Wie Satan starb. Artur Hermann Landsberger
„Ich fühle nichts mehr,“ erwiderte Peter und hielt dem Blonden noch immer die Flächen seiner Hände hin. „So sieht es auch in mir aus.“
Der fühlte mehr, was Peter meinte, als dass er ihn verstand.
„Du bist noch durcheinander. Das findet sich alles wieder. Nur widersetz dich nicht. Du musst den Willen haben, Reinhart, gesund zu werden.“
Peter sprang auf, packte ihn bei den Armen, führte sein Gesicht dicht an seines, sah ihm fest in die Augen und sagte laut:
„Ich will nicht! Ich lebe nicht! Fühlst du denn nicht, wie sie leiden. Wie die Peitschenhiebe ihnen Fleisch und Seele zerfetzen? Ich will zu ihnen! will zurück! will mitleiden! — Wo führt ihr mich hin? Ins Paradies? Unter Menschen? — Ich will zu den Tieren in die Hölle!“ —
Ueber den Bergen des Sees färbte sich das graue Blau des Himmels in helles Rot. Auf zerfetztes Gewölk, das wie eine Herde schmutziger Schafe am Himmel klebte, fiel rosafarbenes Licht. Leichte Nebel, die leblos an den Bergen hingen, stiegen auf, verflüchteten sich und verschwanden. Die Strahlen der aufgehenden Sonne bestrichen die Rücken der Berge, die strahlend erwachten, legten sich auf den dunklen See und glitzerten da wie helle Smaragde.
Wieder drängten alle zum Fenster und standen wie vor einem Wunder. Was da glühend hinter den Bergen aufkroch, empfanden sie wie den ersten heissen Gruss der Mutter Erde, der sie dem Gefühle nach jahrelang entrückt, nun zurückgegeben waren. Sie steckten die Arme zum Fenster hinaus, als wollten sie das Glück mit Händen fassen und den Gruss erwidern, der ihre Herzen wie das erste gütige Wort der fernen, langentbehrten Mutter traf.
Noch einmal wandte sich der blonde Husar an Peter, wies ihn auf die Landschaft draussen und sagte:
„Kann dich das nicht heilen?“
Peter starrte hinaus.
„Man soll den Menschen nicht aus seinem Schicksal reissen. Keiner weiss, warum er da ist. Jedes Menschenleben aber hat einen Zweck.“
„Raff dich auf! Erfüll ihn!“
„Er liegt dort!“ erwiderte Peter und wies wieder hinter sich. Und dann fügte er mit starker Betonung hinzu: „Nur die Bestie hat ihn nicht.“
„Denk nicht an das Hässliche,“ redete der blonde Husar auf ihn ein und wies auf die Sonne, die jetzt voll am Himmel stand. „Sieh das Schöne!“
„Wenn es einen Gott gibt ...“
„Den gibt es!“ beteuerte der sonst nicht gläubige Husar.
„... und ich stehe vor dem Jüngsten Gericht und Gott fragt mich: ‚Warum liessest du sie am Leben?‘ so antworte ich: ‚Weil dein Gebot, Herr, lautet: du sollst nicht töten.‘“
Der blonde Husar fasste teilnahmvoll Peters Hand, die kalt und rauh war.
„An was denkst du?“ fragte er Peter in fast bittendem Tone.
Peter erhob laut die Stimme:
„,Aber die Bestie!‘ wird der Herr fragen. ‚Mein Gebot geht auf Menschen. Nicht auf wilde Tiere! Warum liessest du sie leben? wo du doch sahst, wie sie meine Menschen quälten!‘“
„Wir sind nicht da, um zu richten,“ ging der blonde Husar auf Peters Reden ein. „Das steht nur Gott zu.“
„Leutnant Grabiani!“ rief Peter im Kommandoton, „Sergeant Castelli! Sergeant Vergnaud! in die Knie! — Venêre!!“ schrie Peter, dass es dröhnte. „Venêre, Tier! hörst du die Stimme des Herrn? Warum hast du Gottes Menschen zu Tode gefoltert? Satansknecht! — Aber nun bin ich da! Gesandt von Gott! Verstehst du, grausames Tier! Weisst du, was das bedeutet?“ Er dämpfte die Stimme und lächelte fast beglückt. „Ziehe die Daumenschrauben nur an! Fester! fester!! Schlage mit deinem Ochsenziemer nur auf mich ein. Lass die Schwarzen mich schlagen! Ich fühl’ es nicht! Denn mit mir ist Gott! Du Höllenhund!“
Dann sank er wieder in sich zusammen, schloss die Augen und schlief ein.
Einer der Kameraden, ein Arzt, setzte sich zu ihm.
„Ist er wahnsinnig?“ fragte der blonde Husar.
„Das möchte ich nicht unbedingt bejahen,“ erwiderte der. „Die gewaltige Reaktion! Bei uns löst sie Glück und Freude aus. Bei ihm das Gegenteil!“
„Er hat auch mehr als wir gelitten,“ sagte ein andrer.
„Gewiss! Von denen, die da unten in Gefangenschaft waren, ist wohl keiner geistig ganz intakt geblieben.“
„Er ist noch am Tage, bevor er aus Dahomey fort kam, von Castelli mit dem Ochsenziemer geschlagen und unter Würgen mit Faustschlägen ins Gesicht und auf den Kopf misshandelt worden.“
„Das liegt doch aber Monate zurück,“ sagte der blonde Husar.
„Gewiss,“ erwiderte der Arzt, „so weit haben sie ihn für den Austausch in dem Lazarett schon hergerichtet, dass die äusseren Merkmale so ziemlich verschwunden sind. Darin sind sie als Volk, das auf Kultur hält, äusserst gewissenhaft! Aber was sich da innen festgesetzt hat — ob das je verschwindet, ist mir doch zweifelhaft. Zumal bei einem so empfindsamen Menschen wie es Reinhart ist.“
„Die arme Mutter!“ klagte der blonde Husar.
„Ist es ihr Einziger?“ fragte der Arzt und Kamerad.
„Ihr Einziger und ihr Alles.“
„Hoffen wir, dass er in anderer Umgebung und sachgemässer Behandlung gesundet.“
„Als was würden Sie seine Krankheit bezeichnen?“ fragte, immer flüsternd, der blonde Husar.
Der Arzt zog die Schultern hoch.
„Dafür gibt es noch keinen Namen. Es ist das Verdienst der Franzosen, die Welt um diese Krankheit bereichert zu haben. Tausende leiden darunter. Man sollte sie ‚die französische Krankheit‘ nennen. Das Krankheitssystem ist allemal das gleiche: die verprügelte Seele!“
Der blonde Husar nickte zustimmend mit dem Kopf und sagte:
„Das ist eine treffende Bezeichnung. Gut, dass die meisten Menschen wenig Seele haben und die Behandlung nur körperlich empfinden.“
„Gewiss ist das gut,“ stimmte der Arzt bei.
„Gibt es auch unter denen, die aus englischer Gefangenschaft kommen, viele derart Kranke?“ fragte der blonde Husar.
„Nein! — Nur hier und da mal ein Fall, genau wie es natürlich auch in Deutschland vereinzelt solche Fälle gibt. — Es gibt eben überall rohe und feige Menschen, die ihr Mütchen an wehrlosen Gefangenen kühlen. Aber der Ruhm, die geistige und seelische Misshandlung wehrloser Menschen sozusagen von Staats wegen zum System erhoben zu haben, gebührt den Franzosen.“
Obgleich sie leise sprachen und die lauten Stimmen der andern sie übertönten, schien es dem blonden Husaren doch, als ob Peter, der ihm gegenüber sass, ihrer Unterhaltung folgte.
Peter sah sie an, wieder mit jenem wehleidigen Lächeln, schüttelte den Kopf und sagte:
„Nein!“
„Sie glauben es nicht?“ fragte der Arzt, nur um etwas zu erwidern.
„Der Mensch und die Bestie!“ sagte Peter. „Darin liegt alles! Das Tier in sich überwinden. Den Satan austreiben. Gott ähnlich werden. Darauf kommt alles an.“
„Da hast du völlig recht,“ sagte der blonde Husar und war erstaunt über die klare Rede.
„Allein das Bibellesen macht es nicht,“ fuhr Peter fort. „In die eignen Tiefen steigen. In seiner Seele lesen, darin Gottes Wort steht: Urberwinde!“
„Was?“ fragte der blonde Husar.
„Das Tier, das in uns allen steckt, überwinden, um Mensch zu werden.“
„Sie haben ganz recht, Reinhart,“ sagte der Arzt. „Wenn alle es schon