Crossover. Fred Ink
komm klar! Ich tu dir nichts.«
Da stand jemand in der Türöffnung. Jemand oder etwas. Der Umriss war unförmig und hätte von so gut wie allem stammen können.
»Weg … geh weg!«, krächzte Harald und hob abwehrend eine Hand.
»Erst wenn du mir gesagt hast, was hier grad abging«, entgegnete die Gestalt und kam näher. Harald schrie auf.
An diesem Ort musste alles, dem er begegnete, schrecklich sein. Er malte sich die abartigsten Folterszenen aus; mittelalterliche Holzschnitte voll grausamer Darstellungen erschienen vor seinem geistigen Auge. Noch vor fünf Minuten hätte er jeden Gedanken an Dämonen oder die Hölle als lächerlich abgetan, aber dieses … dieses Ding … die riesige Zange, das Brüllen …
Ein weiterer Schrei entfuhr ihm. Er klang hoch und schrill. Es war der Laut eines hilflosen Wesens, das in der Falle saß.
»Mann, das ist echt übel.« Die Gestalt wedelte mit einer Hand in der Luft herum. »Als ob’s hier nicht schon genug stinken würde. Immerhin ist das Fenster im Arsch. Vielleicht bringt‘s ein bisschen frische Luft ja.«
Harald blinzelte, versuchte vergeblich, den Sprecher deutlicher zu erkennen. »Was willst du von mir?«
»Opa, ich will gar nix. Hab den Krach gehört und wollte nachschauen. Und jetzt finde ich hier ’ne abgefuckte Freakshow. Was bist du denn für ein Clown?«
Harald gab den Versuch auf, die Ereignisse verstehen zu wollen. »Wer oder was bist du?«
»Alter, was …« Die Gestalt zögerte und beugte sich vor. Harald wäre gerne noch weiter vor ihr zurückgewichen, aber die feuchte Wand ließ ihn nicht. »Du kneifst die Augen so zusammen … siehst du nix oder wie? Wart mal …«
Das Wesen wandte sich ab. Schritte erklangen, knirschend und schlurfend. Harald versuchte, auf die Beine zu kommen. Aber noch ehe er eines seiner arthritischen Kniegelenke durchdrücken konnte, war die Gestalt wieder da.
»Hier. Bin vorhin draufgelatscht, sorry. Aber vielleicht taugt’s ja trotzdem noch was.«
Etwas wurde ihm hingehalten. Harald starrte mit kurzsichtigen Augen darauf.
»Jetzt nimm schon, du Freak!«
Zögernd streckte Harald die Hand aus. Es musste ein Trick sein. Gleich würden die Pranken des Anderen nach ihm fassen, sein Handgelenk umschließen und nie wieder loslassen …
Er ertastete einen vertrauten Umriss. Kühles Metall, das zwei elliptische Formen umrahmte. Ein Paar dünne Streben, eine davon war verbogen.
»Meine … meine Brille?« Harald schluckte, obwohl sein Mund völlig ausgedörrt war.
»Was denn sonst? Mann, ich wusste, dass ich nicht hätte nachsehen sollen. Jetzt hab ich ein verdammtes Riesenbaby an der Backe.«
Haralds Finger mochten steif vom Alter sein, aber diese Bewegungsabläufe hatten sie tausendfach absolviert. Innerhalb von zwei Sekunden trug er die Brille im Gesicht. Eines ihrer Gläser fehlte, das andere war zerkratzt. Da einer der Bügel ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden war, saß sie schief. Trotzdem entfuhr Harald ein glückliches Schluchzen. Er konnte wieder anständig sehen!
»D… danke!«, stammelte er. »Vielen Dank, wer immer du b…«
Der Rest des Satzes blieb ihm in der Kehle stecken, als er seinen barmherzigen Samariter musterte.
Ich hätte es wissen müssen, dachte er. Bei der Sprechweise gab es praktisch keine andere Möglichkeit.
Es war ein Mensch. Natürlich war es ein Mensch. Ein verflixter Teenager! Seine schwarzen Haare waren mit Gel zu etwas geformt, das als modernes Kunstwerk hätte durchgehen können. Er trug ein T-Shirt, das mindestens fünf Nummern zu groß für ihn war, außerdem hatte er sich in einer Pose, die wohl lässig wirken sollte, einen Pullover mit Kapuze über die Schulter geworfen. Seine Beine steckten in einer dieser furchtbaren, auf Kniehöhe hängenden Hosen, die stets aussahen, als habe ihr Träger seine Ausscheidungen nicht unter Kontrolle.
Dabei bin ich es, der sich eingenässt hat, wurde Harald klar. Schlagartig breitete sich Schamesröte auf seinem Gesicht aus.
»Hey, krasses Gesichtskino! Und falls es dich tröstet: Du siehst für mich auch nicht grad wie Fernanda Brandão aus.«
»Wie … was … wer?«
Ehe der Teenager eine Antwort geben konnte, winkte Harald ab. »Schon gut. Würdest du mir bitte beim Aufstehen helfen?«
Der Bursche verzog den Mund. »Alter, ich weiß nicht. Du versaust mir noch die Klamotten.« Er trat von einem Fuß auf den anderen und streckte schließlich zögernd eine Hand aus. »Vielleicht, wenn wir echt gut aufpassen und so.«
»Nicht nötig, ich komme auch allein zurecht«, sagte Harald stöhnend und zog die Beine unter den Körper. Nicht nur, dass der Bengel keinen Respekt vor dem Alter hatte, er war auch noch eitel!
Mit gefletschten Zähnen kämpfte Harald sich in die Höhe. Die Schmerzen in seinen Hüftgelenken waren furchtbar, aber er schaffte es. »Wie ist dein Name, Junge?«
»Tom.«
»Ich bin Harald. Freut mich, dich kennenzulernen.«
Es stimmte, wenn auch nur bedingt. Von allen denkbaren Untergruppen der menschlichen Gesellschaft waren ihm halbstarke, ungebildete, selbstverliebte Jugendliche wie dieser Tom am meisten zuwider. Aber immerhin war er nun nicht mehr allein. Und weil er hoffte, dass dieser Zustand anhalten würde, fügte er rasch an: »Tut mir leid, dass du … mich so sehen musst. Hier war vorhin etwas … ein … Wesen, das …« Er wusste nicht, wie er es beschreiben sollte, ohne vollkommen lächerlich zu wirken.
»Hat es den Krach gemacht?«, wollte Tom wissen. »Klang, als wär’s ein fetter Brocken, was richtig Verstrahltes.«
Harald blinzelte. »Ja, was … Verstrahltes. Das trifft es wohl ganz gut. Sag mal, du hast nicht zufällig auch Kleidungsstücke gefunden?«
»Klamotten? Nee, Mann.« Tom trat einen Schritt zurück und presste sich das Sweatshirt an den Körper. »Kuck mich jetzt nicht so an, meine Sachen kriegst du nämlich nicht!«
Harald seufzte. »Beruhige dich, ich möchte deine Kleider nicht. Aber falls du es aushältst, würde ich darum bitten, dass du mir noch etwas länger Gesellschaft leistest.«
Tom zuckte mit den Schultern. »Schätze, das geht klar. Irgendwas muss ich ja machen, bis ich wieder runterkomme.«
Harald hob eine Braue. »Was meinst du?«
»Na die Pilze!« Tom gestikulierte, als wäre es eine zwingende Schlussfolgerung. »Du musst doch auch welche gefressen haben, so wie du abgegangen bist.«
»Ich weiß nichts von irgendwelchen Pilzen«, entgegnete Harald zögernd. »Weißt du, wo wir sind? Und wie wir hierherkommen?«
Tom legte den Kopf schief und verschränkte die Arme, als halte er ihn für zurückgeblieben. »Ich sag doch: Das müssen die Pilze sein. So’n krankes Zeug kann’s nicht geben, also sind wir dicht. Ganz einfach.«
Harald begann zu dämmern, dass die Kommunikation mit dem Jungen eine Herausforderung werden würde.
»Hast du etwas dagegen, wenn wir ein wenig die Umgebung erkunden, während wir uns unterhalten?« Er deutete auf die zerbrochene Fensterscheibe. »Ich würde gerne von den Wänden weg.«
Tom wirkte wenig begeistert. »Alter, aber … der Gestank …«
Wenn Harald eines über Teenager wusste, dann, dass eine strenge Hand manchmal Wunder half. »Du musst dir eben die Nase zuhalten. Jetzt sei keine Memme und komm. Du kannst mir glauben, dass du diesem Ding von eben bestimmt nicht begegnen willst!«
»Ich bin keine …«, fuhr Tom auf, richtete den Blick dann aber auf seine Schuhe. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und zuckte erneut mit den Schultern. »Fernanda wär mir zwar lieber, aber ich schätze, das geht schon irgendwie klar.«