Das einzig wahre Rheinische Derby. Heinz-Georg Breuer
sind in der Oberliga West neben den beiden weiterhin Fortuna Düsseldorf, Bayer Leverkusen, Alemannia Aachen, der Meidericher SV, der Rheydter Spielverein und Preußen Dellbrück versammelt. Von späteren Bundesligisten fehlen nur Rot-Weiß Oberhausen, 1951 aus der Oberliga abgestiegen, Fortuna Köln, 1952 aus der 2. Liga West abgestiegen, und Bayer 05 Uerdingen, das erst im Jahr 1953 mit den Werkssportabteilungen des Chemie-Konzerns fusioniert.
Eine Rarität schaffen die Kölner allein: Im Jahr 1983 spielen der FC und Fortuna Köln das bisher einzige Stadtduell in einem DFB-Pokalendspiel (1:0). Wo? Im Müngersdorfer Stadion.
Die Nationalspieler Helmut Rahn (l.) und Albert Brülls beim Derby an Karneval 1960 in der „Kull“. Foto: Imago/Krschak
II. Erklärungsversuche von Böll bis Berlusconi
Derbys in aller Welt sind kein Muster für das Rheinland
Das empirische Derby-Loch scheint sich herumgesprochen zu haben. Vermehrt finden sich Master- oder Diplom-Arbeiten zumindest punktuell zum Thema. Ein Beispiel ist 2011 die Diplom-Arbeit von Mirko Twardy (Universität Bonn) zum Einfluss eines Bundesligisten auf regionale Identität am Beispiel von Bayer Leverkusen (auch in Abgrenzung vom 1. FC Köln). Außerhalb der Wissenschaft versucht die Plattform „footballderbies.com“ einen auf dem Schweizer Koller aufbauenden Ansatz. Die englischsprachige Website unterteilt in „City Derbies“, „Local Derbies“ und „Rivalries“, also gewachsene Rivalitäten.
Die räumliche Nähe funktioniert wie gesagt nur bedingt. So kann man damit allein nicht erklären, warum etwa Gladbach gegen Köln (46 km Entfernung Luftlinie, 60 km über die Straße) so viel mehr Derby-Charakter beigemessen wird als Duisburg gegen Schalke (25 km). Doch wenn gar die Paarung HSV – Bayern ein „Nord-Süd-Derby“ ist, wie man oft genug in den Medien lesen und hören kann, dann hat das bei 600 Kilometern Entfernung zwischen den Klubs weder mit lokal noch mit regional etwas zu tun.
Auch wenn ein Kilometer ein Kilometer ist und eine Meile eine Meile bleibt – das Raummaß wirkt rund um den Erdball unterschiedlich. Dens Park und Tannadice Park, die Stadien der schottischen Premiership-Klubs FC Dundee und Dundee United, trennen 300 Meter Luftlinie, über die Straße sind es 700. Eindeutig, auch weil es keine Phrase, sondern im Wortsinne ein Duell um die Position des Platzhirschs ist: Derby! Die Spielstätten des VfL Osnabrück und der Sportfreunde Lotte sind auch nur zehn Kilometer voneinander entfernt, liegen aber in zwei Bundesländern – Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Derby? Bei ungleicher sportlicher Historie wohl fragwürdig. Eventuell, wenn man sinnfrei berücksichtigt, dass seit 1976 Osnabrück Partnerstadt des englischen Derby ist …
Bleibt die Rivalität, die sich unterschiedlich ausbilden kann. Naheliegende Begründung im Wortsinne ist nach wie vor die direkte Nachbarschaft mit der Frage, wer „Herr im eigenen Hause“ ist. Das ist seit 2010 mit der „Psychologie der Rivalität“ der US-Professoren Gavin J. Kilduff, Hillary A. Elfenbein und Barry M. Staw die erforschte Faktenlage: „Konkret argumentieren wir, dass die Beziehungen zwischen Wettbewerbern, die durch ihre Nähe, Attribute und frühere Interaktionen bestimmt werden, die subjektive Intensität der Rivalität zwischen ihnen beeinflussen.“
Ein paar klassische Fallgruppen der Rivalität gibt es schon noch über die Nachbarschaft hinaus. Sie können sich auch untereinander mischen, doch scheinen sie alle nicht sonderlich tauglich, das „Rheinische Derby“ zu erklären. Das wird deutlich bei den Ausflügen in die Welt der Derbys, die am Ende immer wieder ins Rheinland zurückkehren.
Soziale/wirtschaftliche Hintergründe: Holzschnittartig auf den Gegensatz „arm – reich“ reduziert, haben sich Derbys auf dem Nährboden ökonomischer Bedingungen entwickelt. Das brutalste, der „Superclasico“, findet in Buenos Aires statt und hat bereits Todesopfer in Argentinien gefordert: das wohlhabende River Plate gegen die armen Boca Juniors, Heimatverein Maradonas. Beide Hauptstadt-Klubs stammen aus dem Hafenort La Boca, der von italienischen Einwanderern gegründet wurde. River Plate („Los Millionaros“) zieht in den Dreißigern ins Reichenviertel Nuñez um.
Nicht minder hoch her geht es beim heißesten Derby Brasiliens, dem „Grenal“ in Porto Alegre, dessen Name aus der ersten und letzten Silbe der Kontrahenten Grêmio und Internacional gebildet ist. Über 400 Mal wird seit 1909 gespielt zwischen dem reichen Verein aus der Oberschicht der deutschen Einwanderer und dem Arbeiter-Klub.
Der 2017 verstorbene Horst Köchel aus dem Vorharzer Ort Harlingerode gibt mir bei einer Reportage erhellende Insider-Informationen zum „Grenal“: Köchel soll 1958 über familiäre Kontakte eine Konditor-Lehre in Brasilien machen, landet aber nach wochenlanger Schiffsüberfahrt beim Profi-Klub Grêmio. Vermittelt hat den Job der Hamburger Profischiedsrichter Hans Lutzkat, der wie der spätere Bundesliga-Referee Horst Herden damals in Brasilien pfeift. Köchel, nur „Dohorsto“ (kleines Horstchen) genannt, erfährt, dass Lutzkat 1957 beim Derby bestochen werden sollte, nicht mitmacht, sich an die Presse wendet und nach Morddrohungen wochenlang unter Polizeischutz steht. Zweimal kommt es während Köchels Zeit zum „Grenal“. Beim ersten Mal, einem 0:1, sitzt er auf der Tribüne. 60.000 im Estádio Olímpico Monumental schreien „Por que não o alemão?“ (Warum nicht der Deutsche?). Beim zweiten Derby trifft Köchel beim 2:1-Sieg von Grêmio zum 1:1. Nach der WM 1958 reist der FC Santos mit den Weltmeistern Pelé, Zito und Gilmar zum Freundschaftsspiel an und verliert 1:4. Beim Bankett schwärmt der kleine Dohorsto aus dem kleinen Harlingerode vom Zauberfußball am Zuckerhut. Der 18-jährige Pelé sagt: „Dann bleib’ hier, Deutscher!“ Dazu kommt es nicht. Die Familie holt Köchel mit der Forderung nach Erfüllung seiner Konditor-Ausbildung ein.
Zurück nach Europa. Dass sozial bedingte Rivalitäten sich in England häufen, dem Mutterland des modernen Fußballs, liegt an der historischen Entwicklung auf der Insel. Zum Durchbruch verhelfen dem „Gentleman Sports“ Angehörige der Oberschicht. Die massenhafte Verbreitung im Proletariat folgt erst am Ende der industriellen Revolution bis zur Jahrhundertwende. Davon zeugen Derbys A wie „arm“ gegen R wie „reich“: FC Southampton (R) – FC Portsmouth (A), West Bromwich Albion (A) oder Birmingham City (A) – Aston Villa (R). Schließlich Nottingham Forest (A) – Notts County (R), das älteste nachgewiesene Derby im modernen Fußball überhaupt, das erstmals am 22. März 1866 stattfindet (0:0).
In Deutschland hat das Münchener Stadtderby zwischen den wohlhabenden Bayern und den Sechzigern aus dem Arbeitermilieu die größte Tradition. Die hält 1945 sogar kurz vor dem völligen Zusammenbruch, als das bayerische Stadtderby – eine Woche vor Hitlers Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei – tatsächlich ausgetragen wird (3:2).
Doch bei Köln – Gladbach trägt der ökonomisch-soziale Ansatz nicht, heute nicht und auch nicht aus der Geschichte heraus. Köln ist immer schon dank exponierter Lage ein überragender Wirtschaftsstandort mit Schwerpunkten in Handel und Handwerk sowie zentraler Umschlagplatz gewesen. Mönchengladbachs Aufstieg ist mit der Entwicklung der Textilindustrie im 19. Jahrhundert sowie der sie begleitenden Maschinenindustrie eng verbunden. Die natürlichen Rahmenbedingungen stiften jedenfalls keine Rivalität. Die Domstadt liegt seit eh und je am Rhein und wird sich dort auch nicht mehr wegbewegen. Die Vitus-Stadt hingegen kampiert an einem unbedeutenden und in unterirdischen Kanälen versteckten Fließgewässer namens Gladbach, das über diverse Nebenflüsse wie die Niers irgendwann in Holland via Maas den Rhein erreicht. Also den mächtigen Strom, an dem Köln schon immer zugange war.
Dennoch: Zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg erfasst beide Städte ein tiefgreifender Strukturwandel, der zu neuen Wirtschaftszweigen führt. Mönchengladbach tut sich schwerer, weil es (zu) lange alternativlos auf die gewohnte Textilkarte setzt. Köln ist größer, älter, dynamischer – Mönchengladbach ist zwar nie Konkurrent der Domstadt wie in jüngerer Zeit Düsseldorf, aber keineswegs auch nur der arme Vetter nahe dem Unterlauf des Flusses. Und auch wenn die Borussia sich in Abgrenzung zum vornehmen 1. FC Mönchengladbach früher gern als Arbeiterverein aus Eicken sieht: Ihre Gründerväter aus der „Marianischen Jünglings-Kongregation“ von 1900 entstammen dem bürgerlichen Lager.