Wie Satan starb. Artur Hermann Landsberger
Peter auf die Schulter. „Fest im Willen, mein Junge, das ist die Hauptsache!“
„Nein! nein!“ widersprach der Arzt, der wohl wusste, dass Peter noch krank war. „Sie müssen es als Ihren Wunsch fühlen. Aus dem Herzen muss es kommen. Nicht etwa, weil Sie es als zweckmässig erkannt haben.“ Und er zitierte des Dichters Worte: „Erst wenn der Geist von jedem Zweck genesen und nichts mehr wissen will als seine Triebe, dann offenbart sich ihm das weise Wesen verliebter Torheit und der grossen Liebe.“
Peter war wieder nachdenklich geworden. Er ging auf dem dicht besetzten Schiffe, auf dem nur die für Engelberg bestimmten Offiziere waren, auf und ab und redete sich zu:
„Vergiss sie!“ sagte er sich immer wieder. „Du kannst ihnen doch nicht helfen. Du musst darüber hinweg! sonst gehst du zugrunde!“ —
Wie ich vernünftig rede, dachte er und lächelte. Aber liegt es denn überhaupt in meiner Kraft, zu bestimmen, ob ich es vergesse oder mich immer mehr in diesen Gedanken vertiefe? — Kaum! Das wird und ist in mir! Und alles, was von aussen kommt und verstandesgemäss geschieht, um dagegen anzugehen, ist zwecklos. Etwa, man wollte das Wachsen eines Baumes wegdiskutieren, indem man ihm sagte: Lass es! wachse nicht, deine Mühe ist umsonst. Ein Sturm wird kommen, ein Unwetter, und dich entwurzeln. Der Baum würde darum doch weiterwachsen. Denn der Trieb lässt sich nicht dem Zwecke unterordnen! Genau so ist es mit mir! — Und diese Erkenntnis stimmte ihn nicht traurig. Viel eher war er froh, die Lösung gefunden zu haben. Das Leben mochte nun kommen und ihm seine Bestimmung anweisen. Er war bereit, sich ihr zu unterwerfen.
Er setzte sich zu seinen Kameraden, die froh, fast übermütig, von der Zukunft sprachen, und von Gedanken, die durch Zeit und Umstände wohl berechtigt gewesen wären, nicht im mindesten beschwert waren.
Sie sind wohl glücklicher als ich, dachte Peter. Und doch, ich möchte nicht sein wie sie.
Als sie nach einstündiger Fahrt auf dem See und anderthalbstündiger Bergfahrt in Engelberg aukamen, scholl ihnen ein dreimaliges Hurra ihrer schon internierten Kameraden entgegen. Der rangälteste Offizier quälte sich zum Empfang ein paar nichtssagende Worte ab und dann ging’s über den Bahnsteig hinaus zu den Hotels. Freundliche Willkommensgrüsse der Einheimischen und der Kurgäste begleiteten sie.
Peter ging nicht mehr wie in Luzern den Kopf teilnahmslos gebeugt zwischen seinen Kameraden. Er sah den Menschen, die da standen, ins Gesicht. Nach viereinhalb Jahren zum ersten Male sah er wieder Frauen, die sommerlich gekleidet, fröhlich und geschmückt, mit weissgepflegten Händen winkten, Blumen warfen und in seiner Sprache zu ihm redeten. Seine elegante Gestalt mit dem feingeschnittenen Gesicht fiel allen auf. Er, der Vielgewandte, errötete bei dem Anblick wie ein Gymnasiast und das Herz schlug ihm bis an den Hals hinauf. Und als eine der Frauen nahe an ihn herantrat und ihm Blumen reichte, zitterten seine Knie und er war so bewegt, dass er nicht einmal „danke“ sagte.
„Haben Sie viel gelitten?“ fragte die junge Dame.
Peter sah sie gross an und sagte nichts.
„Sie sehen leidend aus.“
Peter nickte.
„Waren Sie verwundet?“
Er schüttelte den Kopf.
„Nun also!“ sagte sie lächelnd. „Dann werden Sie auch bald wieder gesund und fröhlich sein.“ —
Wie lange hatte so keine Frau mit ihm gesprochen! „Gesund und fröhlich sein“ klang ihre weiche Stimme in ihm fort
„Sie sind so gütig!“ drängte es ihn zu sagen. Aber während er sich vergebens mühte, ein Wort herauszubringen, suchte sie aus einem Strauss von Rosen die schönste Rose heraus und steckte sie ihm an. Während ihre gepflegten schmalen Finger seinen schmutzigen Rock berührten und der zarte Duft ihres Körpers an ihm aufstieg, lächelte sie und sagte:
„Rosen haben Sie wohl lange nicht mehr gesehen?“
Wieder nickte Peter und kam mit seinem Gesicht ganz nahe an ihr duftendes Haar. Sie befestigte noch immer die Blume und hatte den Kopf etwas nach vorn gebeugt. Er sah den weissen Nacken und schloss die Augen.
„Die sollen Sie jetzt öfter haben,“ sagte die Dame.
Peter hörte es kaum. Ihm war schon ganz heiss. Er streckte die Arme aus, seine Knie zitterten. Langsam glitt sein Kopf nach vorn und seine Lippen küssten das weiche Haar, das sie kaum berührten.
„Aber! aber!“ sagte die Dame leise und trat unauffällig von ihm weg. Peter verharrte in seiner Stellung. Die Arme ausgebreitet, den Kopf nach vorn gebeugt, stand er, schwer atmend, mit geschlossenen Augen da.
„Herr Oberleutnant!“ durchschnitt es schrill wie eine Granate die Luft und traf Peter, der einen Augenblick lang am ganzen Körper zitterte und dann wie leblos zu Boden fiel.
Die Aufmerksamkeit war erregt. Niemand hatte von dem Vorgang etwas bemerkt ausser der Dame, die Takt und Ruhe wahrte, dem Arzt, der in nächster Nähe, und dem rangältesten Offizier, der in einiger Entfernung stand.
„Wie dumm!“ dachte die Dame und schüttelte den Kopf.
„Hätte sie ihn an die Hand genommen und auf ihr Zimmer geführt — noch heute wäre der arme Reinhart gesund geworden!“ dachte der Arzt.
„Skandal! ein Skandal!“ rief der rangälteste Offizier und stürzte, ohne sich um Peter zu kümmern, auf die Dame zu. Dann nahm er Stellung an, legte die Hand an die Mütze und sagte: „Verzeihen, Gnädigste, diesen ganz unerhörten Vorfall. Der Herr Oberleutnant wird sich bei Ihnen entschuldigen und auf das allerstrengste bestraft werden.“
Neugierig standen alle herum.
„Aber ich weiss gar nicht,“ sagte die Dame und suchte Peter zu retten. „Was ist denn eigentlich vorgefallen?“
„Ja, haben Gnädigste denn nicht bemerkt?“
„Was?“ fragte die Dame.
Der Offizier sah dupiert erst die Dame, dann die Menschen an, die ihn neugierig umstanden.
Der Arzt rettete die Situation und sagte:
„Der Herr Oberstleutnant glaubte, dass der Offizier Sie beim Fall berührt oder gar verletzt habe.“
Arzt und Dame verständigten sich sofort durch einen Blick.
„Der arme Mensch ist krank,“ sagte er. „Und statt ihn zu bestrafen, sollte man lieber dafür sorgen, dass er gesund wird.“
„Dafür scheint mir dieser Oberst kaum der richtige Mann zu sein,“ erwiderte die Dame.
„Gewiss nicht! Aber auch der Arzt vermag hier nicht zu helfen.“
„Hat er keine Familie? Keine Eltern?“
„Gewiss! eine sehr kluge und liebevolle Mutter. Aber auch hier hilft nur eins.“
„Nämlich?“
„Die Frau!“
Die Dame errötete — oder sie tat doch so. Jedenfalls sah sie zur Erde, und da der Arzt schwieg, so fragte sie:
„Jede Frau?“
„Nein! Eine bestimmte! Oder doch ein bestimmter Typ. Eine, bei der sich — wie soll ich sagen? — der Funke entzündet,“ er schwieg, dann sagte er mit gedämpfter Stimme: „Wie es bei Ihnen der Fall war.“
Was er noch sagte, hörte sie kaum. „Die Schmerzen, an denen er leidet, können nur durch eine grosse Leidenschaft enden. Das grosse Mitleiden mit andern, das ja der selbstloseste aller Schmerzen ist, kann nur durch das egoistischste Empfinden, die Liebe, geheilt werden.“
„Ein interessanter Fall, jedenfalls!“ sagte die Dame, die ihn gar nicht verstand.
„Interessant genug, um sich mit ihm zu befassen,“ erwiderte der Arzt und stellte sich vor.
„Wer ist er?“ fragte die Dame.
„Dr. von Reinhart, aus einer der ersten Berliner Familien.