Rodinka: Meine russische Kindheit. Lou Andreas Salomé
»Können wir denn nicht von jetzt ab zu dritt Pferde spielen?«
»Ja, aber der Kutscher, der bin ich: Das weißt du!« fiel Boris verdüstert ein. »Ja, ein für allemal ich! – Es ist meine Pflicht, meine Schwester selbst einzufahren!« erklärte er Witalii.
»Wozu denn auch Kutscher sein? Das ist es ja gerade, daß wir Pferde sein wollen!« Witalii blickte dabei mich, nicht ihn an. »Zwei echte Steppenpferde werden wir sein – zwei solche, die den Schlitten umwerfen. Das hab’ ich gesehen. Kopfüber flog der Kutscher. Brach das Genick.«
Eine so lange Rede hatte Witalii noch gar nicht gehalten. Zornglühend trat Boris auf ihn zu.
»– Ich fliege aber nicht kopfüber! Ich breche mir nicht das Genick. Untersteh dich, das noch einmal zu sagen!«
Witalii sah ganz erstaunt auf ihn hin.
»– Wie denn –? Jeder tut doch, was er kann. Das ist die einzigste Spielregel. Habt ihr denn die nicht? Willst du denn zahme Pferde? Soll ein Pferd sich ruhig knechten lassen, damit du nicht fliegst?«
Für ängstlich wollte Boris nicht um die Welt gehalten werden.
»– Nun, meinetwegen – aber auch ich werde – wart’s nur ab!« gab er zur Antwort, ohne ausch nur zu merken, daß sie sieb im Eifer der Sache bereits duzten.
Witalii nickte. »Also übe dich gut im Einfahren – und auch im Hinfallen übe dich, damit du günstig fällst«, riet er freundlich. »Sieh so –«: und voll Eifer machte er eine Schwenkung, »– dann wirst du noch am ehesten nicht zerstampft.«
Und wieder nahm er die Hacken zusammen, ganz so förmlich wie bei meinem Eintritt, und gab uns abschiednehmend die Hand.
»Ich werde also herkommen. Jetzt gehe ich nach Hause.«
»– Aber warum denn schon jetzt – warum denn?« rief ich trauernd. »Gerade jetzt muß Großpapa bald kommen.«
Doch Witalii war bereits im Vorzimmer.
»Man weiß zu Hause nicht, wo ich bin. Ein andermal«, erklärte er, während ich ihm nachlief.
»– Weiß man nicht? Aber Ihr Onkel wollte Sie ja selbst herbringen?« erinnerte ich mich jetzt.
»Ja –. Aber mir schien: besser so. Ich bring ihn schon noch.« Witalii fuhr in den Pelz, den der alte Ossip ihm entgegenhielt, und schüttelte uns, diesmal weniger förmlich, die Hände. Als er dann schon halb aus der Tür war, wandte er sich noch einmal rasch um und tat einen forschenden Blick nach meinen dünnen Waden in schwarzen Strümpfen, die in ihrer ganzen Länge unter meinem Kleinmädchenrock sichtbar waren.
»– Galoppieren Sie täglich – aber bitte: täglich!« empfahl er mir dringend, zu Ossips ungemessenem Erstaunen, und sprang die Stufen hinab.
Mit gemischten Gefühlen blickten wir hinter ihm drein, bis zur Wendung der Treppe – aufgeregt über die neuen Aufgaben, die so plötzlich unserer harrten. Und doch verhehlten wir uns diese Gemütsbewegung gegenseitig, und nach Witaliis Abgang war kaum zwischen uns von ihm die Rede.
Als wir aber am nächsten Morgen, einem Sonntag, wieder in unserer »Manege« spielten, da schien es gar nicht ein bloßes Spiel mehr. Mit besorgter und strenger Miene fuhr der Kutscher das neue Steppenpferd ein, und ich meinerseits galoppierte und wieherte mit solcher Hingebung durch alle Zimmer, daß ich selbst nachts im Traum nicht aufhören konnte, ein Pferd zu sein, und in der Frühe ganz erstaunt als kleines Mädchen erwachte.
Mir sagte diese Lebensweise ungemein zu, obschon ich ein Pferd mit schlechten Absichten war: Ausguck haltend nach einem Bruderpferd, das es lehren sollte, mit ihm durchzugehen.
Es kam nicht dazu, daß wir zu dreien Pferde spielten. Bald nach seinem Besuch bei uns wurde Witalii von den Masern befallen, und als er dann genesen war, kehrte er zu seiner Mutter zurück auf das Familiengut »Ródinka« im Jaroslawlschen Gouvernement. Nur der Großvater hatte ihn nochmals aufgesucht, und es schien, als seien sie dabei feurige Freunde geworden, der Alte und der Junge. Jedenfalls sprach der Großpapa stets in solchem Stil von Witalii, und dadurch blieb auch in uns die Erinnerung an ihn höchst lebendig.
Etwa ein halbes Jahr später, als Boris und ich ein paar Osterfeiertage beim Großpapa zubrachten, überraschte uns unvermutet und inmitten der idyllischen Beschäftigung der Besuch von Madame Wolujew, Witaliis Mutter.
Der Großpapa saß im Hausrock, lesend und rauchend, am Kamin seines kleinen Salons, dessen Teppich wir unter dem Tisch lang hervorgezogen hatten, um uns darauf im russischen Osterspiel des Eierrollens zu ergehen. Die buntgefärbten Hühnereier kollerten von ihrer hölzernen Rutschbahn, einander nach Kräften zerstoßend, dem Großvater fast unter die Füße; über sein Buch hinweg mußte er aufpassen, daß dabei nicht geschwindelt wurde. Wer am meisten Eier anstieß, hatte von ihm ein Schokoladenei zu empfangen; standen beide Parteien gleich, so aß er diesen Gewinn selber auf. Davor ängstigten wir uns merkwürdigerweise am meisten, obwohl ein dem angeblich verspeisten Ei sonderbar ähnliches sich regelmäßig unter den übrigen Eiern wiederfand.
Bei Anmeldung des Besuchs war der Großpapa aufgesprungen und ging in seiner, ungeachtet des braunen Hausrocks, immer noch tadellos weltmännischen Haltung Witaliis Mutter, einer geborenen Gräfin Lensky, entgegen, sich wegen der Unordnung auf dem Teppich entschuldigend, den sie wie ein Eierland überschreiten mußte, um zum Sofa zu gelangen.
»Schnell! Alles zur Seite! Und marsch ins Nebenzimmer!« kommandierte er uns; sie jedoch verwehrte es:
»O nein! Auf keinen Fall! Hierbleiben! Sofort weiterspielen!« Und dies klang weit eher als ein Kommando, dem man ohne weiteres gehorcht.
»Nun denn – da es euch so gütig erlaubt wird«, – meinte der Großpapa.
»Gütig? Aber was fällt Ihnen bloß ein? Merkt’s euch, Kinder: Gütig ist die Irina Nikolajewna nicht! Und dann: Sie, mein lieber General, stehen zu Witalii – ja, selbst gegen mich, zu Witalii mit Feuer und Schwert! Nun also: Da steh ich zu Ihren beiden – und sehen Sie zu, daß es nicht mal gegen Sie ist – daß ich Ihnen da nicht so eine Kleine raube –«
So rasch sagte sie all das, mit einer so hellen Stimme und einer Unzahl lebhafter Bewegungen, während sie uns nacheinander mit ihren ganz lichtgrauen Augen anstrahlte – Augen, deren Blick Kundigeren vielleicht seine Schwachsichtigkeit verriet, dessen Innenausdruck dadurch aber nur um so selbstmächtiger zur Geltung gelangte.
Sie plauderte und fragte und lachte und schlug segnend ein Kreuz über uns erstaunte Kinder und setzte sich schließlich gar nicht auf das Sofa jenseits der Eier, sondern auf den erstbesten Stuhl, worauf sie anfing, ganz kleine Zigaretten zu rauchen.
Noch nie hatte sie das Haus betreten, kannte auch den Großpapa nicht anders als flüchtig, und weckte doch ein Gefühl, als gehe sie von jeher hier aus und ein und wisse längst um alles und jedes.
Wir verwandten keinen Blick von dieser Frau, die von vornherein mit uns im Bunde gewesen – die überhaupt mehr wie unseresgleichen wirkte als wie eine von den Großen und sich übrigens auch äußerlich neben Großpapas hoher, schlanken Reitergestalt gar klein ausnahm. Wundervoll schön fanden wir sie – mit dem lebendigen Gesicht und all dem Aschblond des gewellten Haares drum herum, das eigentlich aussah wie eine mächtige Wolke oder wie ein Heiligenschein, durch den der Kopf in lauter Licht überging.
Ganz schwarze Kleidung trug sie. Über der Brust ein altsilbernes Kreuz – deshalb wohl der Eindruck von Heiligenschein – und an einer zweiten Halskette ein Augenglas am Schildpattstiel, das in den kleinen vollen Händen wunderlich durch die Luft fuhr – denn bei ihrem lebhaften Gebärdenspiel riß sie das Glas des öfteren mitten in seiner Benutzung von den erschrockenen Augen fort, nur weil die Hand nicht stillhalten wollte.
Sehr bald befand sich Madame Wolujew im hellsten Streit mit dem Großpapa, Witaliis wegen. Das heißt: Der Großpapa mühte sich meistens nur, ein Wörtchen hier und da in ihren Redestrom einfließen zu lassen, und blickte dabei von Zeit zu Zeit beunruhigt nach uns Kindern, deren Seele nicht so gänzlich in den Eiern aufzugehen schien, als er gewünscht