Rodinka: Meine russische Kindheit. Lou Andreas Salomé
erschien Witaliis Bruder Dimitrii in der Hauptstadt. Alarm erregte er schon, noch ehe er den Pelz ganz abgeworfen hatte und in leuchtend blauseidenem Hemd dastand, mit schwarzsamtenen Pluderhosen über den hohen Schaftstiefeln und schön gleich einem jungen Gott. Alle schrien durcheinander. »Wie ein Bauer!« – »Nein: wie ein Fürst!« – »Nein: wie aus dem Theater!« Dimitrii selbst sagte: »Ihr wißt wohl gar nicht mehr, was einzig und allein russisch ist in diesem traurigen Stadtloch?« Und dann behauptete er weiter, ich müsse als Bojarin umgekleidet werden; ob ich wisse, was das sei? Es stellte sich heraus, daß ich es nur wenig genau wußte. Ungesäumt vertiefte er sich in jede Einzelheit weiblicher Bojarentracht, durch seine Lebhaftigkeit und Darstellungsgabe alle dafür mitgewinnend, bis wir für die neue Gewandung sogar die Farben ausgewählt hatten: Lachsrot sollte sie sein und verbrämt mit nichts Geringerem als Silberfuchs.
Etwas Festliches geriet mit Dimitrii in unser Beisammensein. Man konnte plötzlich wieder lachen, man sah, allen Finsternissen zum Trotz, die Welt auf einmal doch herrlich. Offenbar hatte dieser rasend schöne Mensch alles Zeug für die helle Seite des Lebens: Und das war etwas, worauf Boris – wenn er Dimitrii auch um manches im stillen beneidete – schon aus Temperament einging; Michael dagegen tat es aus Prinzip, indem er sich durch Witalii und der Zeiten Schwere allzu ausgiebig »alteriert« fand; vielleicht fühlte er sich durch den andern Wolujew zu ausgewachsen und urteilsernst werden.
Ich überdies bekam in Dimitrii meinen ersten Verehrer: denn so reiche Poetengaben besaß der, daß sie Dinge und Menschen fort und fort beschenkten: keineswegs brauchte man einer jungen Bojarin zu gleichen, um als solche vor ihm dazustehen. Meine drei »Brüder« stellten fest, mit dem nachsichtigsten Lächeln, daß der vierte Bruder bedenklich aus der Rolle falle.
Nun, ein so prachtvoller Verehrer und der erste obendrein: Wie man das Ding auch wendet, es bleibt ein angenehmes. Dimitrii war ja auch weder oberflächlich in seiner Heiterkeit noch ein Geck, dem’s um seidene Hemden ging: Er ging herum, erfüllt vom Schönsten, was russische Erde je hervorgebracht, er machte uns ihre großen Dichtungen lebendig, die wir fast nur auf der Schulbank kennengelernt, und andere, uns noch unbekannte, ihm längst vertraute, schienen auf seinen Lippen erst zu entstehen. Er zuerst führte mich in das Land ein, an dessen äußerster Grenze ich Wohnte, ohne doch in Rußland zu wohnen; und wenn die vergangenen Monate mich in ein wirres Mitleid mit dessen ungeahntem Elend gestoßen hatten, so weckte er dicht daneben unbändige Sehnsucht nach ungeahnter Herrlichkeit.
Mehrere Wochen gingen hin in einem fast rauschhaften Lebenswohlgefühl. Da, eines Nachmittags, während ich neben dem Zimmer der Brüder über einer Näherei saß, kam Witalii heraus und stellte sich neben mich ans Fenster.
»Ich werde auf eine Weile nach Hause müssen!« sagte er.
Die Nadel stellte sich steil auf und fiel aus dem Faden. Nie hatte ja Witalii vor uns sein »Zuhause« oder damit zusammenhängende Verhältnisse erwähnt.
»Hat denn deine Mutter –«, versuchte ich zu fragen, erschrak dann vor dem totgeschwiegenen Wort und stockte.
»Dimitri hat mir mancherlei erzählt –«, erklärte Witalii wortkarg. Doch nach kurzer Pause kam er selbst auf das Wort zurück:
»Meine Mutter – die geht gerade soeben nach ›Krassawitza‹, unserm andern Gut; – es ist das Wolujewsche Stammgut. – Daher könnte ich jetzt in ›Ródinka‹ Wohl Eudoxia sehen – mein Schwersterchen.«
Richtig: sein Schwesterchen, er hatte sie uns genannt, schon damals, in der kurzen Stunde der Kinderbekanntschaft. Ich mußte lächeln, als ich mich entsann, wie steif wir uns gegenübergestanden hatten, wir drei, und unsere Geschwister gegeneinander ausgespielt wie Besitztümer.
Ich sagte aber nichts, mir fiel nicht eine Silbe ein unter dem Andrang der Erinnerung und der Freude, daß er plötzlich von sich sprach; ich horchte nur, den nadellosen Faden angestrengt um meinen Finger wickelnd.
Witalii fuhr auch fort. Immer aus dem Fenster auf die Straße blickend, als erzähle er einen Vorgang, der sich dort unten abspiele:
»Es ist nämlich so: Nach dem, was ich durch Dimitrii erfahre, zieht die Mutter Eudoxia ganz an sich. Das geht nicht. Eudoxia darf mir nicht entfremdet werden. Muß mir folgsam werden – nicht all dem verhaßten Aberglauben und Zwang.«
Da entfuhr es mir wider Willen: »O Witalii, reiße sie nur nicht mit hinein – dein Schwesterchen, in all diese Kämpfe –, lehr sie nicht auch so hassen. Geh lieber nicht!«
Er kehrte den Kopf vom Fenster ab und mir zu, ich sah einen aufs tiefste erstaunten Blick.
»– Hassen –? nein, eben das soll sie nicht erlernen, wie ich es lernen mußte – denn man erlernt es durch Zwang. Ich muß hingehen, sehen, wodurch ich sie überlegen machen könnte darüber. Weiß noch nicht wie – aber die Mutter soll nicht auch Eudoxia noch verlieren – wie mich.«
Ich dachte jäh: »Er liebt sie! Liebt sie! Liebt sie ja doch, seine Mutter – die er haßt!« Mein Denken verwirrte sich. Zu Boden glitt die Näherei. Ganz benommen stellte ich mich zu Witalii ans Fenster. Von nebenan hörte man die drei andern laut plaudern und streiten; wenn Boris’ Stimme sich im Eifer im hellsten Diskant überschlug, wurde gelacht. Ich hörte mechanisch zu: Am liebsten wäre ich jetzt mit nach »Ródinka« gereist.
»Ich möchte sie kennen! Möchte deine kleine Schwester sehen. Arme kleine Eudoxia.«
Über Witaliis Gesicht ging ein Lächeln, ein gutes, frohes.
»– Arm ist die nicht –. Der wird es nichts anhaben, hoff’ ich. Die ist noch so: Sie liebt – einfach.« Er brach ab, zögerte ein wenig und hob dann wieder an:
»Als sie noch klein war, lief sie hinter der Mutter her wegen der Wunder- und Heiligengeschichten. Da fing ich Eudoxia selber ein mit Geschichten, und da lief sie mir nach. Das war unser erster Kampf um Eudoxia – und nur Eudoxia schien er harmlos. Märchen mußten es sein. Die Mutter war sehr viel reicher daran! Und von solchen, die auch sie kannte, mochte ich nichts nehmen. Da erfand ich mir zuletzt selber welche.
»– Du?!« rief ich staunend. Wenn Dimitrii das noch getan hätte! Witalii traute ich es nicht zu. »Ach, erzähl mir davon – weißt du nicht noch eins?«
»Eudoxias Lieblingsmärchen weiß ich noch gut, das will ich dir erzählen«, sagte er, »hör zu, das war so: Einer, der kam von weither, eine Waise war er. Und kam in ein Reich, darin herrschte eine wunderschöne alte Königin. Alle wurden ihre Vasallen, und auch er mußte ihr dienen. Aber ihm mißfiel sehr die gleißende Pracht, in die sie sich kleidete, das Gold ihrer Gewänder, durch das sie selbst ihm fast unkenntlich wurde, und sogar die Krone, die schwere unförmliche Krone, ihr auf Stirn und Kopf gedrückt. Darüber geriet er in Streit mit ihr und ihren Leuten, und im Streit schlug er sie alle tot, sowohl sie wie ihre Leute. Wie sie nun aber so tot dalag und die ganze Pracht von ihr abfiel und die Krone auch, da kam darunter hervor sein Mütterchen, das er längst gestorben geglaubt hatte. Und da küßte er sie ins Leben zurück, und sie erhob sich und sprach: ›Mein lieber Sohn, ich danke dir, daß du mir aus der Verzauberung herausgeholfen hast, an der ich bald erstickt wäre, denn kein goldener Popanz bin ich, sondern dein Mütterchen bin ich und gehe mit dir. Und es macht mir nichts, daß alle die tot sind, die mir dienten, da gräm dich nicht weiter drüber.‹ Da liebte er sie sehr und hob sie auf den Arm, damit ihre Füße den Boden nicht berühren sollten, und griff nach seinem Wanderstecken und sagte: ›Nein, freilich macht das nichts, tot mögen sie bleiben, denn fortan werde ich sein, der dir dienen wird, von dieser Stunde bis an unsern Tod.‹«
Witalii erzählte langsam und genau, den Blick aus dem Fenster gerichtet; als ließe kein Wort sich ohne weiteres hinzu- oder hinwegtun, so sagte er es her. Jedem Wort hörte man an, daß es fest geworden war durch Gewöhnung, wie ein Ding von Holz oder Stein und wie eine unverkürzte Wirklichkeit.
Als das Allerschönste daran erschien mir, daß ein Mütterchen dahintersteckte. Sonst waren es in den Märchen immer nur die Königinnen oder Prinzessinnen ihrerseits, welche entzaubert werden mußten. Sich sein Mütterchen erlösen, das, fand ich, sei viel mehr.
Witalii bemerkte auf dieses Urteil befriedigt:
»Ja,