Rodinka: Meine russische Kindheit. Lou Andreas Salomé
halb zum Ersatz für allerlei Mädchenfreundschaften, die sich seit den letzten Klassen zu lockern begonnen. Von Körper und Gebärden noch backfischhaft eckig, von Natur schüchtern, verstand ich mich nur im Hause fröhlich gehen zu lassen und fand wenig Berührungspunkte mit Altersgenossinnen, von deren beginnenden Gesellschaftsinteressen mich überdies mein Trauerkleid schied. Durch Witalii indessen gelangte ich zu einer ganz neuen weiblichen Bekanntschaft: Nadeschda Iwanowna, Nadia genannt, den im Verkehr mit Russen so unwesentlichen Familiennamen habe ich nicht einmal in der Erinnerung behalten. Sie war vom Lande gebürtig, besuchte in der Hauptstadt die Bestuschewschen höheren Frauenkurse, hatte sich aber außerdem eine Art von Privatkurs ganz im kleinen eingerichtet, worin sie etlichen Fabrikarbeitern und Hausknechten, lauter Analphabeten, heimlich Unterricht erteilte. Dies volksfreundliche Tun, das Mut erforderte und sie den folgenschwersten Kämpfen aussetzen konnte, sicherte Nadia von vornherein unsere bewundernde Sympathie. Erstaunt entdeckten wir in der erwarteten heldenmäßigen Frau ein liebes, kleines, blondes Mädchen, zum Umblasen zart in ihrem abgetragenen dunklen Kleidchen, und mit den sanftesten Augen der Welt. Ich war überzeugt, sie müßte noch schüchterner sein als ich selber, und mein Herz flog ihr zu. Auch fügte es sich so, daß sie mir bald darauf Bekenntnisse machte, die sich weniger um Politik als um Liebe drehten: genauso, wie zwei Mädchen miteinander reden. Sie hatte sich vor einigen Jahren, fast noch ein Kind, mit dem Sohn einer ihrem Elternhause benachbarten Popenfamilie verlobt, der gleichfalls Pope werden wollte; die Glaubensfrage spielte dabei keine Rolle, um so mehr die des Volkswohls: Pope sein, das konnte heißen, dem Dorf ein Engel werden, besonders wo zwei Engel sich zu solchem Zweck zusammentun. Aber einmal Geistlicher, schoß ihr ehrgeiziger Spiridon über dies nächste Ziel hinaus in die höhere klerikale Laufbahn der »schwarzen« Geistlichkeit, welche zum Zölibat verpflichtet, während die » Weiße« des Popentums ja gerade Eheschließung voraussetzt. Ungewöhnlich intelligent, machte er – im Heiligen Synod, beim »Staatschef« der Russenkirche – durch wohlüberlegte Schriften von sich reden und opferte so seine ehemaligen Träume glatt der herrschenden Macht: Nadia sprach von diesem doppelten Verrat mit einer verblüffenden Sachlichkeit, als gelte der ungetreue Spiridon ihr nicht mehr als der Mann im Monde. Aber gerade hierdurch erhielt das private Leid seine erschütternde Betonung, daß sie es in eins geworfen hatte mit dem Umfassenden des russischen Menschen in ihr, dem Leid um die russische Sache: der allein sie fortan lebte und Treue hielt – die Treue für zwei.
Es war das erstemal, daß ich in so persönlicher Weise eine Liebestragödie zu Gehör bekam, und der Romantik meiner Backfischjahre entsprach sie sicherlich wenig. Andererseits näherte eben dieser Grad von überpersonaler Reife Nadias Bericht meiner Unreife: Er lieh ihr eine Art unerschlossener Mädchenhaftigkeit zurück aus diesem Jenseits menschlichen Begehrens. Und während wir einander gegenübersaßen – im Zimmer meiner Mutter, das mit seinen lichten Möbeln und geblümten Mullvorhängen ganz unverändert zur Stube der Tochter sich geeignet hatte –, wurden wir fast Schwestern in unsern schwarzen Kleidchen: wie heroisch die eine, wie kindisch die andere, doch beide zwei kleine Nonnen dem Leben gegenüber.
Einmal, als ich, wie immer nachmittags, Tee und Butterbrot ins Zimmer meiner arbeitenden »drei Brüder« hinübertrug, fand ich sie ausnahmsweise faulenzend.
Es dunkelte schon. Nur die großen Holzklötze, die Boris in den Ofen nachzuschleudern liebte, flammten hell durch die Stube, er selbst aber lag lang hingestreckt auf seinem Bett, die Hände unterm Kopf verschlungen.
»Was treibt ihr denn –? Und ohne Licht?« fragte ich.
»Ja, das Licht, siehst du, das soll uns im Kopf aufgehen«, belehrte mich Boris. »Du ahnst ja gar nicht, harmloses Kind Gottes, was der Mensch heutzutage und hierzulande alles für Probleme erledigen muß –«
Witalii löste sich vom Fenster, woran er stand, er unterbrach Boris: »Einfach um einen der Fabrikleute bei Nadia handelt es sich.«
Michael widmete sich bereits seinem Glase Tee. »Ja, stell dir das mal vor«, erzählte er, »der aus der Seifenfabrik, der jetzt aufs Dorf zurück mußte, der hat einen ganzen Aufsatz hergeschickt – oder hergeschleudert, eine ganze Standrede wahrhaftig, schreiben kann er also schon! Aber das empört ihn nun hinterdrein gewaltig, daß er jetzt glauben soll, die Sterne, die über seinem Dorfe standen, seit er denken kann, das seien keine Engelsaugen wie früher.«
»Na ja, die verfluchte Rückständigkeit!« meinte Boris gähnend, »das liebe heilige Rußland ist eben noch Asien, das heißt, es hat nur beten gelernt, nicht denken. Diese Kleinigkeit bringen erst wir ihm bei – wir, das heißt Europa.«
»– Wenn es nur angeschulmeistert ist – – beten oder denken, einerlei: Zwang ist es dann so und so!« murmelte Witalii.
»Nein, höre mal!« Boris wurde ärgerlich. »Ihr solltet doch froh sein, daß ihr nicht die ganze Geschichte selbständig noch einmal machen müßt, die wir vor euch voraushaben – gerade auch im wissenschaftlichen Leben –, daß ihr das fix und fertig eingetrichtert kriegt. Die Konflikte, die das setzt, sind schließlich doch dieselben auch einst bei uns gewesen.«
»Nicht dieselben – nicht so naive, nicht durch so äußerlich ›Eingetrichtertes‹!« widersprach Witalii gequält. »Erst hierher kommt die Wissenschaft gleich mit so weitgereisten Ergebnissen – nicht allmählich auch hier gereift, nein, nur auf unsern Boden geworfen wie zur Explosion – ja, eine Bombe! Ein einziges Aufgerissenwerden, Wundsein! Versteh doch, daß das Lebendige dran, das einzig Eigene, eben das ist – dasjenige, woraus der Mensch so kindisch schrieb – nicht die Engelsastronomie und nicht die richtigere Astronomie, sondern daß es bei ihm aus solchem Aufeinanderprall kommt, aus den unmöglichsten Gegensätzen – aus etwas, das nur er, nur alle diese – so erleben –«
Fast mitten im Satz, dem Tonfall nach, brach er ab.
»Nun, aber Nadia? Also täte sie nicht recht?! Aber was verehrst du dann ihr Tun –«, bemerkte Boris kopfschüttelnd.
»Nicht gegen sie red’ ich –; gegen mich selbst eher vielleicht, daß ich da was nicht versteh’.« Witalii sagte es mit sinkender Stimme; seine gesunde Hand hielt den rechten, schlaff hängenden Arm umklammert, wie er es manchmal tat, wenn Schmerzen unvermutet darin aufzuckten; und dies geschah nach jeder Überanstrengung.
Michael lenkte gutmütig ein. »Nun, wie du willst. Aber jedenfalls können wir nicht ganz Rußland in Ordnung bringen – wenigstens nicht gleich so auf der Stelle. – Man muß auch trachten, ans Ziel zu kommen.«
»– Ziel –?« Unruhig hob Witalii den Kopf.
»Gott, mindestens durchs Abitur, dann durch die ganze Natur, bis Gott gibt die Professur! Denn das wird mein Ziel, in aller Bescheidenheit«, antwortete statt Michaels, der etwas verlegen schwieg, Boris. Er hatte sich im Bett aufgesetzt und ließ die Beine baumeln. »Über alles ging dir doch dein Studium?! Und ausgerechnet jetzt mußt du erst ausknobeln, ob dieser Fabrikmann nicht Seelenschmerzen davon bekäme? Auf – auf! Herr Oblomow – arbeiten!«
Mir ist dies Gespräch fester im Gedächtnis geblieben als viele vor- und nachher, obgleich ich eigentlich zunächst nur den einen Ton daraus heraushörte, der mir noch nie vernehmbar geworden war: Witalii – Russe, wir – die Nichtrussen; sich und Nadia empfand er als ein »Wir« uns gegenüber. Sogar wo er jetzt einmal nicht mit ihr übereinstimmte – was mir merkwürdig angenehm war. Überdies verhielt es sich damit so, daß Nadia ihrerseits erst recht unter ihrem freigewählten Beruf litt, ungeschulten Menschen durch »wissenschaftlichen« Starstich die Augen über ihre Illusionen zu öffnen. Sie litt aber überhaupt darunter: all diese ihr von zu Hause her tief vertrauten bäuerischen Menschen zu städtischem Proletariat in dessen Erwerbskämpfen werden zu sehen. Andernteils jedoch hielt sie fanatisch fest an der in ihren Kreisen gerade erst hochkommenden marxistischen Lehre, wonach alle künftige Entwicklung mit Unerbittlichkeit nach logisiertem Schema geregelt schien – das auch Witalii abstieß, ohne doch von ihm widerlegt werden zu können.
Die Buchstaben, die Nadia ihre Analphabeten aneinanderreihen lehrte, formten sich ihr selber deshalb zu weit mehr drückenden als beglückenden Erkenntnissen, jedenfalls zu keiner der fröhlichen, getrosten »Wahrheiten« mehr, wie die gewesen, denen sie einstmals mit Spiridon, politisch wie kirchlich ganz unbekümmert,