Crossover. Fred Ink

Crossover - Fred Ink


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ein Netzwerk aus Blutgefäßen.

      Es war unbeschreiblich scheußlich und brachte ihren Glauben an Gottes großen Plan ins Wanken.

      »Hundi böse«, stellte Kati fest, als das Monster zu knurren begann. Aus dem grollenden Laut wurde gleich darauf ein Kreischen. Es bohrte sich schmerzhaft in Birgits Ohren.

      Großer Gott, dachte sie, wenn dieses Fangeisen von einem Maul nach ihrem Gesicht schnappt …

      Sie versuchte, ihren Worten Kraft zu verleihen, als sie forderte: »Gib mir meine Tochter, du Scheusal!«

      Anstelle einer Antwort riss das Wesen den Kopf herum. Etwas schoss aus seinem Maul und schlang sich um Katis Unterarm.

      Zähne, dachte Birgit noch, oh Gott, es ist eine Zunge voller Zähne …

      Kati schrie und sämtliche rationalen Gedanken waren fort.

      Der Mann ohne Namen kauerte in den Schatten und beobachtete. Er hatte instinktiv damit begonnen, als er erwacht war, und er schien gut darin zu sein. Deshalb vermutete er, dass Beobachten ein Teil dessen war, was er tat. Seines Berufs. Vielleicht war er Privatdetektiv, möglicherweise auch Polizist.

      Allerdings sprach gegen diese Annahme, dass er kein Interesse daran hatte, Kontakt zu anderen Menschen herzustellen. Oder ihnen gar zu helfen. Im Verborgenen herumzuschleichen, das Gelände zu erkunden und die anderen zu observieren, fühlte sich deutlich besser an. Womöglich, dachte der Mann ohne Namen, bin ich ja beim Militär. Bei der Aufklärung.

      Inzwischen hatte er mehrere Menschen beobachten können, allerdings waren zwei davon nicht mehr am Leben. Bei den Toten handelte es sich um eine auffällig geschminkte Frau in knapper, aufreizender Kleidung – er vermutete, dass sie Prostituierte gewesen war – sowie einen Mann in Uniform, offensichtlich ein Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma.

      Die Frau hatte nie die Gelegenheit erhalten, wirklich zu sich zu kommen. Als der Mann ohne Namen sie entdeckt hatte, war sie bereits tot gewesen. Sie hatte außerhalb des Gebäudes gelegen, halb im roten Gras verborgen. Nur dass es kein Gras gewesen war, sondern etwas weitaus Gefährlicheres. Den Spuren im bröckelnden Asphalt nach zu schließen, hatte sie sich in einem Zustand der Benommenheit befunden, war getorkelt, mehrfach gestürzt und schließlich mit dem Gesicht in den Gewächsen gelandet. Die roten Strukturen waren daraufhin in sämtliche Öffnungen gedrungen, die ihnen ein Kopf bot. Vom Gesicht war nichts mehr zu erkennen gewesen, einzig ein Fleck besonders üppigen Bewuchses deutete auf den grausigen Dünger hin, der darunter verborgen lag. Es musste schnell geschehen sein, denn als der Mann ohne Namen die Leiche gefunden hatte, war der Körper noch warm gewesen. Und während er die Tote mit einer Nüchternheit betrachtet hatte, die ihn noch immer erstaunte, waren die Gewächse an ihr entlanggewuchert. Zielgerichtet, präzise, gnadenlos. Er nahm an, dass die Tote inzwischen vollständig von dem roten Gras eingehüllt war.

      Seit diesem Erlebnis wusste er, dass er sich in einer feindlichen Umgebung befand.

      Sein ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, die Gegend zu durchstreifen. Das Gebäude schien keine Antworten zu bieten, weil nichts darin intakt war. Den Menschen hatte er sich nicht nähern wollen; allein der Gedanke an eine Kontaktaufnahme flößte ihm Unbehagen ein, und außerdem schienen sie nach allem, was er gesehen hatte, mindestens ebenso von ihrer Lage verwirrt zu sein wie er. Sie würden ihm also nicht dabei helfen können, die Situation zu verstehen. Folglich blieb nur die Erkundung des umliegenden Geländes.

      Aber ein Marsch durch diese endlosen, roten Felder wäre Selbstmord gewesen. Deshalb hatte er den Plan geändert und war in das Gebäude zurückgekehrt, um nach Ressourcen Ausschau zu halten. Möglicherweise gab es doch ein paar Dinge, die nicht verrottet waren. Etwas, das als Nahrung dienen würde, oder das man als Werkzeug verwenden konnte.

      Oder als Waffe.

      Der Mann ohne Namen war im Besitz einer halbautomatischen Pistole mit Schalldämpfer, deren Magazin vollständig geladen war. Aber er hatte das dumpfe Gefühl, dass die Kugeln an diesem Ort bald verbraucht sein würden. Außerdem schadete es nie, wenn man vorbereitet war.

      Wenige Minuten nach der Entdeckung der toten Prostituierten hatte er dabei zugesehen, wie der Wachmann starb. Es war simples Pech gewesen. Der Kerl war in das falsche Zimmer gegangen, der Boden hatte plötzlich unter ihm nachgegeben und ihn verschluckt. Zwar hatte er sich noch für einige Sekunden an den Überresten der Dielen festgekrallt, doch zu seinem Unglück waren diese von den weißen Kugeln bewachsen gewesen, die überall dort zu haften schienen, wo etwas verfaulte – also an den meisten Orten innerhalb des Komplexes. Der Mann ohne Namen hatte beobachtet, wie die Kugeln platzten und zähen Schleim auf die Finger spien, die sich verzweifelt in sie bohrten. Es hatte gezischt, Dampf war aufgestiegen, der Wachmann hatte zu brüllen begonnen … und eine Sekunde später war seine Stimme in der Tiefe verklungen. Der Mann ohne Namen hatte in das Loch hinabgespäht, aber dort war nichts zu sehen gewesen. Keinerlei Regung in der Finsternis, der Abgrund war ihm bodenlos erschienen.

      Er bedauerte den Tod des Mannes. Nicht, weil ein Leben ausgelöscht worden oder ein potenzieller Mitstreiter im Kampf ums Überleben verloren gegangen war, sondern wegen der Waffe, die das Gebäude verschluckt hatte. Er wünschte, er wäre rechtzeitig zu dem Mann geeilt. Im Austausch für seine Rettung hätte er die Pistole einfordern können. Oder sie dem Wachmann einfach abnehmen, während der noch an der Kante baumelte – immerhin war der Kerl kaum in einer Position gewesen, in der er großartig Widerstand hätte leisten können.

      Aber so war das mit verpassten Chancen. Manchmal bot sich nur einmal die Gelegenheit für einen sauberen Schuss, und wenn man dann zögerte, entkam die Beute.

      Die Jagdanalogien machten den Mann ohne Namen nachdenklich. War er vielleicht Jäger? Oder Abenteurer? Jemand, der die Gesellschaft von Tieren und wilder, unberührter Natur der von Menschen vorzog? Es würde vieles erklären. Einstweilen sollte es ihm genügen, entschied er.

      Er musste etwas über sich wissen. Um nicht den Verstand zu verlieren, benötigte er irgendeine Art von Identität. Wenn er schon keinen Namen bekam, so würde er sich eine Profession aussuchen. Eine Sache, die beschrieb, was er war. Der Mann ohne Namen kauerte sich noch tiefer in die Schatten und taufte sich selbst auf den Namen »der Jäger«.

      Ab sofort würde er nicht nur beobachten, er würde verfolgen und sich heranpirschen. Darin war er gut, es befriedigte ihn. Er tat es ohnehin schon die ganze Zeit über, nur hatte er es sich bis eben nicht eingestanden.

      Als die Frau zum wiederholten Mal den Namen ihres Kindes schrie, klang es so weit entfernt, dass er sich hervorwagen konnte. Er hob gerade das Bein, um aus den Überresten eines Aktenschranks zu steigen, als Schritte herangetrampelt kamen.

      »Wo sind Sie? Ich helfe Ihnen!«

      Ein Mann rannte vorbei. Er verursachte so viel Lärm, dass jede Kreatur im Umkreis von mindestens einem Kilometer auf ihn aufmerksam werden musste. Er zertrampelte Knochen und Überreste von Mobiliar, trat Hindernisse aus dem Weg. Als er eine blockierte Tür erreichte, rammte er sie mit der Schulter. Holz zerbröselte, Splitter prasselten auf den mit Unrat übersäten Boden. Es war der Typ Superheld: athletisch, gutaussehend, Luft im Schädel. Dieser Mann hatte eine Frau in Not bemerkt und eilte ihr ohne nachzudenken zu Hilfe.

      Wie der Jäger anhand der Uniform des Mannes sofort erkannte, hatte er hier einen weiteren Sicherheitsmann vor sich. Noch eine Pistole, die – dem primitiven Gebaren ihres Besitzers nach zu schließen – wohl bald herrenlos sein würde.

      Während der Kerl sich trampelnd in Richtung der Schreie entfernte und dabei brüllte: »Ich bin gleich da, halten Sie durch!«, schlich der Jäger aus seiner Deckung und folgte ihm.

      »Alter, du stinkst nach Pisse!«

      Haralds Hand, die gerade dabei gewesen war, sich etwas zu entspannen, formte sich erneut zur Klaue. Sie stach ihm in die Brust, als


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