Heideblues - Kriminalroman. Erich Virch
hätten eigentlich Alphornfanfaren und ein Ballett leichtgeschürzter Knaben gehört. Nina Simon mochte keine Diva sein – Wiesegger war eine. Er kündigte sich, nunmehr frischgemacht, schon von draußen mit sonorem Dröhnen an: „Günther?! Wo bist du? Wo geht‘s rein? Aaah, hier geht‘s rein!” Damit war sichergestellt, daß bei seiner Ankunft aller Augen auf ihn gerichtet waren. In der Tür verharrte er sekundenlang und ließ seine Erscheinung wirken: tadellose Fönfrisur, Dreitagebart, buschige Brauen, Trachtenjanker, weißes Hemd mit Binder. Er sah ausschließlich Didier an und posaunte bestürzt: „Günther! Was ist passiert, um gotteswillen? Was ist los?!”
Karl rieb sich die Stirn. Er mußte, das hatte er mir mal erzählt, beim Klang von Wieseggers Stimme immer an lauwarme Teewurst denken. Ich fand die Situation insofern erfreulich, als Didier endlich einmal hilflos wirkte. Er grinste nur verständnislos und wußte keine Antwort, weil es nun mal keine gab. Mit perfektem Timing griff Wiesegger dem Moment vor, in dem die peinliche Spannung womöglich nachgelassen hätte, riß die Augen auf und wandte sich flüsternd an alle: „Grüß Gott miteinander, aber – entschuldigt bittesehr – was ist passiert? Ein scheußlicher Unfall? Vor dem Dorf steht ein pechschwarzer Leichenwagen!”
Pelle mahnte Nina mit einem strengen Blick, ernst zu bleiben. Sie bedeckte ihr Gesicht mit der Hand. Karl stöhnte leise. Schreiner sah mißtrauisch von einem zum anderen.
„Es ist so”, meldete sich Walter Lübbers eilfertig, „das ist bloß der Wagen von dem Herrn Nickel.”
„Er gehört meinem Vater”, stellte ich richtig, „mein Vater hat ein Bestattungsinstitut.”
„Ein Bestattungsinstitut”, wiederholte Wiesegger, wobei er bleiern nickte, als habe er einen schweren Schicksalsschlag zu verdauen. „Und wer … wer ist gestorben?”
Walter Lübbers zog die Mundwinkel nach unten und zitterte mit den Wimpern. „Mein Bruder Willi.”
„Jemand aus dem Dorf?” Wiesegger war enttäuscht. „Mein Beileid.” Er ließ Lübbers links liegen und sah Didier an. „Dir geht‘s aber gut? Frau und Kinder wohlauf? Na, Gott sei Dank!”
Wie es aussah, hatte er vor, den Rest des Abends als Bühnenstück mit Berthold Wiesegger in der Hauptrolle aufzuführen. Didier gab sich immer wieder alle Mühe, ihn unauffällig beiseitezunehmen, um ihm die Vorteile einer Beteiligung an Radio4Fun schmackhaft zu machen, doch Wiesegger hatte anderes im Sinn. Je diskreter der Doktor die Unterhaltung zu gestalten suchte, desto lauter sorgte Wiesegger dafür, daß jeder im Raum erfuhr, worum es ging. Außerdem interessierte ihn Radio4Fun nicht. Er wollte darüber reden, warum das vorgesehene Honorar für seine Teilnahme an der Samstagabendwette, der größten Fernsehshow Deutschlands, so unzumutbar niedrig sei. „Ich freue mich ja über die Einladung, verstehst du, aber wieso soll ich da als einziger von all den Gästen für ein Butterbrot auftreten!?”
Didier atmete tief durch. „Berthold, das ist nicht das Musikantenschoberl! In der Samstagabendwette solltest du notfalls sogar ohne Honorar auftreten, und zwar mit Kußhand! Die Samstagabendwette ist Gratiswerbung im Megamaßstab! Was glaubst du, was bei denen los ist, wie die Künstler denen die Tür einrennen?! Ich hab baggern müssen wie ein Blöder, um dich da reinzukriegen!”
„Wie bitte? Du hast baggern müssen?! Entschuldige mal – der Ellerbeck hat mich schon vor Jahren persönlich angesprochen und gefragt, ob ich nicht …”
„… ja, vor zwanzig Jahren vielleicht! Heute treten da Leute wie Leonardo DiCaprio und Madonna auf, da werden doch heute ganz andere Ansprüche gestellt als …”
„… genau! Ganz andere Ansprüche! Leonardo DiCaprio geht da mit Sicherheit nicht für einen Hungerlohn hin, und Madonna auch nicht!”
„Nein, natürlich nicht, aber – ohne dir nahetreten zu wollen – Leonardo DiCaprio und Madonna sind Weltstars! Und du bist Volksmusikant, ein singender Schauspieler aus Meisenwang!”
Wiesegger schnappte nach Luft. „Ein singender Schauspieler aus Meisenwang? Ein singender Schauspieler aus Meisenwang?! Und wer verdient an dem singenden Schauspieler aus Meisenwang?! Das bist du doch, Günther! Du verdienst doch an meinen Platten! Du verdienst doch an meinen Auftritten!”
Didier schloß entnervt die Augen.
Wieseggers Halsschlagadern traten hervor. „Schön, ich bin vielleicht nur ein singender Schauspieler aus Meisenwang, aber deshalb habe ich es noch lange nicht nötig, mich für ein Butterbrot feilzubieten! Ich fordere dich hiermit unter Zeugen auf: sag meinen Auftritt ab! Sag ab! Sag alles ab! Sag alles, alles ab!” Er reckte das Haupt und sah applausheischend um sich. „Ich hab doch recht!”
Die Runde war bestrebt, so unbeteiligt wie möglich zu wirken. „Ich bin ein bißchen müde”, sagte Nina, „ich geh dann mal ins Bett.”
„Ich bin auch müde”, sagte Pelle, und ich schloß mich hastig an: „Ich auch.”
Karl stand einfach grußlos auf und ging. „Die sind doch krank”, sagte er in der Halle, „alle beide.”
Ich schob wütend die Hände in die Hosentaschen. Ich war kein bißchen schlauer als zuvor.
„Was ist?” fragte Karl.
Ich wich aus: „Sag mal, warum hast du bloß so bereitwillig gesagt, daß du mitgehst zu dieser Beerdigung?”
Karl war erstaunt. „Das hast du doch auch!”
„Stimmt”, ärgerte ich mich, „aber du kennst mich doch – ich bin ein Weichei, ich kann nicht nein sagen.”
Karl schüttelte den Kopf und grinste. „Hast du schon mal eine Beisetzung in Niederholt erlebt?”
„Nein.”
„Dann laß dich überraschen.”
3. Kapitel
Ich war anscheinend der letzte, der zum Frühstück herunterkam, und fand nur noch Reste und benutztes Geschirr auf dem Tisch. Ich spülte mir eine Tasse ab, goß mir lauwarmen Kaffee ein, setzte mich und versuchte, den Nebel aus meinem Kopf zu vertreiben. Vor dem Fenster versammelte sich die Familie Didier. Der Doktor mit schwarzem Mantel, schwarzer Krawatte und Goldrandbrille, seine Gattin ganz in Anthrazit. Iris war eine hübsche, kleine Blondine mit spitzem Gesicht und knapp gezirkelten Bewegungen. Ihr Töchterchen Laura sah aus wie sie; der kleine Tobias hatte die Unterlippe vorgeschoben. Die Kinder trugen dunkelblaue Steppjacken.
Ich stand gerade vom Stuhl auf, als Karl in der Tür auftauchte. „Morgen Burschi! Was ist, geh mer beisetzen?” Er trug eine sehr eigenartige rotwollene Kopfbedeckung mit grellgelbem Zickzackmuster und sah ansonsten auch nicht frischer aus als ich.
Ich zeigte auf seine Mütze. „So willst du auf eine Beerdigung?”
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Hol deine Jacke!”
Draußen schlug er zu meiner Überraschung nicht den Weg zum Friedhof ein, sondern verschwand im Schuppen.
„Wo willst du hin?”
Er erschien mit einem Kanister in der Hand. „Die Predigt und das Gesinge brauch mer net, wir holen solang deinen Wagen. Wenn wir durch die Felder gehen, sind wir in zehn Minuten da.”
Der Spaziergang erwies sich als gute Idee. Es war kalt, aber nicht ganz so eisig wie am Vortag, und die Luft roch nach Schnee. Wir gingen zügig an Wallhecken und Wassergräben entlang, scheuchten Krähen und Elstern auf. In der Ferne glänzte ein großer Baggersee. Er mußte sehr tief sein, denn er hatte Unmengen von Baustoff für die neue Autobahn liefern müssen. Monatelang hatte ein Baggerschiff von dort aus unaufhörlich Sand durch dicke Rohre zu den Baustellen gepumpt.
„Ah je”, sagte Karl und drehte sich um, „der Bruno.” Von hinten näherte sich in donnerndem Galopp etwas Braunes, Schlappohriges: Willis Neufundländer. Ich wußte, was nun kam, denn Bruno liebte Karl. Zuerst schoß der riesige Hund mit einem Höllentempo auf ihn zu, als wolle er ihn umrennen, dann umkreiste er ihn mit tiefem Gebell, stellte sich auf die Hinterbeine und umarmte ihn. Anschließend