Crossover. Fred Ink

Crossover - Fred Ink


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      Das Gefühl der Unwissenheit war schrecklich. Obwohl er sich an einem Punkt seines Lebens befand, der von diesem Stadium weit entfernt war, kam Harald sich wie ein Neugeborenes vor, das unsanft aus dem Körper der Mutter gerissen worden war und nichts von der Welt verstand.

      »Ich bin Harald Strehlau«, verkündete er, um sich selbst vor Augen zu führen, dass er nicht alles vergessen hatte. »Und ich bin kein Hasenfuß.«

      Mit diesen Worten stand er auf.

      Seine Füße trafen auf kaltes, hartes Material, Beton vielleicht. Steinchen bohrten sich in seine Haut, doch er verzog keine Miene. Haralds Körper hatte im Lauf der Jahre an Empfindsamkeit eingebüßt, und außerdem war er Schmerzen gewohnt.

      Er schlurfte los, in Richtung des Fensters. Vielleicht würde ein Blick nach draußen seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen.

      Bei jedem stolpernden Schritt kickte er versehentlich Gegenstände vor sich her. Manche boten kaum Widerstand und verursachten keinerlei Geräusche. Sie glitten beiseite wie weggeworfene Taschentücher. Andere klapperten oder rasselten, als wären es Schrauben und Kettenglieder. Wieder andere klangen hohl und hell, Harald dachte an leere Joghurtbecher und dergleichen.

      Er mochte Joghurt nicht. Daran erinnerte er sich.

      Der Gedanke an kühle Milchprodukte gab ihm das nächste Rätsel auf: Ungeachtet der Tatsache, dass er praktisch nackt war, fror er nicht. Dabei wurde ihm eigentlich nie wirklich warm. Weshalb war ihm nicht kalt, obwohl der Boden ihm offensichtlich Wärme entzog?

      Es war die Luft, wurde ihm klar. Das Klima innerhalb des Zimmers war schwül, dampfig, wie im Dschungel. Als würden die Verwesungsgase, die ringsum aufstiegen, die Umgebung aufheizen.

      Er erreichte das Fenster. Der Sims auf Bauchhöhe war nur noch teilweise vorhanden. Morsche Splitter brachen unter Haralds Fingern ab. Die Scheibe selbst war etwa einen Quadratmeter groß und vollkommen verdreckt.

      Er rieb mit dem Daumen darüber, und nachdem er zuerst rostrote Farbtöne in das Grau geschmiert hatte, legte er allmählich eine klare Stelle frei. Ein Lichtstrahl stach durch die entstandene Lücke.

      Harald nahm jetzt die gesamte Hand zur Hilfe. Es war ihm egal, ob er schmutzig wurde – immerhin trug er keine Kleidung, die er dabei hätte ruinieren können. Das Glas knirschte immer wieder, und mit der Zeit erkannte Harald den Grund dafür: Ein Spinnennetz aus Rissen durchzog es. Er gab Acht, nicht zu fest zu drücken, damit die Scheibe nicht unter seiner Hand zerbrach und ihm womöglich die Pulsadern aufschnitt. Auch so wollte er dem Tod nämlich nicht gegenübertreten.

      Langsam tat sich eine kreisförmige Fläche auf. Warmer Schein fiel herein und brachte Harald zum Schwitzen. Auch das noch! Er konnte sich nicht erinnern, wann seine Schweißdrüsen zuletzt etwas abgesondert hatten. Aber was hieß das schon – immerhin erinnerte er sich auch sonst an kaum etwas.

      Er stützte sich keuchend auf die Überreste des Simses, beugte sich vor und spähte hinaus. Seine altersschwachen Augen offenbarten nicht viel, aber was sie sahen, war nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen.

      Wie es schien, befand er sich auf dem Land. Bis zum Horizont ragte nicht ein Umriss auf, der wie ein Gebäude wirkte. Stattdessen standen dort knorrige, verästelte Gebilde, die zu unregelmäßig geformt waren, um Bäume zu sein. Aus irgendeinem Grund glaubte Harald, in den verkrümmten, kauernden Formen eine Präsenz zu erkennen. Etwas, das sprungbereit lauerte. Aber das lag bestimmt an seinen Augen, immerhin sah er alles verschwommen.

      Der Boden, der sich zwischen den Umrissen ausbreitete, schien bewachsen zu sein. Er war von einer Masse bedeckt, die leicht hin und her wogte, wenn der Wind durch sie strich.

      Aber sie hatte die falsche Farbe.

      »Gras ist nicht rot«, flüsterte Harald sich selbst zu.

      Und der Himmel darüber, wolkenlos, mit der unerbittlich brennenden Sonne darin …

      »Lila?«

      Die Glasscheibe musste schuld sein. Oder seine Augen. Aber mit Farben hatte er eigentlich nie ein Problem gehabt, eher mit der Nah- und Fernsicht.

      Dann spuckte Haralds Verstand eine Erklärung für sämtliche Unstimmigkeiten aus, und diese Erklärung klang so schlüssig und gleichzeitig erschreckend, dass sich etwas in ihm zusammenzog.

      Bin ich vielleicht das Problem?

      Er hatte offensichtlich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aus welchem anderen Grund sollte er in dieser Müllkippe hausen? Womöglich war alles genau so, wie es sein sollte, wie es schon immer gewesen war … bis auf ihn. Was, wenn er sich in seinem Wahn nur ausmalte, dass der Himmel blau und das Gras grün sein müssten?

      Er begann zu zittern. Ein frustrierter Aufschrei brach sich Bahn. Haralds rechte Hand schlug, einem zornigen Impuls folgend, auf die verschmutzte Fensterscheibe ein.

      Das Glas splitterte, eine Scherbe schnitt tief in die Handfläche hinein. Während Harald ein zischender Schmerzenslaut entwich, fiel gut die Hälfte der Scheibe in sich zusammen und verschaffte ihm zwei beunruhigende Erkenntnisse: Erstens ging draußen kein Wind. Nicht das leiseste Lüftchen kam durch die gezackte Öffnung hereingeweht.

      Was immer das Gras bewegt, strömende Luft ist es nicht.

      Zweitens war keine Änderung bei den Farben auszumachen. Die Fensterscheibe war nicht der Grund für Haralds gestörte Wahrnehmung.

      Entweder bin ich also tatsächlich verrückt, oder … oder …

      Er hielt sich die blutende Hand. Verzweifelt legte er den Kopf in den Nacken, sah hinauf in den lilafarbenen Himmel … und keuchte entsetzt. Seine Augen waren zwar schlecht, aber nicht so sehr, dass er doppelt sah.

      »Zwei«, stammelte er, »zwei Sonnen.«

      Nichts stimmte, und doch war er nicht tot. Obwohl der Horror, der Harald plagte, geistiger Natur war, empfand er ihn als belastender als alles, was er in seinem Leben hatte ertragen müssen. Nichts kam diesem Entsetzen gleich, nicht einmal das Kauern im Graben, über ihm das Dröhnen von Geschützfeuer und die Blitze von Explosionen. Kalter Schlamm im Nacken und stinkendes Gummi vor dem Gesicht, während um ihn herum seine Kameraden zerfetzt wurden oder Blut erbrachen, weil sie etwas von dem Gas eingeatmet hatten …

      Das war schrecklich gewesen, über alle Maßen falsch und grässlicher, als Harald es sich vor dem Krieg hätte träumen lassen. Aber es war trotz allem rational erfassbar gewesen. Es hatte an seinem Verstand genagt, aber er hatte es nachvollziehen und somit irgendwann abschütteln können. Was er damals gesehen hatte, war das Schlimmste gewesen, zu dem die menschliche Rasse imstande war. Hier schienen jedoch Kräfte am Werk zu sein, die weit über die Fähigkeiten von Menschen hinausgingen, und das ließ Harald bis ins Mark erschauern.

      Nun musste er doch urinieren, aber es lag nicht daran, dass seine Prostata noch weiter angeschwollen wäre. Die Angst drückte auf seine Blase.

      Während er noch angestrengt versuchte, sein einziges Kleidungsstück nicht zu beschmutzen, geschah das Schlimmste.

      Erst spürte er es mehr, als dass er es hörte. Sinne, die im grausamen Überlebenskampf geschärft worden waren, ließen sich auch vom Alter nicht gänzlich abstellen. Mit plötzlicher Gewissheit wusste Harald, dass sich etwas näherte. Etwas Bedrohliches. Es musste das Klirren des Glases gehört haben, oder sein Gejammer. In wenigen Sekunden würde es vor dem Fenster stehen.

      Harald biss sich auf die Unterlippe und ging in die Hocke. Seine Oberschenkel brannten, die Muskeln waren seit Ewigkeiten nicht dermaßen gedehnt worden. Die Knie knallten so laut, dass der Feind es mit Sicherheit hörte. Schmerzen schossen in die Gelenke. Harald musste sämtliche Willenskraft aufbieten, um den Mund geschlossen zu halten. Er presste sich an die fleckige Wand unterhalb der Fensterscheibe und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen.

      Ein Schnauben ertönte, tief und voluminös. Was immer dieses Geräusch ausstieß, verfügte über einen Brustkorb, der mindestens so groß wie der eines Elefanten war. Dann folgte das Schnüffeln. Langsam, fast gemächlich, feucht und zischend. Ein Schatten verdunkelte das Fenster


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