Rodinka: Meine russische Kindheit. Lou Andreas Salomé
als daß ihr vor wehe tuenden Gedanken der Kopf schmerzte und das Herz blutete. Ihre freudig gefaßte Haltung, wenn es galt zu helfen, zu leisten, ihre unentwegte Bereitschaft ließ das anfangs übersehen, bedeckte ihre tiefe Traurigkeit; darunter aber, unter diesem Strahlenmantel unschuldigen Opferdranges, wohnte die ursprüngliche Seele der kleinen Nadia fast ebenso verborgen, wie hinter heuchlerischer Priestermaske sich verstecken mußte die »schwarze Seele« Spiridons, des doppelten Verräters.
Ich weiß noch heute nicht zu sagen, ob Nadia irgendwie typisch war für die Frauen von Witaliis damaligem Umgang, denn er kannte ihrer mehrere, die uns fremd blieben. Hie und da schwirrte ein Name durch die Luft, einmal kam mir eine Fotografie zu Händen, welche machte, daß ich die nächsten Nachmittagsbutterbrote mit meinen Tränen salzte, dann stellte sich jedoch das Urbild als die schon vor einigen Jahren ins Ausland entwichene Wera Sassulitsch heraus, die auf den Stadthauptmann Trepow geschossen hatte, von den Geschworenen freigesprochen und vom Publikum auf den Schultern zum Gerichtssaal hinausgetragen worden war: die »erste der Terroristinnen« vor Organisation des Terrors. Witalii kam allmählich etwas seltener zu uns, benommen von Dingen, über die er uns nicht sprach – von denen aber geredet werden mochte in Nadias engem Hofstübchen, mit den gemeinsamen Freunden, so manche Nacht hindurch, während sie sich weigerten, dies bei uns zu tun: Wie sich später herausstellte aus begründeter Befürchtung, unser deutsches Haus zu einem verdächtigen zu machen.
Von unsern Verwandten – jenen verschiedenen Onkeln und Tanten, nach denen Boris und ich unsere Ostereier benannt hatten – blieb es dennoch nicht unbemerkt, daß bei uns junge Leute aus und ein gingen, die sich ungemein »russisch« benahmen, und kopfschüttelnd wurde mein Vater darauf aufmerksam gemacht. Möglicherweise teilte er sogar diese Besorgnis; geäußert hat er es jedoch nie. Denn stärker war in ihm das Widerstreben, jemanden in Wahl oder Form seines Umganges zu beaufsichtigen. Jederzeit nahm er an, seine Söhne ständen für ihre Schwester ein, und diese wiederum für den Ton des Kreises, mochte er im übrigen sich zusammensetzen aus wem immer es sei. Ich weiß nicht, ob dieses himmlische Vertrauen meines Vaters der Zeit, worin wir damals lebten, sonderlich angemessen war, allein dies weiß ich wohl: wie anspornend, ja geradezu haltgebend es während ihrer ganzen Jugend auf meine Brüder gewirkt, wieviel feine Scham, Vertrauen zu mißbrauchen, es auch in Witaliis Kameraden weckte. Überhaupt nur wenige von ihnen kamen, und diese selten nur. Dann freilich gerieten sie in heftigen Redekämpfen aneinander – und einig doch, auch mit den Brüdern, denn leichtbewegte, begeisterungsdurstige Jugend waren sie alle. Und allen voran die zarte, schüchternblickende Nadia – mit ihrer leisen, jeden Augenblick von Husten unterbrochenen Stimme –, der niemand es gleichtun konnte. Die sanfte Bestimmtheit, womit sie Pech und Schwefel regnen ließ über des Volkswohls Widersacher und vor dem Teufel selber nicht zurückschreckte, machten den Zuhörenden atemlos. Und ich sah es vor mir, wie sie auch ihrem Spiridon als einem Schädling der Gesellschaft eigenhändig, gleichmütig eine Bombe unter den Fuß gelegt haben würde, ohne den mindesten weiblichen Rachegedanken gegen ihn im Herzen. Witalii sagte am wenigsten. Manchmal stritt er gegen Nadia, wobei sie jedoch meist ihm überlegen blieb. Nicht so sehr durch ihren Standpunkt, als weil sie einen hatte. Denn immer sichtlicher schien Witalii in zwei Hälften gerissen durch seinen leidenschaftlichen Drang nach geistiger Selbstentwicklung und der Gewalt, die, aus seinem Volk auf ihn einstürmend, aus aller Vereinzelung herausriß.
Vieles von dem, was um mich vorging, verstand ich noch nicht, aber was ich deutlich sah, war eine eigentümlich beredte allmähliche Verwandlung in Witaliis Äußern: wie abgetragen seine Kleidung wurde, wie hager sein Wuchs. Nicht nur, daß er seinen keimenden Bart stehen ließ, sein Haar wachsen, wie es wollte, nicht nur, daß die Augen oft abwesend blickten, sich röteten um das Lid, gab ihm ein ungepflegtes Aussehen. Bei den Verwandten wohnte er offenbar längst nicht mehr. Wo? Und ließ man es ihm denn von Ródinka her an materiellen Mitteln fehlen? Sowenig wie jemals von Mutter oder Heimat, sprach er zu uns darüber ein Wort.
Großpapa war seinem alten Interesse für Witalii treu geblieben, wurde auch von ihm besucht, doch zweifle ich, ob er in irgendeiner Hinsicht mehr von ihm wußte als wir. Auch der Vater fand ein entschiedenes Wohlgefallen an Witalii; ihm gefiel dessen so kampfvoll durchgesetzter Studieneifer, ja gerade das Ungemessene daran, das sich kaum für eine einzelne Wissenschaft hätte entscheiden können, aus lauter Ehrfurcht vor Wissen überhaupt – aus dem Gefühl: »wissen« heiße: alles mitwissen. Witalii gehörte zu den wenigen, die der Vater in sein Allerheiligstes hereinnahm, mit dem er sich in sachliche Gespräche ernstlich vertiefte: ungestört von den geringen Kenntnissen dieses jungen Menschen, denn als wahrer Wissender sah er – wie der Herrgott im Punkt der Moral – lediglich auf die Gesinnung: die den Fortgeschrittensten immer wieder dem Lernbedürftigsten so innig ähnlich macht.
Mitunter konnte es scheinen, als ob der Vater mit seinem dem Außenleben abgekehrten Blick wahrhaftig geneigt sei, sogar Witaliis durchgeriebene Rockknöpfe und grausliche Bartstoppeln aus der Zerstreutheit des zukünftigen Gelehrten – gleichsam nach Auffassung der damaligen »Fliegenden Blätter« – zu erklären. Wie tief irrten wir uns aber über den Vater! Daß er es so aufzufassen schien, war bewirkt durch zarteste Zurückhaltung, die Witalii nicht als solche empfinden sollte – durch Wissen also auch in diesem Punkt. Aus gleich scheinhaften Gründen nahm man ja den Vater selber für den Gelehrten »wie er leibt und lebt«, ohne zu ahnen, weshalb er in dieser weltabgewandten Einseitigkeit verharrte: weil die einzige, lebendigste Verbindung zwischen ihm und der Heimat nur noch das sein konnte, was er wissenschaftlich arbeitete und wie allen so auch in erster Linie der Heimat als sein bestes Gut schenken durfte.
Ein Zwiespalt, nicht ganz ungleich dem, der Witaliis Wesen uneinig machte, war darin mit stiller Besonnenheit zum allein möglichen Austrag gebracht.
Gegen Winters Ende verließen die nächsten Kameraden Witaliis die Stadt, und bei diesem Anlaß erst wurde mir klar, daß er ihr Obdach, ihren Hunger, ihre Schwierigkeiten alle völlig mit ihnen geteilt hatte und daß er dies unter falschem Namen und Paß getan. Auch Nadia ging fort. Erschreckend hatte ihr böser Husten zugenommen, immer fiebriger erglänzten die blauen Augen, immer verschleierter klang ihre Stimme. Wir versuchten sie zur Abreise in ihre südlichere Heimat zu veranlassen, und wirklich entschwand sie uns –. Viel später erst erfuhren meine Brüder und ich, daß sie sich Handlungen zur Verfügung gestellt, deren Folgen sie in der Schlüsselburg noch rascher dem Tod überliefert haben werden, als infolge ihrer Schwindsucht geschehen wäre.
Dieses Sterben, das wir erlebten, barg sich so in seinem eigensten Geheimnis. Aber wieviel verlor auch ich schon mit Nadias persönlichstem Entschwinden! In all ihrer fanatischen Drangabe ans Politische lag doch ein Zug, der uns nicht nur unterschied, sondern auch einander anglich – ja fast als verbürgerliche er Nadia in größtem Stil an eben ihrer Familienlosigkeit. Nur daß ihre Brüder, nach Abertausenden zählend, ihr straßauf, straßab begegneten – nur daß sie zu Vater und Mutter trat, sobald sie eintrat bei Bauern im Dorf oder überarbeiteten Weibern in Fabriken – dehn, suchte sie sie auch ein wenig zu belehren zu allerlei Nutz und Frommen: Noch weit mehr grüßte sie sie in ihrem Herzen mit der stillen Ehrerbietung der Tochter, die ihnen nachzuleben trachtet.
Nie kann ich mich aber jetzt ihrer rührenden Gestalt erinnern, ohne gleichzeitig der seltsamsten Kunde zu gedenken, die uns nach Jahren, in Deutschland, durch eine Zeitungsnotiz über den Popensohn Spiridon zukam. Hiernach war dieser als Geistlicher terroristischer Propaganda verdächtigt und, zur Zeit ungezählter Hinrichtungen, gehenkt worden. Sein geistliches Wirken schien er nur betrachtet zu haben als die geeignetste Sorte Dynamit in einem Volke, dem der Aufruhr durch den Unglauben abstoßend werden kann, der ihn predigt. Ob hier von Beginn an Nadia gegenüber ein heroisches Schweigen vorlag, das ihn sie im Stich lassen hieß um des Wagnisses willen – das blieb uns für immer Geheimnis. Gewiß erscheint diese Möglichkeit auch reichlich phantasievoll, aber wußte nicht vielleicht der sehr intelligente Mensch, daß Nadia – ihrer Sache treu bis in den Tod auch ohne ihn – zu dem einen dennoch nicht imstande gewesen wäre: zu seinem furchtbar stummen Umweg – zu diesem Teufelspakt des Gottesdieners –?
Die tiefe Dunkelheit jedenfalls, darin das ausschlaggebende Motiv des Popensohnes für uns auf alle Zeit verborgen blieb, trug dazu bei, daß in den späteren Jahren seine dramatische Erscheinung unsern Gedanken noch fester eingeprägt blieb als die Erzengelgestalt seiner Braut, die soviel lauterer