auto zum Beispiel zur Kreuzung mit der faulen Fichte irgendwo im Wald und dann wieder von B zurück zum Auto, war doch etwas eintönig. Die breiten Wege im Forst zogen sich oft schnurstracks kilometerlang dahin. Ich lief, sah dabei ständig diese schier endlosen Geraden vor mir und hatte nicht den Eindruck, dass ich vorankam. Eine Zeitlang hielt ich das durch, dann fing es an, mich zu nerven.
Zwischenzeitlich war ich bestimmte Flurwege mit dem Fahrrad abgefahren, um die Kilometerzahlen zu messen. Ich war schließlich von meinen Platzrunden gewohnt, die Länge meiner Laufwege zu kennen. Aber insbesondere die Rückwege im Forst, also vom erreichten Wendepunkt B zurück nach A zum Parkplatz erwiesen sich zunehmend als öde und langweilige Angelegenheit. Noch dreieinhalb Kilometer, noch drei, noch zwei, noch einer. Genug.
Ich schaute mich in der näheren Umgebung meiner Heimatstadt nach einer richtigen Laufrunde im Gelände um. Die Kriterien dafür legte ich mir zurecht. Sie sollte nicht zu lang sein, nur circa fünf bis sechs Kilometer, bei Bedarf konnte ich sie ja später zweimal laufen. Ich wollte auch nicht irgendwo in einem Park laufen, wo viele andere Fußgänger unterwegs waren, sondern in Ruhe und möglichst ungestört. Offensichtlich entwickelte ich mich doch zum läuferischen Einzelgänger. Die Strecke sollte zudem ein bisschen abwechslungsreich sein, gerne leicht hügelig durch Feld und Wald führen und vor allem nicht zu lange, nervtötende Geraden aufweisen.
Das Glück war mir hold. Ich fand eine wunderbare Rundstrecke in einem Waldgebiet in der Nähe eines Dorfes, nicht allzu weit von meiner Heimatstadt entfernt. In diesem Gebiet war ich früher öfters gewandert oder hatte im Sommer und Herbst Pilze gesammelt. Es war mir vertraut.
Die Landschaft hätte nicht schöner sein können. Der Weg führte hinein in einen Mischwald, ging dann über eine breite Wiese in einem Tal, wo ich mit einem großen Sprung einen Bach überqueren musste, zurück in einen Fichtenwald, leicht bergauf, entlang gewundener Pfade, zu einer Anhöhe, über eine andere, weitläufige Wiese, dann über einen halbhohen Zaun, zurück in den Wald und im Zickzack zurück zum Ausgangspunkt. Das hätte ich mir nicht besser wünschen können. Im Gegensatz zur Platzrunde oder zum Lauf von A nach B und zurück musste ich viel mehr auf das Terrain achten. Überall lauerten nun kleine Hindernisse und Stolperfallen, mal ein Rinnsal, mal Steine, mal Äste, mal tiefe Furchen auf den Wegen, mal der Zaun. Die Gefahr zu fallen war ungleich größer als auf den ordentlichen Bahnen und Wegen. Diese Art von Gelände- oder Crosslauf jedoch gefiel mir auf Anhieb. Ich musste mich mehr darauf konzentrieren, wie ich lief, wohin ich trat und genoss trotzdem die Schönheit der Natur. Die Zeit auf diesem Rundkurs verging dabei auf ebenso abwechslungsreiche wie vergnügliche Weise.
Ich lief diese neue Runde beim ersten Mal extrem langsam, allein schon, um dann bei den nächsten Runden jeweils leicht an Tempo zulegen zu können. Es ist immer psychologisch von Vorteil, wenn man etwas langsam und eher zögerlich beginnt und dann besser und schneller wird, denn auch beim Laufen weiß man kleine Erfolgserlebnisse zu schätzen.
Irgendwie musste es mir gelingen, die genaue Kilometerzahl der Runde auszumessen, auch wenn dieses Ansinnen auf einen gewissen Kontrollwahn hinwies, den ich leistungsmäßig zu entwickeln schien. Einen Schrittzähler oder sonstigen Kilometermesser hatte ich nicht, auf das Ausmessen auf der Wanderkarte allein konnte ich mich nicht richtig verlassen, dafür war der mäandernde Weg in seinen Volten und Kehren zu unübersichtlich und nicht auf dem Papier nachvollziehbar. GPS und Laufstrecken-Apps gab es damals natürlich noch nicht. Also schleppte ich irgendwann mein Fahrrad mit und fuhr die Strecke so gut wie möglich ab. Das war eine schrullige Angelegenheit, denn nicht immer konnte ich fahren, sondern musste das Rad über den Bach tragen, zwischendurch mal im Gelände herum schieben, durch den Matsch zerren, über den Zaun heben und so weiter. Zum Glück sah mich niemand bei diesem Unterfangen, sonst hätte man mich für einen Irren gehalten. Das Endergebnis jedenfalls war 5,6 Kilometer. Gut, das war eine ideale und gleichsam überschaubare Runde, die nun mindestens vier- bis fünfmal in der Woche zu meiner Lieblings-Laufrunde wurde.
Ich war wie versessen darauf, diese „Schwarzenfurther Runde“ – so hatte ich sie nach einem dortigen Anwesen getauft – zu laufen. Besonders herrlich war sie am frühen Morgen. Der Morgennebel lichtete sich, die Luft war rein, die Vögel zwitscherten. Manchmal sah ich Rehe auf einer Lichtung stehen, ab und zu mal Feldhasen, einmal einen Biber beim Bach am Waldrand. Diese Runde war meine Idylle und ich blieb ihr jahrelang treu.
Doch ich genoss nicht nur die Schönheit der Natur, sondern achtete auch auf meine Zeiten. Im Lauf des Sommers wusste ich genau, wie lange ich bis zum Bach, zur ersten Abzweigung, zum Zaun, zur Linde an der Weide und so weiter brauchte. Auf die Sekunde genau. Ich wusste sogar, wo ich an manchen Stellen hintreten musste, wo besser nicht, wo die Gefahr bestand umzuknicken, wo es matschig war, wie ich diese Stellen geschickt umlief und wo ich beschleunigen konnte oder besser etwas mit den Kräften haushalten sollte. Diese Laufrunde war zwischenzeitlich für mich ein zweites Zuhause. Ich war auf sie versessen.
Ab und zu lief ich sie in bewusst langsamer gehaltenem Tempo zweimal und damit war ich tatsächlich bei gut elf Kilometern Laufstrecke angelangt. Elf Kilometer Laufen! Das hätte ich mir noch vor drei Monaten nicht in den kühnsten Träumen vorstellen können. Und doch fand ich selbst diese elf Kilometer niemals als unangenehm. Klar, ich musste mich anstrengen und kam an meine Grenzen. Aber das war ja der Sinn der Sache. Das Gesamterlebnis auf der Strecke, das Erlebnis der Landschaft, der Flow beim Laufen und das endlos gute Gefühl, wenn ich es wieder geschafft hatte, waren unvergleichlich.
Selten sah ich auf meiner Runde andere Menschen, ab und zu kreuzte mal ein Wanderer oder schufteten ein paar Waldarbeiter im Forst. Ich empfand diese Laufrunde also als ein immenses Glück und ertappe ich mich noch heute beim Gedanken, was wohl läuferisch aus mir geworden wäre, hätte ich sie nicht entdeckt und zu meiner Stammstrecke erkoren. Hätte ich das Laufen wirklich so lange durchgehalten? Hätte ich nicht irgendwann resigniert, weil mir die Strecken inmitten von vielen Menschen nicht gefallen hätten oder andere Strecken zu langweilig geworden wären? Wie auch immer: Ich lief meine „Schwarzenfurther Runde“ viele Jahre lang und kann mich nicht erinnern, auch nur ein einziges Mal von ihr angeödet gewesen zu sein.
So verging mein erster Laufsommer. Mein Weg hatte mich vom Sportplatz mit der zu kurzen Aschenbahn über den Sportplatz mit der Tartanbahn zu meiner „Schwarzenfurther Runde“ geführt. Alle drei Örtlichkeiten waren auf ihre Weise und zu ihrer Zeit Glücksfälle für mich gewesen. Nach drei Monaten Laufen war ich mit mir so im Reinen wie kaum jemals zuvor. Das Langlauffieber hatte mich voll erfasst. Wenn ich mal zwei oder drei Tage nicht lief, was sehr selten vorkam, wurde ich quengelig und fühlte mich innerlich unausgeglichen.
Meinen sonstigen Lebensstil änderte ich keineswegs. Ich rauchte weiterhin meine filterlosen, stinkenden französischen Zigaretten, trank lieber ein Glas Rotwein oder ein Bier zu viel als zu wenig und aß, was mir schmeckte. Das war aus heutiger, gesundheitsorientierter Perspektive sicherlich unvernünftig, mir aber völlig egal. Die gestrengen Ansichten des Laufpapstes Dr. van Aaken schob ich ebenfalls einfach beiseite. Das mag ein naives und dummes Verhalten gewesen sein, aber ich sah damals keineswegs ein, mich zu kasteien und auf die kulinarischen Annehmlichkeiten des Lebens zu verzichten. Wozu auch? Ich lief und lief und fühlte mich fit. Das war für mich entscheidend, esoterische Theorien von Dr. van Aaken hin oder her.
Hin und wieder stellte ich mir die Frage, ob ich denn ein richtiger Läufer war. In gewisser Hinsicht schon, dachte ich mir, denn ich lief fast täglich und im Vergleich zum Normalbürger, der sich nicht sportlich betätigte, auch längere Strecken. Andererseits eher nein, denn auf noch umfangreichere Strecken hatte ich keine Lust. Das wollte ich entweder für später einmal aufheben oder gar darauf verzichten. Den Sprung vom Couch-Potato zum moderaten Ausdauerläufer hatte ich jedenfalls geschafft. Wenn ich ehrlich bin, gab es mir auch ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich vielen meiner Arbeitskollegen oder Bekannten jederzeit hätte davonlaufen können. Dafür gab es zwar zu keiner Zeit einen Grund, aber so kindisch der pure Gedanke auch klingt, er gefiel mir damals ganz besonders. Offensichtlich hatte das Laufen