Crossover. Fred Ink

Crossover - Fred Ink


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Ramona

      »Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, und auch nicht die intelligenteste. Es ist diejenige, die sich am ehesten dem Wandel anpassen kann.«

       – Charles Darwin

      Harald Strehlau war tot. Er musste tot sein, weil nichts mehr stimmte.

      Weder lag er in seinem Bett, noch baumelte der triangelförmige Griff über ihm, an dem er sich für gewöhnlich in die Höhe zog. Die weiß gestrichene Zimmerdecke war einem verwaschenen Durcheinander aus Braun und Grau gewichen. Als Harald nach seiner Brille tastete, um den trüben Augen auf die Sprünge zu helfen, griff er ins Leere. Das Merkwürdigste an der Situation war aber, dass er nicht urinieren musste. Seit Ewigkeiten war Harald nicht mehr aufgewacht, ohne dass seine apfelsinengroße Prostata ihm auf die Blase drückte.

      Heute musste er nicht. Er war vertrocknet, inner- wie äußerlich.

      Nach einer Phase der Verwunderung, gefolgt von Ungewissheit und Furcht, machte sich eine fundamentale Ruhe in ihm breit. Es war also endlich soweit, er hatte es hinter sich.

      Ich werde Utta wiedersehen.

      Der Anflug eines Lächelns bahnte sich den Weg durch tief eingegrabene Falten, während Harald versuchte, sich hochzustemmen.

      Ihm wurde bewusst, dass manche Dinge sich nicht verändert hatten. Die Arthritis, Geißel seines Lebensabends, plagte ihn nach wie vor. Tausend winzige Schlangen schienen sich in seine Gelenke zu bohren und dort in den Nervenenden zu verbeißen, als er steife Finger auf kühlen Untergrund presste. Da es ihnen an Schmiere mangelte, knirschten seine Schultern, als würde jemand altbackenes Brot zerbröseln. Die Wirbel in seinem Rücken knackten wie Holzscheite in einem lodernden Kaminfeuer. Sein Atem ging flach und pfeifend. Die Anstrengung, sich in eine sitzende Position aufzurichten, ließ schwarze Punkte vor Haralds Augen tanzen.

      »Das ist nicht fair«, stöhnte er und verabscheute den asthmatischen Klang seiner Stimme. Es war lange her, dass sein Mund Worte voller Kraft und Zuversicht geformt hatte. Schwäche und Hilfsbedürftigkeit schwangen heutzutage in allem, was er hervorbrachte.

      Und dann sein Atem: Er roch nach angetrocknetem Speichel, ach was, nach Sabber. Und er trug zusätzlich diesen irgendwie heimeligen und doch schrecklichen Hauch mit sich; etwas, das man als Kind gerne wahrnahm, weil es der unverwechselbare Geruch von Omi oder Opi war. Wenn man aber erst selbst danach stank, lernte man es schnell hassen.

      Ich bin noch immer ein alter Knacker.

      War es womöglich doch nicht vorbei? Befand sich Utta nach wie vor in unerreichbarer Ferne?

      Aber falls ja, was war das hier?

      Er sah sich um. Ohne Brille war nicht viel zu erkennen, nur grobe Umrisse. Aber die Farben … und die Lichtverhältnisse … es konnte nicht seine Wohnung sein.

      Er befand sich in einem Zimmer, so viel war klar, denn zu seiner rechten Seite fiel trübes Licht herein. Es war kränklich und schwach, wie an einem Wintertag. Was die Einrichtung betraf, herrschten düstere Töne vor. Von Braun über Grau bis Schwarz fand sich jede Nuance von Schmutz und Zerfall.

      Harald kniff die Augen zusammen und zwang die Welt in einen geringfügig schärferen Zustand. »Wie bei Hempels unterm Sofa«, murmelte er.

      Überall schienen Dinge herumzuliegen. Die verschiedensten Formen waren kreuz und quer im Raum verteilt wie weggeworfener Unrat.

      Und vielleicht war es ja genau das.

      Irgendwie fühlte sich der Gedanke, in einem verwahrlosten Zimmer voller Müll zu liegen, stimmig an. Als Harald länger darüber nachdachte, wurde ihm auch klar, warum.

      Er war unter der durchdringenden Note des Alters, die Harald selbst verströmte, nicht leicht wahrzunehmen, aber er war definitiv vorhanden: Der Gestank von Schimmel und Gärung. Harald war umgeben von vermoderndem Gerümpel.

      »Was ist das hier für ein Mumpitz?«

      Plötzlich war da eine Stimme, volltönend und durchdringend. Harald konnte nicht sagen, ob sie durch den Raum dröhnte oder nur in seinem Kopf widerhallte.

      BEFREIE MICH!

      Der Befehl schmerzte, als er überlaut in sein Gehirn fuhr. Harald riss reflexartig die Hände an die Ohren.

      »Was … wer?«

      Niemand antwortete.

      »Wo bin ich? Was wollen Sie von mir?«

      Das Zimmer reagierte mit Schweigen auf seine Fragen. Der Forderungen stellende Sprecher – so es ihn denn jemals gegeben hatte –, gab sich nicht zu erkennen.

      So leicht lasse ich mich nicht einschüchtern.

      Harald hatte Schützengräben, russische Gefängnisse, Hippies und Computerfreaks überlebt. Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.

      Während er die Beine über die Kante von dem schwang, worauf auch immer er gelegen hatte, spürte er ein schmerzhaftes Scheuern. Er tastete prüfend um sich und versuchte, seinen von Hornhaut überzogenen Fingerspitzen etwas Gefühl zu entlocken. Eine Substanz blätterte aufgrund der Bewegungen ab. Er nahm Stückchen davon zwischen die Finger, worauf sie zu Krümeln zerfielen. Harald besah sich seine Hände. Wenn er sie dicht vor die Augen hielt, konnte er sie einigermaßen scharf erkennen. Die Kuppen seiner Finger hatten sich rötlich-braun gefärbt.

      »Rost.«

      Er saß auf einer korrodierten Metallfläche.

      Ein Blick hinab zu der Stelle, an der seine Füße baumelten, enthüllte verschwommene, bleiche Dinger. Krumm und steif sahen sie aus, vom Alter entstellt. Gelbe Flecken hingen im trüben Weiß – Zehennägel. Wo waren seine Strümpfe geblieben?

      Harald bemerkte, dass sein Pyjama ebenfalls fehlte. Das einzige Kleidungsstück, das an seinem Körper hing, war eine fleckige Unterhose. So ging er niemals zu Bett! Wenn er sich hinlegte, dann …

      Ja, was dann? Was trug er, welche Rituale pflegte er? Putzte er sich die Zähne? Las er noch ein wenig? Oder schaute er sich den überdrehten Mist an, der im Fernsehen lief? Nahm er sein Gebiss heraus? Hatte er überhaupt ein Gebiss oder genoss er das Privileg, selbst im hohen Alter noch im Besitz seiner eigenen Zähne zu sein?

      Furcht erkannte die Gelegenheit und kehrte zurück. Weshalb konnte er sich an nichts erinnern?

      Er öffnete den Mund und umschloss die oberen Schneidezähne mit den Fingern. Ein saugendes Geräusch erklang, als er daran zog.

      »Gebiss«, murmelte er. Wenigstens eine der Fragen war somit beantwortet. Was gab es abgesehen davon?

      Harald wusste, dass er sich nicht in seiner Wohnung befand, er entsann sich der Farbe seiner Zimmerdecke und auch der Haltegriff über dem Bett war ihm nicht entfallen … aber sonst?

      In welcher Stadt wohnte er?

      Was tat er den lieben langen Tag?

      Wie alt war er genau?

      »Oh Gott, ich weiß es nicht«, stammelte er. »Mein Gedächtnis …«

      Ein schockierender Gedanke folgte: Was, wenn ich mich doch am richtigen Ort befinde? Wenn ich nur vergessen habe, weshalb ich hier bin?

      Jeder Mensch, der sich im Herbst seines Lebens befand, fürchtete ein Schreckgespenst mehr als jedes andere. Jetzt umkreiste es Harald wie eine aggressive Hornisse.

      Demenz.

      Womöglich befand er sich schon jahrelang hier, wachte jeden Morgen ohne Erinnerung auf und durchlebte diesen Mist. War dies hier ein heruntergekommenes Altersheim, eine schäbige Anstalt, in die man ihn abgeschoben hatte, damit er dort starb?

      Harald hatte keine Angst vor dem Tod. Er wartete schon lange auf ihn, dessen entsann er sich. Aber auf diese Weise wollte er ihm nicht gegenübertreten.


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