Crossover. Fred Ink

Crossover - Fred Ink


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kam, desto schlimmer wurde es. Sein Magen protestierte.

      Er wollte nicht kotzen. Selbst wenn er vollkommen besoffen war, kotzte er nicht, denn er hatte was drauf. Da würde er hier bestimmt nicht damit anfangen.

      Also lief er los. Und blieb nach zwei Schritten direkt wieder stehen.

      Er hatte etwas gehört. Jemand hatte geschrien, und es war kein fröhlicher Laut gewesen. Klang eher nach jemandem, der echt in der Scheiße steckte. Und gleich darauf war irgendwas zu Bruch gegangen.

      Tom überlegte, ob er hingehen und nachsehen sollte. Vielleicht war da einer, der dieselben Pilze gefressen hatte. Gut möglich, dass so jemand noch weniger klarkam als er. Ob dieser Jemand die gleichen Hallus hatte?

      Aber hingehen bedeutete Stress. Im schlimmsten Fall ging womöglich ein durchgeknallter Irrer auf Tom los – wer konnte schon sagen, was in einem dermaßen weggeballerten Hirn vorging? –, im besten Fall würde er sich um einen flennenden, verstörten Typen kümmern müssen. Tom war von beiden Möglichkeiten kein großer Fan.

      »Scheiß auf den«, murmelte er.

      Vor ihm befanden sich die Überreste einer Türöffnung. Sie bestand aus einem unregelmäßigen Umriss, vor dem eine Holzplatte vergammelte. Eine ganze Kolonie der Schleimkugeln bedeckte die Fläche.

      Der Schrei war von links gekommen. Tom machte einen großen Schritt über die Reste der Tür hinweg – er wollte gar nicht dran denken, was die glitschigen Kugeln mit seinen Nikes anstellen würden, falls er drauftrat –, und wandte sich nach rechts. Sollte der Typ allein damit fertigwerden.

      Steinchen knirschten unter seinen Schuhen. Er würde sie später aus dem Profil der Sohlen fummeln müssen. Diese ganze Scheiße ruinierte ihm echt das Outfit! Sobald er wieder ganz da war, würde er rausfinden, wer ihm das Zeug besorgt hatte. Der Typ musste in Zukunft ohne ihn als Kunde auskommen, so viel war klar. Wenn Tom Bock auf abgefahrenen Gammel-Kram hatte, warf er die X-Box an und legte Dead Space ein, verdammt noch …

      Der Gang verfinsterte sich. Krasser Lärm brandete plötzlich durch das Gebäude. Er kam von dort, wo der andere Kerl geschrien hatte. Irgendwas Großes war da am Werk, Zeugs ging kaputt, die Wände wackelten. Etwas schlug krachend gegen was anderes … und unter allem glaubte Tom, ein Schnaufen zu hören. Es wurde immer lauter, steigerte sich zu einem trompetenartigen Brüllen, das selbst die Alien Queen vor Neid hätte erblassen lassen.

      Dann wurde es still. Kurz schepperte und bröckelte noch was, ehe sich der Gang aufhellte.

      Tom hatte sich umgedreht, ohne es zu merken. »Kranker Scheiß.«

      Jetzt wollte er erst recht weg, aber etwas hielt ihn davon ab: sein Stolz. Trotzdem nachsehen zu gehen, erforderte nämlich Eier. Weggehen nicht.

      Tom wusste zwar, dass er Eier hatte, aber es schadete nicht, sich das ab und an zu demonstrieren. Nie wieder würde es sein wie in der Grundschule, als die anderen Kinder ihm hinterhergerufen hatten: »Der Meyer ohne Eier, der Meyer ohne Eier!«

      Hey, ich erinnere mich an was!

      Sie waren gnadenlos gewesen, wie Kids es nun mal waren. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er ihnen eins aufs Maul gegeben hatte. Er hatte es ihnen damals gezeigt, und er zeigte es heute noch jedem, der es wissen wollte … und allen anderen auch. Er war keine Memme.

      Jemand begann zu weinen. Das klang nun wirklich nicht wie etwas, vor dem man sich fürchten musste.

      Tom zuckte mit den Schultern. »Drauf geschissen. Sind eh nur Hallus.«

      Er ging auf das Weinen zu, erreichte kurz darauf eine weitere Türöffnung, trat hindurch und fand einen alten Knacker mit vollgepisster Unterhose.

      »Kati!«

      Birgit Rehm war der Panik nahe. Das Gefühl umschlang ihre Eingeweide, als sei es eine Würgeschlange.

      Irgendwo in der Ferne brüllte etwas. Und war das eben ein Klirren gewesen? Wo war sie hier gelandet, um Himmels willen?

      Birgit hetzte durch einen heruntergekommenen Raum nach dem anderen, rannte dunkle, nach Moder riechende Flure hinab. Sie sah zerschmetterte Computermonitore, dermaßen von schleimigem Bewuchs befallen und zersetzt, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Die Absätze ihrer Schuhe zertraten Gewächse, die aussahen, als gehörten sie in tiefe Erdlöcher oder Höhlen, jedenfalls an Orte, die kein Lichtstrahl je erreichte: blass, durchscheinend, gefüllt mit zähem Gallert. Alle paar Schritte trat sie zudem auf Knochen, die unter trockenem Knirschen zu Staub zerfielen. Die Gebeine befanden sich in viel zu schlechtem Zustand, um zu bestimmen, zu welchen Tieren sie gehörten. Aber da war etwas in der Form und Anordnung der Knochen, das in Birgit ein Gefühl der Fremdartigkeit hervorrief. Ein Kribbeln der Falschheit und des Abscheus, als handele es sich um die Überreste einer Kreatur, die es sowieso zu zertreten galt. Diese Knochen zu betrachten fühlte sich an, als säße man gemütlich auf der Couch und bemerkte plötzlich, wie eine gigantische, haarige Spinne die Wohnzimmerwand herunterkrabbelte. Birgit wusste einfach, dass diese Kreaturen nicht friedfertig neben ihr existieren konnten. Es nicht durften.

      Sie taumelte durch ein zerfallendes Labyrinth und hatte keine Ahnung, wie sie hierher gelangt war. Alles war weg, nicht einmal fundamentale persönliche Erinnerungen waren ihr geblieben. Birgit kam es vor, als hätte eine höhere Macht ihr Betriebssystem neu gebootet. Der Gedanke gefiel ihr nicht. Sie war eine gläubige Frau, und die Vorstellung, Gottes Zorn auf sich gezogen zu haben, war mehr als nur ein wenig beunruhigend.

      Aber nichts davon war der Grund für die Furcht, die sie zu übermannen drohte, die sich in ihren Nacken krallte und ihr Herz bis hoch zum Hals schlagen ließ. Es war die eine Sache, von der sie wusste; die Erinnerung, die ihr geblieben war. Für Birgit war sie das Wichtigste auf Erden. Und sie war nicht mehr da.

      »Kati!«, schrie sie noch einmal.

      Ihre Tochter, ihre wunderhübsche Tochter! Sie war irgendwo hier drin, in einem Gebäude voll scharfer Kanten, Scherben und, dem allgemeinen Zustand der Zersetzung nach zu urteilen, allen Arten von Krankheitserregern. An jeder Ecke schien ein potenzielles Unglück nur darauf zu lauern, über das Mädchen hereinzubrechen.

      »Hundi!«, hatte Kati gequiekt und war losgerannt. Im Gegensatz zu ihrer Mutter schien sie angesichts der Umgebung nicht im Mindesten verwirrt zu sein. Vielleicht, dachte Birgit, liegt es daran, dass ihr Verstand nach seinen eigenen Regeln funktioniert.

      Kati hatte die Welt schon immer mit anderen Augen gesehen. Manche Menschen bezeichneten sie deshalb als zurückgeblieben, aber Birgit wusste es besser.

      Als Kati davongelaufen war, hatte Birgit mit dröhnendem Schädel auf dem Boden vor dem Gebäude gelegen. Auf etwas, das einmal Asphalt gewesen sein mochte. Dunkle Krümel waren unter ihr zerbröselt, als sie sich mühsam herumgewälzt und die Hand nach ihrer Tochter ausgestreckt hatte. Doch es war längst zu spät gewesen. Kati war kichernd durch eine halb zerfallene, fleckige Betonwand geklettert, aus der Metallstangen ragten wie Gräten aus einem angefressenen Fisch. Eine gezackte Öffnung hatte das blonde Mädchen verschluckt, ihr blaues Kleidchen war das letzte gewesen, auf das Birgit noch einen Blick hatte erhaschen können.

      Und jetzt war sie irgendwo hier drin. Allein, hilflos, ahnungslos. Sie verfolgte etwas, das sie für einen Hund hielt. Birgit betete im Stillen darum, dass es tatsächlich ein Hund war. Ein streunender, tollwütiger Kläffer wäre schlimm genug, aber es könnte noch viel schrecklicher werden.

      Kati bezeichnete alles, was Fell und große Augen hatte, als »Hundi«. Selbst den zweieinhalb Meter großen Tiger im Zoo hatte sie so getauft. Und sie zeigte niemals Angst vor Tieren. Es war fast, als fehlte ihr dieser Instinkt vollständig. Birgit erinnerte sich an zahlreiche Nächte, in denen sie schweißgebadet hochgeschreckt war, davon überzeugt, ihre Tochter wäre von einem Bären, Löwen oder Wolf getötet worden, weil sie ihn ohne zu zögern in den Arm genommen hatte. Oder ein Auto hatte sie erfasst, auf das sie lächelnd zugegangen war …

       Birgit blinzelte mehrmals, während sie sich darüber


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