Crossover. Fred Ink

Crossover - Fred Ink


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      Der Wachmann namens Max Ernst zerrte fluchend an einem rostigen Metallrohr. Es gehörte zu einem ganzen Bündel von Leitungen, die einmal an der Decke des Flurs verlaufen waren, diesen jetzt aber blockierten, da sie sich zu einer sperrigen Barrikade verkeilt hatten.

      Max wusste nicht mit Sicherheit, ob er Wachmann war, doch es erschien ihm wahrscheinlich. Zum einen war da seine Uniform. Warum sollte er so etwas tragen, falls es nichts mit seinem Beruf zu tun hatte? Gut, es hätte eine Verkleidung sein können, aber falls das stimmte, würde es sich um das wohl langweiligste Kostüm aller Zeiten handeln. Und die Pistole war keine Attrappe: Als er sie vorhin aus dem Holster gezogen hatte, hatten seine Finger mit geübten Bewegungen das Magazin herausschnellen lassen und den Sicherungshebel gecheckt.

      Zum anderen stand die Tatsache im Raum, dass er sich auf einer unbewussten Ebene in dem Gebäude auskannte. Er konnte nicht sagen, was die einzelnen Räume beherbergten oder in welcher Richtung ein bestimmtes Ziel lag, aber wenn er einen Korridor betrat, wusste er, wie viele Türen von ihm abgingen und ob er andere Wege kreuzte. Solche Dinge speicherte man nur ab, wenn man besagte Korridore schon oft beschritten hatte, oder nicht?

      Deswegen war Max Wachmann. Ziemlich sicher. Und er arbeitete in diesem riesigen Gebäudekomplex.

      Allerdings glaubte er kaum, dass man jemanden benötigte, um eine Einrichtung zu bewachen, die dermaßen im Verfall begriffen war. Etwas an dem Gebäude war ganz und gar nicht so, wie es sein sollte – nein, nicht etwas, sondern vieles. Ein Unglück musste sich ereignet haben, etwas Schlimmes, das ihm die Erinnerung geraubt und den Komplex in eine Ruine verwandelt hatte. Ein Anschlag vielleicht? Wollten irgendwelche Irre hier den elften September nachstellen?

      Endlich gelang es ihm, das Rohr zur Seite zu stemmen. Es kreischte wie eine Katze, der man auf den Schwanz trat, als es über die anderen Leitungen schabte. Noch eines, dann konnte er sich durchzwängen.

      Seine Gedanken kehrten zu der Anschlag-Theorie zurück. Wären hier kürzlich Bomben detoniert, müsste doch Staub in der Luft liegen, oder nicht? Es sollte Brände geben, nach giftigem Rauch riechen … Stattdessen stank es wie im Inneren eines Komposthaufens und überall wuchs abstoßendes Zeug. Sah eher nach der Oberfläche eines fremden Planeten als nach dem Schauplatz eines Angriffs der Mullahs aus.

      Die Kleine schrie wieder und holte ihn damit in die Realität zurück. Die Stimme der Mutter vermischte sich mit den Schmerzenslauten. Sie war so schrill und angsterfüllt geworden, dass sie von der des Mädchens kaum noch zu unterscheiden war.

      Max zog mit aller Kraft. Schmerzen explodierten in seinen Oberarmen, dunkle Punkte schwirrten vor seinen Augen. Er brüllte, wie er es manchmal tat, wenn er im Fitnessstudio ein besonders schweres Gewicht stemmte.

      Mit einem hohlen Krachen brach das Rohr ab. Er schleuderte es fort und duckte sich in die entstandene Lücke. Die Bruchstelle war scharfkantig und so voller Rost und Dreck, dass ihr bloßer Anblick ihn mit Tetanus zu infizieren schien. Aber es gelang ihm, sich nicht daran zu verletzen.

      Dann war er durch, die Gabelung lag vor ihm. Links ging es in den Gang, aus dem die Hilferufe drangen. Es war verflucht düster hier, aber er brauchte sich schließlich nur an dem Lärm zu orientieren. Um alles andere würde er sich kümmern, wenn es soweit war. Max trabte los.

      Er stieß sich Schienbeine und Ellbogen, zertrat Dinge, die auf grässliche Weise knackten oder platzten, und musste immer wieder dunkle, sperrige Umrisse zur Seite zerren. Ein unsichtbares Band legte sich um seine Kehle, während er sich den Schreien näherte. Jeder Laut, der von vorne zu ihm drang, zog das Band ein wenig enger zu. Bald staute sich der Druck bis in seinen Magen.

      Im Moment war vollkommen nebensächlich, was hier geschehen war. Ein Kind durfte nicht dermaßen leiden. Eine Mutter sollte so etwas nicht miterleben. Er musste eingreifen!

      Max wusste, dass er sich einer Treppe näherte, die ins erste Untergeschoss führte. Was sich in diesem Untergeschoss befand, wollte ihm nicht einfallen. Aber ihm waren die Überreste der vielen Computer nicht entgangen. Oder die Räume voll zerbröselter Kacheln, in denen Metalltische vom Rost zerfressen wurden. War das hier so etwas wie eine Forschungseinrichtung? Könnte dort unten etwas eingesperrt gewesen sein, das entkommen war, als was auch immer geschah?

      Die Mutter kreischte: »Lass sie los, lass sie los!«

      Wurde die Kleine von einem solchen Etwas angegriffen?

      Was auch immer vor sich ging, Max musste etwas dagegen unternehmen. Er befand sich an einem gefährlichen Ort, und dort vorne waren andere Menschen. Die ersten, die er gefunden hatte, seit er vor einiger Zeit zu sich gekommen war. Vielleicht wussten sie Bescheid. Und wenn nicht, konnten sie ihm immerhin dabei helfen, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen.

      Er griff sich im Laufen an die rechte Hand, spielte an dem goldenen Ring herum, der suggerierte, dass er verheiratet war.

      Bestimmt habe ich auch Kinder, dachte er. Es zerriss ihm das Herz, die Kleine so leiden zu hören.

      »Auaaa!«, kam es von vorne, hallend und jetzt ganz nah.

      »Verschwinde! Du kriegst sie nicht, du … aaah!«

      Max reduzierte das Tempo, um nicht die Treppe hinabzustürzen. So schnell es bei den herrschenden Lichtverhältnissen möglich war, tastete er sich nach unten. Die Stufen waren intakt, knirschten aber bedrohlich, wenn er sein Gewicht darauf verlagerte.

      »Halten Sie durch!«, schrie er. »Ich bin gleich da.«

      »Bitte beeilen Sie sich!«, schluchzte die Mutter.

      Max erreichte einen Treppenabsatz und bemerkte das blaue Licht.

      »Was zum …«

      Zwei Schritte später sah er es. Das Wesen, das es nicht geben durfte. Es hatte das Mädchen zu Boden geworfen und presste lange, dürre Finger in dessen Gesicht, während es das Maul aufriss und etwas herausgleiten ließ, das aussah wie eine dornenbesetzte Zunge. Ein Arm des Mädchens war blutig, die Mutter lag ein Stück daneben, halb gegen die Wand gesunken, und hielt sich den Kopf. Unter ihrer Hand quoll ebenfalls Blut hervor.

      Max’ Blick blieb einen Moment lang an ihr hängen. Sie hatte schulterlanges, rotes Haar, das an einer Stelle von einer weißen Strähne zerschnitten wurde. Ihr Körperbau war zierlich, das Gesicht ungeachtet der darin eingegrabenen Furcht hübsch. Die Kleidung, die sie trug, unterstrich ihre Vorzüge jedoch nicht. Jeans, dunkles Top, bequeme braune Schuhe. Keine Schminke. Sie wirkte auf Max nicht gerade selbstbewusst.

      »Tun sie etwas, bitte!«, kreischte sie wie von Sinnen. »Es will ihr Gesicht fressen!«

      Max hielt die Waffe bereits in der Hand. Ohne zu zögern, drückte er ab.

      Die Kugel traf das Wesen in die Schulter. Leuchtende Flüssigkeit spritzte auf die Wand des Treppenhauses und rann gen Boden. Es wirkte auf Max wie eine bizarre Botschaft, die mit Geheimtinte geschrieben worden war.

      Das Wesen fiel nicht etwa um, sondern fauchte erbost. Es sperrte den Rachen noch weiter auf und sah in Max’ Richtung. Die Krallenhände ließen den Kopf des Mädchens los und wurden drohend auf ihn gerichtet. Max starrte in das grässliche Gesicht hinein, das von innen zu glühen schien. Drei Augäpfel trieben in einer halbdurchsichtigen Masse aus Knochen und Zähnen, Blutgefäße wanden sich in alles hinein wie Maden. Es war das Hässlichste, was er jemals gesehen hatte, und der Anblick bannte ihn dermaßen, dass sein zweiter Schuss zu spät kam.

      Er sah noch, wie das Monster sich anspannte. Doch als die Waffe in seinen Händen bockte, war es nicht mehr da. Max blickte sich panisch um, dann entdeckte er es wieder. Wie ein Irrwisch sprang es auf ihn zu, stieß sich von Treppenstufen und Wänden ab, als würde es der Schwerkraft nicht unterliegen. Dass es verletzt war, konnte man lediglich der Spur aus leuchtenden Spritzern entnehmen, die es hinterließ.

      Max schoss, wieder und wieder. Aber das Vieh war einfach zu schnell für ihn.

      »Passen Sie auf!«, schrie die Mutter.


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