Rodinka: Meine russische Kindheit. Lou Andreas Salomé
sonstige, mit einem Schlußpunkt nach dem Gesagten. Es war das erste Wort eines mit mir geteilten Inhalts, ein Beginn –. Und ich – ich hatte nicht geahnt, daß, während ich Dimitrii zuhörte, dies Vertrauen zu mir unterwegs war! Ich fühlte, wie ich brennend errötete. Jetzt fiel mir erst Witaliis nachsichtiges Lächeln ein, womit er manchmal Dimitrii und mich gestreift. Ach gewiß: Die Mädchen und Frauen, die er hier kennen mochte, Märtyrerinnen, Heldinnen, wie anders betrugen die sich wohl! Aber – über wie vieles er auch gegen uns schwieg, namentlich jetzt in seines Bruders Beisein: Über dies war er zu ihnen allen stumm geblieben, von diesem sprach er zum allererstenmal; zum allerersten Menschen –
Als abends Dimitrii uns wieder vorlas, vorsprach aus den geliebtesten seiner Dichter, lauschte ich so inbrünstig wie nur je. Nur, daß sich mir Bilder und Gestalten aus Ródinka unterschoben, zu Dichtungen daran wurden – wie wiederum das Gedichtete sich dran belebte zu einer unaussprechlichen Wirklichkeit. Und mein Herz brannte, sie zu erleben, und kaum unterschied ich mehr, welche es sei: Witaliis Wirklichkeit oder die seines Landes.
So verging die winterlichste Zeit. Schon begann der harte klingende Frost sich zu mildern. Brausende Stürme brachten Schneemassen, die weich und breit liegen blieben; bei Tag und Nacht gab’s zu tun, die Fußsteige freizubekommen, und im Schnee, der dabei auf den Fahrdamm geworfen wurde, sanken die Schlitten ein – lautlos; kein Hufschlag auf dem Holzpflaster mehr hörbar, alle Geräusche abgedämpfter als in der Luft hohen Frostes, und selbst das Schlittengeklingel über den weißen Straßen tönte nur ganz traumhaft durch die grauverhangene Luft.
Dimitrii war längst abgereist, Witalii von »Ródinka« zurückgekommen. Der arbeitsame Alltag einte uns in altgewohnter Weise abends im Zimmer der Brüder. Da geschah es einmal, daß unerwartet der Vater unter uns erschien. Dies war außerhalb der Mahlzeiten ein seltenes Ereignis, und überrascht sprangen wir alle auf, als er hereintrat.
Ihm schien der kleine Lärm, den er verursachte, höchst unangenehm zu sein, und im peinlichen Gefühl, ihn gleich noch vermehren zu müssen, hob er abwehrend beide Hände.
»– Es ist wahrhaftig gar nichts, obgleich – aber erschreckt nicht unnütz darüber: es ist – es scheint, daß ich nach Hause – ich meine, daß ich berufen bin – eine Professur in Freiburg, wißt ihr –«
Aus lauter Furcht vor der Aufregung, die diese Freudenbotschaft nach sich ziehen konnte, wagte er sie nur so vorsichtig von sich zu geben wie eine Trauernachricht.
Ein Hurrageschrei. Ihm gellten die Ohren. Wie Indianern ausgeliefert, sah er sich von seinen Kindern umringt.
»Hoch soll er leben! Er lebe hoch – hoch!« schrie Boris wie besessen. »Endlich, was dir zukommt! Endlich haben deine wissenschaftlichen Arbeiten es ihnen gesteckt!«
»Drei Küsse, Papa! Nein: die russischen drei!« beharrte Michael, der sich sonst Liebkosungen empört entzog; er hielt den väterlichen Kopf fest wie zu einer chirurgischen Operation, bis er auf den Mund und jede Backe den Kuß am richtigen Platz abgesetzt hatte.
Ich streichelte diese Wangen, die blaß aussahen, übernächtigt wie das ganze Gesicht, das einen ständigen Ausdruck der Überanstrengung trug. Denn was die lehrstundenerfüllten Tage nicht hergaben, das mußten, zu wissenschaftlicher Sammlung, Nächte leisten.
»Jetzt wollen wir dich schon zu wahrem Posaunenengel herausfüttern! Jetzt nur schnell aus all der Schererei fort und aus dem elenden Klima!«
Mit gebücktem Kopf hatte er den ersten Sturm über sich ergehen lassen. Ganz ermattet setzte er sich auf den nächstbesten Stuhl. Aber nun freute auch er sich. Unsere stolze Mitfreude tat ihm hinterdrein wohl, und das aufregendste Stück war ja nun glücklich überstanden.
»Ja, nicht wahr, Musja, Kind? Meine Gesundheit, die soll jetzt schon noch herhalten! Denn nun will ich ja erst – ich meine: Jetzt möchte ich was leisten!«
Witalii hielt sich abseits, ohne auch nur an Glückwunsch zu denken; nur sein Blick, seine ganze Haltung drückten aus, wie er am Vater hing. Dieser stets tief beschäftigte, im sachlich Abstrakten ohne jeden Eigennutz aufgehende Gelehrte mit seinem durchgeistigten Kopf, dem man die Gedankenfreude ansah, trotz der Schwermut, die den Mund gezeichnet hatte: Das war für Witalii eine in seinen häuslichen wie kameradschaftlichen Kreisen neue Erscheinung gewesen, an der ihn etwas ihm Unerreichliches vielleicht am stärksten anzog.
»Also ausgerückt wird! – das heißt, Großpapa tut wohl nicht mit – na, und Boris so nahe am Abitur – und schließlich ich: das Bergchor nächstens erledigt« – bemerkte Michael, und sein Ton ging von der Freude zum Zweifel über.
»Alles egal! Nur erst packen – ja, wir packen uns! Ist denn nicht in Deutschland ohnehin alles besser?« schrie Boris noch im Taumel.
Da fuhr Michael ihn an: »Pfui, das ist undankbar! Wenn auch nicht Vaterland – Vaterstadt ist uns das hier doch –. Und was das Land betrifft – ich für meinen Teil: Wo fände ich solche berufliche Verwendung – für den Bergingenieur, da ist hier doch Raum, Zukunft –«
Boris warf sich fast auf ihn: »Was, du willst überhaupt – du bleibst?! Du allein von uns – und ich – ich« –
Der Vater hob entsetzt, abwehrend die Arme. »Laß – Boris! Natürlich darf er! Jeder, wie er will. Natürlich!« Schon sah er im Geist die zärtliche Übererregung umschlagen in Streit und Gereiztheit. Und vielleicht, wer konnte es wissen, unterdrückte seine Erlaubnis einen leisen Schmerz, daß nicht, wenigstens eine Stunde lang, nur allein die alte Heimat siegte –
Heimat! Ich stand noch neben ihm, umschlang ihn mit meinem Arm. Das Wort ging mir durchs Herz, in einem ganz sichern Sinn, wie Blicke in ein sich entschleierndes Land: gleich dem auf des Vaters Schreibtisch. Hügel sah ich, Bergrücken, Tal, Schluchten, quellendurchrieselt, immer wieder bebautes Feld, geschonte Waldung, immer wieder auch Dorf und Stadt, und wär es kleinstes Städtchen mit seinem steinernen Brunnen auf dem Marktplatz, malerischen Gassen aus der Zeit, wo die Häuser sich schutzbedürftig aneinanderdrängten – jeder Blick Neues, Bezauberndes streifend; Natur in ihrem reichsten Wechsel, die doch allüberall von ihren Menschen redete.
Menschen – wenn ich versuchte, sie an den hiesigen Bekannten abzuheben, fielen mir hartnäckig bloß die bunten schwäbischen Mützen ein, die ich in der Peterhofer Kolonie gesehen hatte, wo vor Jahrhunderten eingewanderte Schwaben Sommers Landhäuser vermieteten. Auch wir hatten schon dort gewohnt. Sie trugen noch ihre Tracht, sie sprachen noch ihr Schwäbisch, sogar aus ihrem mangelhaften Russisch hörte man es heraus. Mir war, als müsse ich sofort hinfahren, Grüße von ihnen mitnehmen ins deutsche Land –. Mir war, als stände ich dort, wie in jenem Sommer, in der russischen Ebene, am Bach unter Birken, die herb aufdufteten in abendlicher Feuchtigkeit. Und sah, wie wir von den Kolonistenwiesen Heu zu Haufen rafften, die Haufen anzündeten und in die Strömung schleuderten – sah, zum Greifen deutlich, wie sie hinabtrieben, hochflackernd und erlöschend im Wasser, das um sie leuchten blieb vom Abendrot.
Nur in Rußland sah ich so tun; Kinder und Große warfen brennendes Heu in die Flüsse an warmen Sommerabenden und sahen ihm nach in Entzückung.
Mein innerer Blick blieb haften an diesem Bild mit den schwäbischen Kolonisten in unserer Mitte: Aber ich wußte nicht mehr, welches das Land sei, wonach er ausschaute.
Große Hast und Geschäftigkeit ließ die folgenden Wochen im Fluge vergehen, denn das Sommersemester sollte uns schon nach Deutschland übergesiedelt finden. An meine jugendliche Tatkraft wurden so viele Anforderungen organisatorischer und häuslicher Art gestellt, daß ich ein bißchen von Kräften kam, denn unbedingt wollte ich täglich noch Zeit erübrigen für den weiten Weg zu Großpapa.
Großpapa und mich verband von jeher eine stille Zärtlichkeit. Und seit ich halb erwachsen war, hatte er ein ganz eignes liebes Benehmen mir gegenüber angenommen, ein altfränkisch galantes beinahe, das vollsteckte von hundert kleinen feinen Verwöhnungen und das alle beide gleicherweise entzückte – den ritterlichen Kavalier wie seine sehr junge Dame.
Noch immer hatte er die umfangreiche Wohnung inne, die uns schon als Kindern so oft zur Verfügung gestanden, und ungeachtet der verhältnismäßigen Ungemütlichkeit so wenig