Rodinka: Meine russische Kindheit. Lou Andreas Salomé
sie strahlte zwischen den alten Herrschaften! Mir erschien sie weit weniger schön als die lebendige Frau – und doch: Wie war sie schön – – –!
Zur Zeit, wo Boris und ich schon zu spielen aufhörten und Michael, unser Ältester – nach großem Familienkampf, ob er uns verlassen und in Deutschland studieren solle –, sich doch für das Bergchor-Institut entschied, geriet vorübergehend ein arideres Mitglied der Familie Wolujew in unsern Gesichtskreis: Witaliis Bruder Dimitrii.
Wenige Monate nach dem Ausbruch des russisch-türkischen Krieges war es, heiße Herbstzeit, worin nur der Großvater bereits den gemeinschaftlichen Landaufenthalt verlassen und seine Stadtwohnung wieder bezogen hatte – vielleicht um unserer, der beiden schulpflichtigen Enkel willen –, vielleicht aber auch, weil es ihn in der allgemeinen Unruhe der Tage nicht länger im Sommerhaus draußen litt, wo die Post nur einmal täglich einlief; denn wenn es auch nicht leicht etwas Weltbürgerlicheres geben konnte als den Vater meiner Mutter, so hatte er, selber von deutschem und französischem Emigrantenblut, doch bis vor wenigen Jahren dem russischen Militär angehört.
Seinen Stadträumen fehlte noch ihr winterliches Behagen; in den Vorhang- und teppichlosen Zimmern standen die Polstermöbel im mottenwehrenden Überzug, hingen Bilder und Wandleuchter mit Mull bespannt; der Großpapa jedoch, sonst ungemein empfindlich gegen diese Hundstagstoilette der Wohnung und ihren Kampfergeruch, saß tief versunken in den Inhalt von Zeitungen und Depeschen oder studierte an den Kartenplänen herum, die von den Wänden niedersahen.
An einem dieser Nachmittage, als ich aus der Schule zu ihm heimkam, schritt ein lang aufgeschossener blonder Mensch immer dicht hinter mir her und betrat mit mir zugleich die Wohnung. Kaum aber hatte Großpapa, an das Vorzimmer tretend, ihn erblickt, als er auch schon mit ausgestreckten Händen auf den fremden Menschen zuging.
Das war Dimitrii Wolujew. Zur Begrüßung ließ er sich kaum Zeit, ganz verstört rief er:
»– Helfen Sie uns! Witalii ist fort! Einfach auf und davon–! Und wo –? Nicht wahr: hier? Glauben Sie nicht auch: sicherlich hier –? Ach, ich hoffte: bei Ihnen!«
Der Großpapa nahm ihn mit sich und schloß die Tür hinter sich. Erst viel später, beim Abendtee, bekam ich ihn wieder zu sehen.
Dimitrii wurde mit mir bekannt gemacht, rang sich aber nur ein paar Worte dabei ab, bedauerte, daß meine beiden Brüder gerade an diesem Tage fehlten. Dann wanderten seine Gedanken sofort wieder zum eigenen Bruder zurück.
»Wenn Witalii zur Vernunft käme! Nur wieder zu uns käme! Wie soll man leben in der Angst um ihn!«
Er saß am Tisch vor seinem unberührten Glas Tee, die Hand ins blonde Haar gewühlt, das dicht, wellig und verworren war. Wie seine Mutter damals, redete er französisch.
»– Sie lieben ihn – und wünschen ihn doch zurück, Dimitrii«, bemerkte der Großvater, und ein feines Ohr konnte Tadel heraushören.
Dimitrii besaß Ohr dafür. Sein groß und rein geschnittenes Gesicht bedeckte sich mit fliegender Röte und Blässe wie ein sensitives Mädchengesicht.
»– Sterben würde ich für den Bruder!« stieß er heraus. »Aber bei uns sein muß er! Die Mutter will es. Der Mutter kann man sich nicht widersetzen. Auch mit Wünschen nicht.«
»– Ach ja –!« sagte der Großvater. Und es klang ergebungsvoll. Ganz erstaunlich wissend klang es.
Dann schwiegen beide, vielleicht in Gedanken an die Unwiderstehlichkeit von Madame Wolujew.
Aber nach einer Weile sagte der Großpapa schwer: »Gott gebe, daß uns unsere Nachforschung gelinge!« und, ablenkend: » Sie, Dimitrii, sehnten sich niemals fort von zu Haus?«
Dimitrii blickte auf. Seine großgeformten Züge wirkten nicht durch hervorstechenden Ausdruck von etwas einzelnem, von Blick oder Mund; erst jetzt, wo ein Lächeln drüberging, wurde er für eine Minute strahlend schön.
»– Ich –? Nein!« antwortete er rasch und lebendig. »Nein, Gottlob, ich habe keine Versuchungen, will nicht fort. – Und beim Militär, Gottlob, da haben sie mich zurückgestellt.«
»– Ist es nicht einsam in Ródinka?« steuerte ich zaghaft zur allgemeinen Unterhaltung bei.
»Einsam – wo die Mutter ist?! Meine Mutter – das ist: ein Haus voller Menschen — voll Leben, voll Freude, voll Bewegung – ach, die Mutter!«
Der Großpapa bewegte den Kopf, leise, zustimmend. Er wiederholte versonnen:
»– Ja – die Mutter –.«
»Schöneres als meine Heimat kann es in der Welt wohl schwerlich geben«, versicherte Dimitrii mir treuherzig. »Unsere Wälder, die Weite, über der im Herbst die Nebel stehen – die Dörfchen, die sich um die Kirche drängen – als um ihr Mütterchen in der Weite der Welt – die Kirchenglokken, wenn sie in den Frühling hinausläuten, in den späten, plötzlichen – der Frühling selber, der alles überblüht, überwältigt, wieviel Winter auch da war – bis man in ihm irrt und irrt und nicht mehr weiß, wo es läutet, und nicht mehr weiß, wo das Heiligtum zu Ende ist – und nirgends, nirgends hat es ein Ende – Grenzen –«
Er sprach und sprach, und man gewann den Eindrück: Ewig weiter hätte der so sprechen können, den Kopf gestützt in die rötlichen, langfingrigen Jünglingshände – jede Sorge mit dem lichten Wortbild überwältigend, überblühend, wie mit Frühling, ohne Grenzen. Auch das Winterlichste konnte ihm gewiß nicht leicht was anhaben.
Wir erfuhren nicht mehr viel über die sorgenvolle Angelegenheit. Dimitrii reiste wohl nach Hause, er kam kein zweites Mal. Und der Großpapa schwieg sich aus. Erst weit später kam uns Kindern zu Gehör, daß Witalii gefunden und gewaltsam zurückgebracht worden sei und Großpapa selbst diesmal seine Fügsamkeit habe erzwingen helfen.
Allmählich nahm der Krieg alle Teilnahme gefangen, drängte Persönliches mehr und mehr in den Hintergrund. In unserm deutschen Vaterhause saß ich mit den andern, nähte und zupfte Fäden oder half der Mutter im organisierten Frauenverein bei den Paketsendungen auf den Kriegsschauplatz. Boris, der als kleiner Junge einst hatte »russischer Dichter« werden wollen, dichtete schwungvolle Oden an die »fallenden Helden« – deutsch; mehrere junge Mädchen aus unserm deutschen Bekanntenkreis waren dem Roten Kreuz hinuntergefolgt; eins von ihnen erlag der Typhusseuche in den Baracken.
Als endlich am 10. Dezember General Totleben über Osman Pascha gesiegt und der Kaiser die Hauptstadt wieder betreten hatte, brach ein vorzeitiger Begeisterungsjubel in allen Schichten der Bevölkerung aus.
Da, wenige Wochen später, nach der erneuten Kriegserklärung Serbiens an die Pforte, kam ein Brief von Dimitrii Wolujew, der wie eine Bombe bei uns einschlug. Witalii, der Knabe, stand im Krieg, im Feuer. Zwischen Sohn und Mutter schienen Auftritte vorangegangen zu sein, die das als eine Flucht der Verzweiflung auffassen ließen, fast als eine Flucht in den Tod.
Auch jetzt äußerte der Großpapa kein Wort über seine eigene Auffassung, aber er ging umher wie von einer Art Schuldbewußtsein gedrückt. Ich dachte dann an das reizende Gesicht von Madame Wolujew, das ich in drei Aufnahmen im großen malachitnen Familienalbum gefunden hatte, wo es im Grunde ja nicht hineingehörte– und daß es Großpapa vermutlich nie so recht gelungen war, kräftig genug für Witalii einzutreten, wenn er sie ansah. Wie ich jedoch nach den drei Bildern im Album suchte, waren sie zwischen den Reifröcken und Großmutterhauben verschwunden – als seien sie von mir nur ein Traum oder als hätten all die alten Herrschaften sich gewehrt.
Für uns Geschwister war Witaliis Andenken durch diese Kriegsgeschichte jählings in blendendem Glanze neu aufgeflammt, fast in bengalischer Theaterbeleuchtung. Wie stark wir innerlich auch unter dem Druck der Kriegszeit standen, sie war uns doch nicht das gleiche allgemeine Erleben wie für geborene Russen; so empfing sie durch Witaliis Beteiligung am Kampf erst ihren persönlichen Charakter für uns. Nachdem wir jahrelang kaum noch seiner gedacht, wurde er plötzlich zum Mittelpunkt, um den sich der ganze Lärm des Tages, all die unklaren Vorstellungen von Waffenklirren und Kugelregen, zerschmetterten Leibern und Heldengeistern für uns sammelten. Die kleine persönliche Begegnung mit ihm