Das einzig wahre Rheinische Derby. Heinz-Georg Breuer
Vom Irrsinn der Fans und Irrglauben der Funktionäre
X. Bankettfürst, Schlossherr, Wanderkönig und Graf Zahl
Kremer und die Keeper Keller, Schmadtke, Manglitz
XI. Was der Bap zur Mutter aller Derbys sagt
Kölsch-Rocker Wolfgang Niedecken und seine Toleranz
Ein Fanclub zu Ehren eines Jahrhundertspiels
Epilog: Plädoyer für ein Stückchen Freiheit
Gastbeitrag von Sarah Peters
Alle 123 Derbys auf einen Blick
Prolog: Weiße Rosen und Ferreros Küsschen
„Niemals geht man so ganz“, singt die unvergessene kölsche Volksschauspielerin Trude Herr 1987 zusammen mit Wolfgang Niedecken und Tommy Engel. „Irgendwas von mir bleibt hier, es hat seinen Platz immer bei dir.“
Wer wüsste das besser als der 1. FC Köln, der wieder einmal zurück im Oberhaus des deutschen Fußballs ist? Und wer wüsste es besser als Borussia Mönchengladbach, die langjährige Konkurrenz vom Niederrhein? Auch wenn sich die Hartgesottenen unter den gegnerischen „Fans“ mit Dachlatten und Eisenstangen auf den Schädel hauen und längst die Grenze des gesellschaftlich Tolerierbaren erreicht haben: Man vermisst sich, wenn einer gerade mal weg ist in der Zweiten Liga. Geradezu komplementär. Und das, obwohl die Fußball-Landkarte im Westen randvoll ist. Sieben Klubs aus Nordrhein-Westfalen tummeln sich in der Saison 2019/20 in der höchsten deutschen Spielklasse.
Sonntag, 29. Oktober 1961. Meine frühkindliche Fußballprägung besorgt Karl-Heinz Thielen. Der Rechtsaußen des FC trifft viermal nacheinander im Oberligaspiel bei Gastgeber Borussia im Rheydter Grenzlandstadion vor 28.000 Zuschauern. In der Nordkurve, die tatsächlich noch eine Kurve ist, stehe ich, acht Jahre alt, von elterlichen Bekannten mitgenommen. Am Ende heißt es 1:6. Die Bekannten liefern mich wieder zu Hause ab. Im Radio dudelt der deutsche Nummer-1-Hit „Weiße Rosen aus Athen“ der Griechin Nana Mouskouri. Es soll noch 20 Jahre dauern, bis in Mönchengladbach das erste griechische Restaurant eröffnet. Aber das interessiert mich damals noch nicht. Auch nicht, dass Ministerpräsident Konstandinos Karamanlis an diesem Tag die absolute Mehrheit bei den griechischen Parlamentswahlen erringt.
Samstag, 25. Februar 1978. Während meines Studiums bin ich einige Jahre Wahl-Kölner und besuche die Bundesliga-Heimspiele der Geißböcke gegen die Fohlen. Beim Fußmarsch nach Müngersdorf weist mich ein ortskundiger Kommilitone im Stadtteil Braunsfeld auf eine Kreuzung hin. An der Ecke Friedrich-Schmidt-Straße/Vincent-Statz-Straße wurde ein halbes Jahr vorher Arbeitgeber-Präsident Hanns Martin Schleyer von einem Kommando der Roten Armee Fraktion (RAF) entführt, vier seiner Begleiter wurden erschossen. Die Erinnerung an den „Deutschen Herbst“ beschäftigt mich noch im Stadion, in dem 60.000 sind. Allan Simonsen bringt die Fohlen in Führung, Heinz Flohe gleicht kurz vor Schluss aus. Beim Verlassen des Stadions ertönt Musik: „We are the champions“. Kurz zuvor ist der Queen-Titel auf den deutschen Markt gekommen. Freddie Mercury hat Recht: Queen springt auf Eins und drei Monate später ist der FC Meister.
14. Februar 2015. Karnevalssamstag. Zu siebt mit Journalisten-Kollegen aus meiner Wahlheimat Goslar nach Mönchengladbach. Nach fünf Stunden und 400 Kilometern Autofahrt mit Stau satt erreichen wir das gebuchte Hotel an der Speicker Straße. Einchecken. Die Frauen gehen shoppen, die Männer entern den Park & Ride zum Borussia-Park: Bundesligaspiel gegen den 1. FC Köln. 54.000 Zuschauer. Brechend voller Bus, elend lange Fahrt. Einen Kilometer vor dem Stadion stoppt der Fahrer abrupt: „Aussteigen, ich komm nicht mehr weiter!“ Den Rest zu Fuß. „Tempo, es fängt gleich an!“ Ich bin mit 60 der Älteste, die Pumpe rast, die Lunge pfeift, die Waden schmerzen. Kurz nach halb Vier sind wir auf der Osttribüne. Am Ende köpft Granit Xhaka Borussias 1:0. Es folgt der Platzsturm der Kölner Malermeister – Jagdszenen am Niederrhein. Später noch zum Biergarten hinter der Nord. Aus einer Box dringt der Chart-Stürmer von Unheilig: „Zeit zu gehen“. Genau, zurück ins Hotel. Auf dem Zimmer meldet der Flachbild-Fernseher an der Wand, dass Michele Ferrero, Erfinder des gleichnamigen Küsschens, mit 89 Jahren verstorben ist.
Mehr als fünf Jahrzehnte decken diese drei Episoden ab. Kein Fußballspiel elektrisiert den Fohlen-Anhänger wie den FC-Fan damals wie heute mehr als dieses Derby. Es wurde als offizielle Pflichtpartie bisher 123 Mal zwischen 1950 und 2019 ausgetragen – öfter als jede andere Begegnung im Rheinland. Die nächste steht im Februar 2020 an.
123 Spiele in fast 70 Jahren oder auch „Hacke, Spitze, eins, zwei, drei“ – von Polsters Tor mit dem Allerwertesten im ersten Kölner Abstiegsjahr bis hin zu Netzers abgerutschtem Spannschuss im Jahrhundert-Pokalfinale. Doch wie kam es zum „Rheinischen Derby“? Die folgende Spurensuche ist in die Abschnitte Theorie (A), Praxis (B) und Statistik (C) unterteilt, die alle in sich abgeschlossen sind. Wer als Leser gleich aufs Spielfeld möchte, wechselt sich erst zur Halbzeit beim 6. Kapitel ein. Zahlen-Freaks gehen zunächst ganz ans Ende ins Elfmeterschießen.
„The derby is always special“: Jung-Fohlen Lothar Matthäus in den Achtzigern mit dem Buchautor. Foto: Busch
I. Pferderennen oder Fußball am Wasser?
Sprachforscher sind unsicher beim Derby-Begriff
Borussia Mönchengladbach – 1. FC Köln. Für die Anhänger die „Mutter aller Derbys“. Fohlen gegen Geißböcke. Bockige Ziegenmänner, deren auf „Hennes“ (Weisweiler) getauftes Maskottchen an Karneval 1950 als Zirkus-Geschenk seinen FC-Stall in Müngersdorf bezieht, fünf Kilometer weg vom Rhein. Übermütige Jungpferde, ab 1965 mit Borussias Bundesliga-Aufstieg unter dem Leitfohlen „Jünter“ (Netzer) auf dem magere 61 Meter hohen Bökelberg grasend. Doch was hat das mit Derby zu tun, ist es nicht eher ein Tier-Festival? Gemach, erst mal schauen, woher das Wort „Derby“ sprachhistorisch kommt und was es überhaupt bedeutet.
Einmal ist es belegt mit der Zuchtprüfung für dreijährige Vollbluthengste, die Edward Smith Stanley im Jahr 1780 als 12. Earl of Derby in England einführt („Epsom Derby“). Die Namensgebung nach dem Titel des Grafen wird durch einen Münzwurf ermittelt. Als „eine der großen Legenden des Galopprennsports“ bezeichnet der Handicapper Harald Siemen heute diesen Münzwurf, der einst entschieden habe, ob ein neues Pferderennen den Namen Derby oder Bunbury tragen sollte. Der Wurf erfolgt 1779 in Derbys Haus bei Epsom, als Sir Charles Bunbury bei der Siegerehrung nach einem Stutenrennen vorschlägt, eine ähnliche Prüfung auch für Hengste zu schaffen. Siemen: „Es ist geradezu absurd sich vorzustellen, die Münze wäre anders gefallen und nicht nur das berühmteste Pferderennen der Welt hieße heute ‚Bunbury‘, sondern auch alle anderen Ereignisse, die sich den Namen ‚Derby‘ angeeignet haben, um ihnen einen besonderen Klang zu geben.“
So weit diese Theorie zur Namensgebung. Eine andere basiert