Rodinka: Meine russische Kindheit. Lou Andreas Salomé

Rodinka: Meine russische Kindheit - Lou Andreas Salomé


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Wolujew.

      Gegen Ende Januar tauchte gerüchtweise eine Nachricht über ihn auf: Der Großpapa brachte sie uns heim. Während General Gurko den westlichen Balkan überschritt, hatte Witalii in der Heeresabteilung gekämpft, die unter Skobelew vom Schipkapaß her durchbrach. In der Schlacht von Philippopel verwundet – anscheinend durch eine Granate am Arm –, lag er zur Zeit typhuskrank in einem Lazarett des Roten Kreuzes.

      Kaum bewegte uns Geschwister der Gedanke: »er lebt!« im wirklich privaten Sinn. Dermaßen war Witalii schon zum Sagenhelden für uns geworden, daß wir von ihm vernahmen wie von Rußland selbst: Er war wie ein Sieg.

      So vieles: Kindheit, und auch was um junge Menschen liegt an ungelösten Weltzusammenhängen und Erwartungen, klang mit an, wenn Boris unversehens sagte: »Witalii!«

      Letzter Winter

      Schwer und grau lastete der Winter von 1879/80 über uns allen. Durchreisende Fremde hätten meinen können, die Newastadt sei an ihrem zugefrorenen Strom selbst in Schlaf gesunken. Leerer und länger noch als sonst schienen die geradlinigen Straßen sich zu dehnen, gleichgültiger die Menschen aneinander vorüberzugehen, wie wenn starre Stumpfheit jede Lebensäußerung im Bann hielte.

      Dahinter aber, hinter dieser anscheinenden Ruhe, stand etwas Ruheloses, Atemloses –. Hier und da an Plätzen und Ecken gewahrte man berittene Schutzmannschaft; ungern nur schlich sich bei Einbruch der Nacht der Hausknecht auf seine Bank am Torweg, denn schon war es geschehen, daß solch ein armer Wärter, in den Schafspelz eingemummt, am nächsten Morgen tot dagesessen hatte, erschossen von unsichtbarer Hand. Nach zehn Uhr abends durfte niemand das Haus mehr verlassen ohne gelbe Erlaubniskarte der Polizei. Noch war ein Jahr hin bis zur Ermordung Alexanders II., noch war die Detonation im Winterpalais nicht erfolgt, noch schritt man ahnungslos über heimlich unterwühlten Straßen, man deckte vielleicht Butterbedarf eben dort: in jenen neuen Butterläden zur Seite des Fahrdamms, die im Innersten ihrer Fässer hinaufgeschaufelte Erde enthielten. Afeer auf den Gemütern lag bereits der dumpfe Druck alles Kommenden.

      Infolge des reaktionären Gesinnungswechsels des einst umjubelten »Zarbefreiers« gärte es immer drohender in der freiheitlich gesinnten Jugend, bis es, nach der »Volksfreundebewegung« des letzten Jahrzehnts, dem aufklärenden Wirken der »Narodniki« im Lande, zur Bildung eines revolutionären Exekutivkomitees gekommen war, zum Umschlag in den Terror. Wir hörten hie und da in Großpapas Hause von der innerpolitischen Sachlage dadurch, daß der damalige Kriegsminister Miljutin – einer der tatsächlich allerletzten aus der früher so bevorzugten Reformpartei im Regierungsdienst – sich als alter Bekannter bisweilen mit ihm traf.

      Dennoch, obschon inmitten all dieser Dinge lebend, blieben wir doch auch immer ein wenig geschieden von ihnen; es ging damit wie mit dem Kriege, der erst in der Erinnerungslegende »Witalii« ein Gesicht für uns erhalten hatte. Obwohl wir von klein auf die russische Sprache beherrschten, Boris russisch gerufen wurde und ich im zärtlich verstümmelten Koserussisch, dem ein Name nicht leicht dortzulande entgeht, blieb doch immer gegenwärtig, daß unsere Heimat ganz fern in süddeutschem Lande stand, mochten wir ihr auch seit mehreren Generationen schon entrückt sein. Der Vater war es, der, obwohl mehr unwillkürlicher-, absichtsloserweise, uns das nie vergessen ließ: und wär es auch bloß die verräterische Sehnsucht gewesen, womit er ein paar verblaßte Landschaftsfotografien, als seien es Bilder teufer Angehöriger, auf seinen Schreibtisch gestellt hatte, oder die besondere Pietät, die allem galt, was aus der Zeit vor der Übersiedlung sich vererbt hatte, sei es noch so unbrauchbar und beschädigt.

      So fühlten wir uns vorwiegend im Verband mit den übrigen, zahlreich vertretenden Ausländern – ja, gelegentliche Verheiratung mit »echtem Russenblut« war seltener als die unvermutetste untereinander. Ob Deutsche, Franzosen, Engländer, Holländer, Schweden, unterschieden sie sich vom Russentum mit seiner nationalen Orthodoxie am gemeinsamsten durch ihre Kirchen; die evangelischen Kirchen, zu denen die Mehrzahl gehörte, und die ihnen angegliederten Schulen bezeichneten so – trotz der ungeheuren Zerstreuung der Gemeinden über die riesig ausgedehnte Stadt – gewissermaßen Mittelpunkte einer Stadt für sich, worin die fremden Straßen wie an einer Art von Heimatstätte zusammenliefen. Dies Internationale, verbunden mit dem Großzügigen russischer Verkehrsgewohnheiten, gab dem gesellschaftlichen Leben einen gleichzeitig weltstädtischeren und natürlicheren Zauber, als es vielleicht irgendwo sonst der Fall ist, und solange meine Mutter noch lebte, nahmen wir daran teil. Mit ihrer heiteren Anmut, die jung und alt bestrickte, hatte sie verstanden, das durchzuführen, wiewohl mein Vater als simpler Magister der Physik und Mathematik an höheren Lehranstalten Luxus in seinem Hause niemandem bieten konnte. In ihr verkörperte sich von jeher alles, was in sein ernstes Gelehrtendasein Reiz oder Rausch getragen, mit ihrem Tode nahm sein Heimweh nach dem Vaterlande, das er nur von ein paar Reisen her kennenlernen durfte, im stillen überhand. Schärfer als bis dahin spürte er im weiten Zuschnitt der hauptstädtischen Ausländerkreise die im Grunde wunderlich selbstgenügsame Enge: diese besondere Art eines Philistertums sozusagen, die sich als Weltbürgertum nur anfühlt, weil es – weder im In- noch im Ausland wahrhaft heimisch – sich der Wirkungen enthält. »Überhaupt: Welch eine Stadt, mein Gott!« bemerkte er immer öfter. »Schnell hingesetzt dort, wo das Land schon aufhört: als liefe sie hinweg vom eigenen Lande, als verlöre sie einfach das Gedächtnis für alles hinter ihr – alles stets neu anfangend und erlebend, ohne Voraussetzungen, ohne Vergangenheit: Wie will sie da Zukunft haben oder auch nur Gegenwart?«

      In der Abgeschlossenheit dieser grauen, schweren Winterwochen, ein Jahr ungefähr nach meiner Mutter Tode, trat zum erstenmal wieder Witalii in unser Leben.

      Der Großpapa hatte ihn uns angekündigt. Witalii, bei Verwandten untergebracht, hegte die Absicht, seinen alten Herzenswunsch nachträglich zu erfüllen und das Abitur zu bestehen. Aber als er nun leibhaftig unter uns drei Geschwistern dastand, wirkte es trotz der Ankündigung namenlos überraschend und unerwartet. Wir befanden uns im Zimmer der Brüder. Augenblickslang gab niemand einen Laut von sich. Dann entführ mir, als sei die einstige Stunde der Gemeinsamkeit eine ganze gemeinsame Kindheit gewesen, ein Freudenschrei: »Witalii!«

      »Musja!« kam es ebenso zurück, und das Eis war gebrochen. Boris umhalste ihn wie einen zurückgefundenen Freund, und Michael, der im Alter besser zu ihm paßte, nahm ihn als den seinen auf.

      Eine Bewegung, die wir ihn mit der linken Hand ausführen sahen anstatt mit der rechten, lenkte sehr bald unser aller Augen auf den Arm, der ihm schlaff und verkürzt aus dem Ärmel hing.

      »Ich bin schon sehr geschickt!« versicherte Witalii. »Man muß nur erst die linke Hand üben« – und er entzog sich rasch mit Fragen nach Michaels Studium dem Versuch, ihn über seine »Kriegslaufbahn« auszuforschen. Auch später kam er niemals darauf zurück; als Boris ihn einmal dringend darum bat, sagte er unvermittelt heftig:

      »Ihr müßt wissen – da war bei mir keinerlei Begeisterung dabei – nichts dergleichen – nicht für die ›russischen Brüder‹ oder gar: gegen die ›Ungläubigen‹ – nein, nein, nicht so war es! Nur ganz allein für mich selbst – nur um meinetwillen –«

      Wenn es gewesen war, um sich Freiheit zu ertrotzen, so war es geglückt, und er benutzte sie ausschließlich zum Lernen. Mit Boris, dem Primaner, »büffelte« er ganz gewaltig, um Klassen zu überschlagen, doch auch Michael mußte seinen Wissensdurst löschen helfen, obschon er selber gar nicht viel für Studieren übrig hatte. Unseres eleganten Michael noch etwas schmalbrüstig aufgeschossene Gestalt überragte die Witaliis bei weitem, was dem etwas kurzgeratenen Boris entschieden angenehm war; dennoch erschien Witalii trotz seiner Schülereinstellung zwischen den beiden durchaus als der älteste von ihnen. Mich erinnerte er deutlich an den kleinen Knaben von damals, an Mund und Augen würde ich ihn überall wiedererkannt haben, besonders am Mund. Der war nicht hübsch, ein wenig aufgeworfen, aber ich stellte fest, daß dies nicht so sehr an den Lippen lag als an einem zu geradlinigen Verlauf der Gebißlinie, wodurch beim Sprechen oder Lachen die Eckzähne sichtbar wurden – was sich bald naiv, bald brutal ausnahm und zum übrigen Gesicht nicht recht passen wollte.

      Die eigentümliche Zeitlage beschränkte für die Brüder manchen Verkehr auswärts und band die drei noch enger aneinander. Michaels bisheriger Freund, ein Student, der sich angeblich mit


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