Heideblues - Kriminalroman. Erich Virch
und ab, die leeren Flaschen in den Sprudelkisten jubelten mir scheppernd zu, meine krausen Haare flogen. Ich hatte sie langwachsen lassen und war stolz darauf, daß sie vom Kopf abstanden wie bei Jimi Hendrix.
Auch meine Stimme war nicht übel. Anfangs klang sie schauerlich, denn mein erstes Vorbild war Paul McCartney, und es dauerte eine ganze Weile, bis mir aufging, daß der Mann Tenor war und ich Bariton. Als ich das aber mal eingesehen hatte, hörte ich mit dem Gequieke auf und entwickelte einen kratzigen, tiefen Sound, der auf Feten ziemlich gut ankam. Selbst ältere Mitschüler mußten neidisch zusehen, wie die Mädels dem kleinen dicken Leichennickel an den Lippen hingen.
Meine Eltern waren nicht begeistert. Sie wünschten sich von mir mehr Verständnis fürs Geschäft.
„Was soll ich denn machen”, fragte ich damals, „soll ich im Elviskostüm auf den Sarg springen und Crying In The Chapel singen?”
Mein Vater hatte gekränkt geschwiegen.
Heute, fürchte ich, würden die Leute gerade solchen Blödsinn gern teuer bezahlen. Kürzlich hatte ich für eine Trauerfeier ein komplettes Streichorchester besorgen müssen, das sollte auf Wunsch des Verstorbenen Conquest Of Paradise fiedeln – die Musik, mit der weiland Henry Maske in den Ring stieg. Der verblichene Boxfan hatte sich wohl vorgenommen, das Paradies mit der Faust zu erobern und dem Schöpfer mal so richtig eine aufs Maul zu hauen. Da hatte der Herrgott noch Glück, daß Henry Maske nicht Kickboxer war.
Das Warnlämpchen der Tankanzeige leuchtete auf. Ich ging vom Gas und hielt unruhig Ausschau nach Wegweisern. Ich hatte den berechtigten Verdacht, daß ich mich verfahren hatte. Überhaupt – hatte Didier nicht gesagt, die neue Autobahn sei fertig, man brauche nur den richtigen Abzweig zu nehmen? Vermutlich war ich laut singend daran vorbeigebrettert. Für mich sah hier oben alles gleich aus; ländlich, flach wie ein Kuhfladen, darüber der weite, eisige Winterhimmel. Unten leere Viehkoppeln, fahles Graugrün, kahle, windschiefe Hecken und Bäume. Neben den alten Bauernhäusern gab es überall Neubausiedlungen. Die automobile Erschließung der Region hatte eine Flut von Neubauten aufs Land geschwemmt; Einzelhäuser, Doppelhäuser, Reihenhäuser, alle in norddeutschem Ziegelrot gehalten, hier und da Pferdeköpfe auf den Dächern, strammes Verbundsteinpflaster vor den Garagen, Sprossenfenster, akkurate, weiße Friesenzäune. Die Bauern in den ehemals verschlafenen Dörfern mußten sich in ständigem Goldrausch befinden; sie konnten schließlich den Wert ihrer Äcker im Handumdrehen um das Hundertfache steigern. Sie brauchten nur per Gemeinderatsbeschluß Bauland daraus zu machen. Ein Ratssitz unter Gleichgesinnten war da gleichsam eine Lizenz zum Gelddrucken.
Ich vermied es, darüber nachzudenken, was unter den neuen Pferdekopf-Dächern für Musik gehört wurde. Sie erinnerten mich immer an die TV-Kinderserien, in denen fröhliche Mädchen und Jungen unentwegt ins Grüne reiten, während die gutmütige Oma dem Jüngsten augenzwinkernd mit dem Finger droht, weil er vom Teig genascht hat. Das war schon im Sommer deprimierend genug, aber jetzt, im Dezember, wirkte das Bild auf mich vollends niederziehend.
Erst als ich den Elbdeich sah, wurde mir klar, wo ich gelandet war. Ich fuhr ein ganzes Stück den grasbewachsenen Wall entlang, bis ein Weg im Bogen hinaufführte. Oben hielt ich an und stieg steifbeinig aus. Der Wind blies jeden Atemzug in weißen Fetzen davon. Ich ließ den Blick über die zähen Fluten wandern. Schräg gegenüber, am anderen Ufer, beherrschte ein monströser, hellgrauer Kubus das Bild. Ein Atomkraftwerk. Das mußte Krümmel sein. Demnach war ich irgendwo in der Nähe der Geesthachter Brücke. Ich ging ein paar Schritte den Fußweg entlang, dehnte und reckte mich, die Hände hinterm Kopf. Am stromabgewandten Deichfuß lag ein Kinderspielplatz. Eine Frau im blauen Anorak stand, die Hände in den Ärmeln, neben einer Bank aus groben Holzbohlen und beobachtete ihren dickvermummten Sprößling, der einsam an einem Kletterseil baumelte wie ein Mehlsack. Ich ließ die Arme fallen, setzte mich wieder in den Leichenwagen und schlug den Autoatlas auf.
Ich war schon oft in Niederholt gewesen, doch aus der ungewohnten Richtung hinzufinden, war nicht ganz einfach, zumal es jetzt rasch dunkel wurde. Mit der Karte auf dem Schoß steuerte ich zurück nach Süden. Eines war wie immer: je näher ich dem Dorf kam, desto schlechter wurde meine Stimmung.
Um fünf war es stockfinster. Ich hatte gerade eine Allee aus Eichen und Linden passiert, als der Motor zu stottern begann. Die Straße schlug einige leichte Kurven. Links dichter Wald, auf der anderen Seite eine Reihe von Weihern mit Nadelgehölz dahinter. Als der Wagen endgültig ausrollte und stehenblieb, konnte ich seitlich einen unbefestigten Weg erkennen, der zu einem Joggerparkplatz zwischen den Teichen führte. Der Tank war hoffnungslos leer, ich versuchte gar nicht erst, das Auto wieder in Gang zu bekommen, sondern schaltete die Scheinwerfer aus und benutzte die Zündung, um es so weit wie möglich von der Straße zu befördern. Einen Moment blieb ich in der plötzlichen Stille und Dunkelheit sitzen, dann griff ich zum Handy und wählte Didiers Nummer.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er abhob. „Ja?” Sein Tonfall suggerierte wie immer, daß er beschäftigt sei und nicht gestört zu werden wünsche, aber kaum hatte ich meinen Namen genannt, hub ein Jubilieren an: „Paulchen! Nickelchen!” Der hessische Akzent machte daraus „Paulschen” und „Nickelschen”, und der blecherne Klang der Stimme machte die Sache nicht besser. „Des Paulschen, unser Held der Saiten! Ja, wo bleibt er denn?”
„Der Held steht ohne Sprit im Wald”, sagte ich lahm. „Irgendwo am Teich zwischen Wittholt und Niederholt. Ich …”
„Wart mal ganz kurz”, unterbrach Didier, „ich hab de Groot auf der anderen Leitung.”
Andy de Groot war TV-Produzent. Didiers größter Vorzug bestand darin, ständig Leute wie de Groot auf der anderen Leitung zu haben. Didier hatte unzählige Kontakte, er kannte Politiker, Spitzensportler, Geschäftsleute und so weiter. Mir war völlig schleierhaft, wieso sich Menschen mit ihm abgaben, die es nicht nötig hatten, aber sie hatten es schon immer getan, selbst zu Zeiten, als er noch keine Millionen hatte und mit seiner Blechstimme als Sänger unterwegs war. Ich kannte niemanden, der in ihm nicht auf Anhieb einen Aufschneider und Hanswurst gesehen hätte, und doch war er einer der einflußreichsten Leute der Branche. Zu allem Überfluß hatte er auch noch politische Ambitionen, verfaßte Rezepte für den Weltfrieden, Traktate gegen Ausbeutung und Krieg sowie Interviews, in denen er sich selbst fulminante Antworten auf knallharte Fragen gab. Daß er mit diesem Quatsch bis in den Vorstand seiner Partei gelangt war, hatte sie in meinen Augen nicht eben aufgewertet. Aber wen interessierte schon mein Eindruck. Irgendwann würde der schräge Verein die Fünf-Prozent-Hürde schaffen und Didier in den Bundestag befördern. Einstweilen nutzte er geschickt die Schaltstelle, die er eingenommen hatte: er organisierte auf Kosten der Partei öffentlichkeitswirksame Großveranstaltungen, um die sich selbst arrivierte Popstars rissen. Dafür bewunderten ihn wiederum seine politischen Freunde, und am Ende hatten alle was davon – am meisten er selbst.
Langsam kühlte der Wagen aus. Ich begann zu frösteln. Der rabenschwarze Waldsaum verschwamm mit dem sternlosen Himmel, die Wasseroberfläche der Teiche zeichnete sich kaum heller ab. Die Straße war völlig leer. Endlich klingelte das Handy.
„Paulchen?” Jetzt gab sich die Blechstimme fürsorglich: „Paß auf, Paul, gleich kommt der Walter Lübbers dich mit seinem Auto abholen. Ist ein roter Golf, siehst du sofort. Den Walter kennst du, das ist der Bruder von unserem armen Willilein! Stell dich so hin, daß er dich sieht, gell!”
Ich fragte mich schon lange nicht mehr, warum der große Dr. Günther Didier manchmal so infantil daherquatschte. Der Niederholter Willi Lübbers war ein Walroß von Mann, riesig rund und dick und ganz bestimmt kein armes Willilein. Vielleicht hatte Didier in einem seiner Verhaltensratgeber gelesen, daß man selbst größer erscheint, wenn man andere verniedlicht. Irgendwie fühlte ich mich von ihm tatsächlich immer wieder verunsichert.
Draußen war es eisig. Ich zog meine Jacke an, steckte das Handy ein, nahm die Reisetasche vom Beifahrersitz, schloß die Türen ab und machte mich zu Fuß auf den Weg über die dunkle Landstraße. „Links gehen, der Gefahr ins Auge sehen”, hatte man mir als Kind beigebracht. Ich ging zügig, trotzdem war ich binnen weniger Minuten durchgefroren. Notgedrungen begann ich zu traben. Meine kalten Fußknöchel schmerzten. Die Luft tat beim Einatmen weh, und ich mußte die Reisetasche andauernd von einer