Heideblues - Kriminalroman. Erich Virch
sie viel zuviel über seine Geschäfte und Winkelzüge, als daß er sie hätte wegschicken können.
Bei Tisch schilderte Didier euphorisch die enormen Möglichkeiten des Kommerzradios im allgemeinen und von Radio4Fun im besonderen, sprach über Senderfarben, Reichweiten und Formate, vor allem aber über die ungeheuren Verdienstchancen für Investoren. Ich saß wie auf Kohlen. Ich wollte wissen, was er in Los Angeles erreicht hatte, suchte immer wieder seinen Blick, aber er wandte sich fast nur in Nina Simons und Pelles Richtung – dorthin, wo das Geld saß. Pelle zeigte sich allerdings nicht sehr geneigt, sondern wollte sich lieber mit Nina unterhalten.
Als sich der Doktor ein alkoholfreies Bier holte, paßte ich ihn am Fenster ab: „Wie steht‘s denn nun mit Bridget Summers, Günther?”
„Nicht jetzt”, zischte er. „Später! Denk an unsere Abmachung!”
Von draußen war ein Automotor zu hören. Karl spitzte das geschulte Ohr und stöhnte: „Ein Passat. Ah je. Der Berthold Wiesegger. Konnte dieser Kelch nicht an uns vorübergehen?”
Der Doktor eilte hinaus. Wenig später hörte man von dort sein typisches Geschnäbel. „Ei der Berthold! Du bist ja so spät, mein Bertilein! Willst du nicht reinkommen?”
Nein, Berthold wollte noch nicht reinkommen, sondern wollte sich erst frischmachen. Er legte jedoch Wert darauf, schon mal seinen imposanten Baßbariton ins Haus schallen zu lassen. Erstaunlich, dachte ich, wie weit der Eindruck tragen kann, daß sich jemand gern reden hört.
Lübbers füllte sich den Teller zum drittenmal mit Nudelsalat und zwinkerte uns dabei zu, als tue er etwas Verbotenes. „Ich bin kein Vegetarier”, sagte er, „aber bei so gesunden Sachen, da kann ich nicht widerstehen! Gesunde Ernährung ist extrem wichtig.” Er klopfte sich schelmisch auf den Bauch. „Und als gelernter Landwirt, da weiß man, was gut ist und ökologisch in Ordnung.”
„Landwirt?” fragte Karl harmlos. „Bist du net Grundschullehrer?”
Lübbers nickte. „Ich bin Lehrer, aber auch Landwirt und Gärtner! Das ist ein ungeheurer Vorteil in einer Dorfschule! Ich gehe mit den Kindern immerzu raus in die Natur; bei uns hier gibt es so viel zu sehen – Feuchtbiotope, Wallhecken, Streuobstwiesen, seltene Sträucher, Stauden, Wildblumen. Sie glauben ja gar nicht, wie begeistert die Kinder Pflanzen bestimmen, Pilze suchen und Heilkräuter!”
Karl neigte sich zu mir herüber und flüsterte vernehmlich: „Die Bälger hassen ihn!” Walter zuckte, tat aber, als habe er nichts gehört. Schnell sagte ich: „Mit meiner nächsten Grippe komm ich zu Ihnen, Walter, und hol mir Kamillentee.”
Lübbers hob einen dicken Zeigefinger: „Grippe ist ein Virusinfekt. Da hilft keine Kamille. Da hilft nur eine gute Kondition.” Wieder klopfte er auf seinen Bauch. „Gesunde Ernährung, das ist das Geheimnis!” Er wurde ernst. „Mein armer Bruder hat sich leider ganz schlecht ernährt; nichts wie Konservendosen. Ich hab ihm jeden Tag hundertmal gesagt, daß das nicht gutgehen kann!”
Karl schüttelte den Kopf. „Geh, sammer ehrlich, Walter – an Unterernährung gestorben ist der Willi net!”
„Nein. Gestorben ist er am Alkohol. Der hat ihn kaputtgemacht. Gegen den ist kein Kraut gewachsen.” Walters Gesichtsausdruck bekam eine scheinheilige Note. „Gegen den hätte ihm nicht mal der Schuster Nagel helfen können.”
Pelle wurde die Sache zu obskur. „Wie? Was? Schuster Nagel? Was für ein Schuster Nagel?”
Karl und ich nickten uns gequält zu. Diese Frage hatte Lübbers provozieren wollen. Jetzt war er nicht mehr zu bremsen. „Der Schuster Nagel”, holte er aus, „war ein Heilkundiger, der Ende des 19. Jahrhunderts im Dorf gewirkt hat. Der war in ganz Deutschland berühmt, sogar im Ausland! Bis zu tausend Leute am Tag sind damals nach Niederholt gekommen. Da gab es Hotels hier, Droschken, alles wollte zum Wunderdoktor. Der hat immer gleich zehn Patienten auf einmal behandelt, so groß war der Andrang!”
„Aha”, sagte Pelle.
„Ja, Sie werden lachen: der Schuster hat den Leuten im Nacken ein Haarbüschel abgeschnitten, gegen‘s Licht gehalten und durch eine Lupe begutachtet – und dann wußte er die Krankheit!”
Pelle nickte. „Faszinierend.”
„Nicht wahr?! Besonders natürlich für mich als geborenen Niederholter. Sie müssen wissen …”, Lübbers senkte den Kopf und sah mit stolzem Augenaufschlag in die Runde, „ich bin sowas wie der offizielle Dorfchronist! Wenn Sie Interesse haben, gebe ich Ihnen gerne mal die letzte Festschrift der Freiwilligen Feuerwehr. Da ist meine ganze Geschichte Nedderholts drin – so heißt das Dorf nämlich auf plattdeutsch – Nedderholt.” Jetzt war er in Fahrt. Auf die historische Würdigung der Nedderholter Feuerwehr folgte die des Kegelklubs, des Posaunenchors und des Sportvereins, wobei die Meriten vieler wichtiger Mitglieder kritisch gewürdigt wurden. Auch eigene Verdienste verschwieg Lübbers nicht. So berichtete er ausführlich, wie er sich geopfert und das Stellvertretende Bürgermeisteramt angenommen habe, weil sein umfassendes Wissen für den Gemeinderat unverzichtbar gewesen sei. Walter unterstrich alle Ausführungen, indem er mit dem dickem Zeigefinger erläuternde Kreise und Rechtecke aufs Tischtuch malte, und lächelte zwischendurch mit flatternden Wimpern unter dem Pony hervor in die Runde, als sei es ihm ein bißchen peinlich, seine Zuhörer so unwiderstehlich zu fesseln.
Da ich die Show schon kannte, vertrieb ich mir die Zeit damit, die Reaktionen des Publikums zu studieren. Karl hatte sein Gehirn abgeschaltet und war offenen Auges und Mundes in einen schlafartigen Zustand gesunken (er nannte das „Brain mode Off”). Pelle dagegen setzte ein hingerissenes Gesicht nach dem anderen auf; mal nickte er bedeutungsvoll zustimmend, mal legte er einen Finger an die Lippen oder bewegte den Mund, als spreche er Walters wichtigste Informationen nach. Nichts in seiner Mimik gab auch nur den leisesten Hinweis auf Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit, und gerade das war es, was Nina Simon veranlaßte, sich in lautlosen Lachkrämpfen auf ihrem Stuhl zu winden. Dafür strafte Pelle sie mit empörten Seitenblicken, die noch mehr verzweifeltes Prusten auslösten.
„Hör auf!” flüsterte sie.
Schreiner saß unbeteiligt auf seinem Stuhl und hielt den Schädel schläfrig gesenkt. Trotzdem vermittelte er irgendwie den Eindruck, er sei fähig, Lübbers im nächsten Moment niederzuschießen.
Der Doktor lehnte im Türrahmen und lächelte. Er beobachtete Walter mit boshaftem Amüsement wie einen plumpen Nachtfalter, der die Leselampe zu begatten sucht. Schließlich reichte es ihm aber: „Ja, unser Walter Lübbers – gelernter Landwirt und Heilpädagoge!” Dann begann er zu singen:
„Ich bin der Doktor Eisenhut
Widewidewitt bumm bumm
Kurier die Leute wohlgemut
Widewidewitt bumm bumm!”
Pelle fiel ein:
„Kann machen, daß die Blinden gehn
Und daß die Lahmen wieder sehn
Gloria, Victoria, widewidewitt jucheirassa
Gloria, Victoria, widewidewitt bumm bumm!”
Lübbers war verstummt. Didier legte ihm eine Hand auf die Schulter: „Laß uns grad nochmal über den Willi sprechen.” Er senkte betroffen die Stimme: „Der Bruder vom Walter ist uns ein ganz, ganz treuer Freund und Haushüter gewesen. Morgen wird er beerdigt, und die Iris und ich werden ihm selbstverständlich die letzte Ehre erweisen. Karl, Paul – ihr habt ihn ja beide auch gut gekannt, ihr wollt gewiß mit.”
Ich stimmte wieder mal bereitwilliger zu, als es mir lieb war. Überraschenderweise nickte auch Karl.
„Sehr schön”, sagte Didier, nun wieder in nüchternem Ton. „Jetzt noch was ganz anderes. Nina, vom Paul Nickel hab ich dir ja erzählt. Der Paul hier ist derjenige, der morgen die Aufnahmen machen soll.” Er warf mir einen Verschwörerblick zu. „Paul, die Nina will eine Bridget-Summers-Nummer auf Deutsch machen; das Playback hab ich aus LA mitgebracht, der Karl hat‘s schon überspielt.” Er sah Karl an, der nickte.
Ich konnte mir schon