Crossover. Fred Ink
zwischen zwei rostigen Stahlträgern hindurch und betrat den nächsten Flur.
Hier war es so dunkel, dass Birgit kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Sie befand sich tief in den Eingeweiden des Gebäudes, seine Verdauungsgase lagen schwer in der feuchtwarmen Luft.
»Kati? Wo bist du, Schätzchen?«
Mehrere Herzschläge lang war Birgit sicher, sie verloren zu haben. Sie hatte wahrscheinlich einen anderen Weg eingeschlagen, das Gebäude war so riesig, dass sie sie niemals rechtzeitig finden würde. Wahrscheinlich war sie längst in eine Spalte gefallen oder hatte sich an einer scharfen Kante den Hals aufgeschlitzt. Oder etwas hatte sie vor Birgit gefunden. Etwas mit Zähnen, das hungrig war.
»Hundi!«
Birgits Herz machte einen Satz und schlug anschließend noch schneller. »Kati? Kati! Wo bist du?«
Glockenhelles Kichern antwortete ihr aus der Dunkelheit, hallend und verzerrt, so als stiege es aus dem Gewölbe einer Krypta auf. Obwohl Birgit sich dagegen sträubte, blitzte ein Bild vor ihr auf. Kati, auf einem Altar, die Händchen über einem blütenweißen Kleid gefaltet. Ihre Augen waren geschlossen und man musste nicht erst die fahle Farbe der Wangen bemerken, um zu wissen, dass kein Leben mehr in ihr steckte …
»Nein!«, zischte Birgit. Etwas regte sich in ihr, straffte ihren Rücken, gab ihr Kraft. Entweder war es Gott, der ihren Willen stärkte, um sie durch das finstere Tal zu führen, oder es handelte sich um eine Macht, die nur eine Mutter verstehen konnte. Vielleicht traf ja beides zu.
»Ich komme, Süße! Warte auf Mami!«
Sie streckte die Hände aus und ging weiter. Obwohl ihre Augen sich allmählich an die Lichtverhältnisse gewöhnten, kollidierte sie ständig mit irgendwelchen Gegenständen. Manches davon erkannte sie – etwa das von Rost zerfressene Metallskelett eines Bürostuhls –, manches glaubte sie, zu erkennen – wie einen unförmigen Klumpen schleimbedeckten Kunststoffs, der entfernt an einen Kopierer erinnerte. Und wieder anderes wollte sie lieber nicht identifizieren. Die länglichen Umrisse zum Beispiel, die vollkommen von transparenten Blasen bewachsen waren und die Formen von in Agonie erstarrten Menschen annahmen, wenn man zu genau hinsah.
Sie wusste, dass Kati nicht warten würde. Kati tat so gut wie nie, was man ihr sagte. Nicht, weil sie ein unfolgsames oder gar böses Kind gewesen wäre, nein: Sie war einfach zu schnell abgelenkt. Eindrücke rauschten durch den Verstand des Mädchens wie Herbstwind über ein Feld voller Laub. Gedanken wurden aufgewirbelt und verteilten sich chaotisch, sobald Kati etwas Neues wahrnahm. Sie vergaß einfach, was man von ihr wollte, oft innerhalb von Sekundenbruchteilen. Angesichts eines »Hundis« war an das Befolgen von Anweisungen also im wahrsten Sinne des Wortes überhaupt nicht zu denken.
»Kati? Schatz?« Sie musste sie bremsen, Gegenimpulse setzen, um sie zu verlangsamen. »Was sagt der Frosch?«
Frösche waren Katis Lieblingstiere. Sie mochte sie noch mehr als Hunde. Würde jetzt einer an ihr vorbeihüpfen, hätte sie das andere Ding in Nullkommanichts vergessen.
Aber Birgit war froh, dass Kati nicht »Froschi« rief. Gott allein wusste, wie ein Wesen aussehen mochte, das ihre Tochter für ein Amphibium hielt – hier, an diesem Ort. Birgit war der Himmel mit den beiden Sonnen keineswegs entgangen, genauso wenig wie der rote Pflanzenbewuchs, der einige Meter jenseits des bröckelnden Asphalts begann, als hätte man eine Linie mit dem Lineal gezogen. Aber sie hatte diese Beobachtungen in einen entlegenen Winkel ihres Verstands gesperrt. Kati war das Wichtigste. Solange sie nicht in Sicherheit war, konnte ihr alles andere gestohlen bleiben.
Sie kam an mehreren Türen vorbei, die noch in den Rahmen steckten und wie kariöse Zähne vor sich hinfaulten. Ein Gewirr aus Kabeln baumelte von der Decke; mit dem Unterarm wischte sie es weg und sah sich gleich darauf einem Rechteck aus umfassender Schwärze gegenüber. Sie zögerte, und das rettete ihr vermutlich das Leben.
Birgits nächster Schritt trat in leere Luft. Sie schrie auf, ruderte mit den Armen und musste erkennen, dass sie das Gleichgewicht nicht halten konnte. Auf der Suche nach Halt griff sie um sich, kippte vornüber … und landete auf der obersten Stufe einer Treppe. Ein matschiges Knirschen ertönte. Offenbar war der Beton hier genauso marode wie im Rest des Gebäudes.
Sie atmete japsend, griff sich erst ans Herz und dann ins Gesicht. Kalter Schweiß blieb an ihrer Hand haften.
Das Kichern erklang wieder. Es war nicht mehr weit entfernt.
»Hundi ustig!«
Weiter, Birgit musste weiter! Sie streckte die Arme aus, ertastete rechts von sich eine feuchte Wand und stützte sich dagegen, während sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte.
Was, wenn die nächste Stufe wirklich fehlt?, fragte sie sich, oder dein Gewicht die Treppe nachgeben lässt?
Sie schluckte und verdrängte die Sorgen. Falls ihr etwas geschah, so wäre es Gottes Wille. Und sie war sich ziemlich sicher, dass Gott ihr nichts Schlimmes zustoßen lassen würde. Immerhin hatte er ihr Kati geschenkt. Es war gewiss in seinem Sinn, dass sie das Mädchen zurück ans Tageslicht führte.
»Hundi ustig«, quiekte es abermals unter ihr. Birgit fragte sich, auf der Grundlage welcher Sinneseindrücke ihre Tochter feststellen konnte, dass das Wesen unterhaltsam war. Die Dunkelheit umschloss alles dermaßen dicht, dass sie selbst noch nicht einmal Umrisse wahrnahm.
Sie wäre beinahe der Länge nach hingefallen, als der Weg plötzlich eben wurde. Prüfend griff sie um sich und traf mit der Handfläche auf eine Wand direkt vor ihr. Die Treppe beschrieb eine Kehre! Und dort, auf der linken Seite … waren das Stufen? Sie konnte sie sehen, wenn auch nur ganz schwach.
Wo kam das Licht her?
»Schatz? Bist du da unten?«
»Mami! Mami, Hundi!«
Sie war jetzt ganz nah! Beinahe hätte Birgit vor Erleichterung geschluchzt. Sie beeilte sich, die drei Schritte zum nächsten Treppenabschnitt zurückzulegen, in Richtung des bläulichen Schimmers. Ihr Fuß traf auf die erste Stufe, sie sah nach unten … und erstarrte.
Kati stand nur wenige Meter entfernt, auf dem nächsten Absatz. Einen Schritt vor ihr gähnte ein finsterer Abgrund. Wohin auch immer die Betontreppe früher geführt hatte, jetzt endete sie im Tod.
Als wäre ein drohender Sturz nicht grauenhaft genug, befand sich neben Kati dieses … Ding. Es war die Quelle des Leuchtens, Licht strömte aus seinem Körper wie aus einer Laterne. Birgit hatte etwas Derartiges niemals zuvor gesehen. Augenblicklich sprang sie dasselbe Gefühl an wie bei der Betrachtung der vermodernden Knochen. Das hier war ein Feind. Diese Spezies und die menschliche Rasse konnten nicht koexistieren. Was immer es sein mochte, es war ihrer Tochter und ihr so sicher böse gesinnt, wie abends die Sonne unterging. Unmöglich konnte so etwas Gottes Schöpfung entspringen, es stellte den Inbegriff der Blasphemie dar.
»Kati, geh da weg!«, keuchte sie mit staubtrockener Kehle. »Komm zu Mami.«
Kati schob schmollend die Unterlippe vor und deutete auf das Scheusal. »Hundi!« Ihre Augen leuchteten wie die einer Dreijährigen, obwohl sie erst vor Kurzem ihren zwölften Geburtstag gefeiert hatte.
Das Wesen zitterte jetzt. Sein Pelz stellte sich auf, es öffnete das Maul. Nadelartige Zähne standen in sämtliche Richtungen ab, der Rest des Schädels war im Vergleich dazu winzig. Drei überdimensionale Augen nahmen den größten Teil davon ein, starrten lidlos und hasserfüllt. Es war der Kopf einer bizarren Tiefseekreatur, montiert auf einen Primatenkörper.
Das Monster war nicht sonderlich groß, es reichte Birgit vielleicht bis an die Hüfte. Trotzdem flößte sein Anblick ihr schreckliche Angst ein. An den Stellen, wo der zottige Pelz zurücktrat und faltiger Haut Platz machte, trat das Leuchten hervor. Extremitäten, Gesicht, Bauch und Genitalregion … sie verströmten kaltes, blaues Licht, das alles, worauf es fiel, krank und welk erscheinen ließ.
Es handelte sich um Biolumineszenz. Birgit hatte keine Ahnung, woher sie das wusste, aber sie wusste es. Das Ding leuchtete von innen heraus, und es war dabei so transparent wie die Kugelgewächse, die sie weiter oben gesehen hatte. Ungläubig