Heideblues - Kriminalroman. Erich Virch

Heideblues - Kriminalroman - Erich Virch


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ab. Ich bin zwar kräftig, aber nicht gerade gertenschlank. Ich schob die Hände unter die Achseln und trat von einem Bein aufs andere. Als die Lichter um die Kurve kamen, zeigte sich, daß sie gar nicht zu einem Auto gehörten, dafür standen sie viel zu eng beieinander und lagen viel zu hoch. Was da kam, war bloß ein Trecker. Mürrisch trat ich zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Einen Augenblick stand ich im vollen Licht, die Baumstämme ringsum leuchteten kalkweiß.

      Ich wollte geblendet die Augen schließen, doch das anschwellende Motorgeräusch hielt mich davon ab – und dann schoß die mächtige Maschine plötzlich brüllend auf mich zu, turmhoch, breit wie die Fahrbahn. Mit einem unwillkürlichen Aufschrei warf ich mich in den Straßengraben, fiel hart auf die Seite, Äste stachen mir ins Kreuz. Eine Abgaswolke hüllte mich ein, die Erde bebte, und wenige Zentimeter neben meinem Kopf malmte ein riesiges Hinterrad vorüber. Sekundenlang war ich wie gelähmt, dann kroch ich außer mir vor Wut aus der Versenkung und sprang auf die Straße. Die Rücklichter des Traktors waren schon ein ganzes Stück weit weg.

      „Arschloch!” brüllte ich aus Leibeskräften, „Dreckiger Scheißbauer! Verfluchtes Arschloch! Scheiße! Verfluchte Drecksau!”

      Vor meinen Augen tanzten immer noch Scheinwerferreflexe. Die Hose war heilgeblieben, aber in der Jacke fühlte ich einen Riß. Mit zitternden Händen suchte ich in der Finsternis nach meiner Tasche. Sie war plattgefahren und an der Seite aufgerissen. Ich klaubte sie auf und versuchte sie so unter den Arm zu nehmen, daß nichts herausfiel. Hinkend und fluchend machte ich mich wieder auf den Weg.

      Vor Schreck war mir heißgeworden, doch bald kam die Kälte zurück. Mein Rücken tat weh. Der Weg zog sich. Als ich schon die Lichter des Dorfes zu sehen meinte, hörte ich hinter mir wieder einen Motor kommen. Diesmal blieb ich vorsichtshalber nicht stehen, sondern rannte seitwärts unter die Bäume. Wenig später leuchteten abermals zwei engstehende Scheinwerfer die Straße entlang. Ich hätte allerdings nicht einmal schwören können, daß es derselbe Trecker war, dafür hatte ich ihn beim erstenmal viel zu flüchtig wahrgenommen. Ein Nummernschild war auch jetzt nicht zu erkennen. Ich wartete zähneklappernd, bis er verschwunden war, dann machte ich mich wieder auf den Weg.

      Zum Glück war das Dorf jetzt tatsächlich nicht mehr weit. Nach einer Viertelstunde tauchten hinter einer Biegung die ersten Häuser auf. Rote Ziegel, graue Verbundsteinauffahrten, weiße Friesenzäune, weihnachtliche Lichterbögen aus Elektrokerzen in den Fenstern und vor allem das leuchtende, tannengrüngeschmückte Schild des Wirtshauses: Göke's Gasthof. Ich riß die Tür auf und stampfte hinein. Als sie sich eben hinter mir schließen wollte, sah ich draußen einen roten Golf Richtung Wittholt brummen. Zu spät, Herr Lübbers.

      Der Flur sah aus wie in vielen Dorfgasthöfen: links ging es in den Schankraum, rechts zu den Toiletten, in der Ecke ein Zigarettenautomat, weiter hinten die Tür zum Saal, in dem wichtige Gemeinderatssitzungen und noch wichtigere Feuerwehrbälle stattfanden. Ich hielt mich links. Der Schankraum empfing mich mit bullernder Wärme, Stimmengewirr und Gelächter. Hinter dem Eichentresen, ein Adventsgesteck zur Linken, die Rechte am messingglänzenden Zapfhahn, thronte Heinrich Göke, Bürgermeister von Niederholt. Groß und breit, das Gesicht rotgeädert, hätte er das Urbild eines gemütlichen Dorfwirtes geboten, wären nicht seine kalten, blaßblauen Äuglein gewesen. Er wünschte mir vernehmlich guten Abend, sah aber knapp an mir vorbei. Ich hatte ihm mal mit ernster Miene erklärt, daß auf dem Wirtshausschild ein zweiter Apostroph fehle: es müsse Göke's Ga'sthof heißen.

      „Das ist mein Schild, Herr Nickel”, hatte er brettsteif geantwortet. Anneliese, seine Frau, grinste mir dabei aus der Küche zu. Die beiden sprachen seit Jahren kaum ein Wort miteinander.

      „Paul!” Aus dem hintersten Winkel des Raumes strahlte mir ein hageres, hakennasiges Gesicht entgegen: Karl Kranz, Didiers Toningenieur. Karl der Redliche, Karl der Lange, Karl der unermüdliche Tag- und Nachtarbeiter, Karl der Kahle. Das spärliche Flaumhaar, das auf ihm wuchs, war so hautfarben, daß er nicht einmal Augenbrauen zu haben schien. Er legte die unvermeidliche Zigarette in den Aschenbecher und umarmte mich herzlich: „Ja, bist du deppert, der Leichennickel! Grüß dich, Burschi!”

      Sofort hob sich meine Stimmung wieder. Ächzend ließ ich mich nieder und packte die lädierte Tasche neben mich auf einen Stuhl. Karl wollte wissen, was geschehen sei, ich erzählte und ergänzte die Schilderung mit Mutmaßungen über die geistige Verfassung der traktorfahrenden Landbevölkerung.

      Karl stimmte kopfschüttelnd zu, dann fragte er besorgt: „Sag, hast scho’ ’gessen? Wann net, ißt’ besser hier was, weil heut kocht die Iris.”

      Didiers Gattin Iris pflegte vegetarisch zu kochen, was Karl und mich regelmäßig ins Wirtshaus trieb. Er schnalzte mit den Lippen: „Grünkohl?”

      Ich nickte entschieden. Karl suchte Gökes Blick, deutete auf sein Bierglas, hob zwei Finger und rief: „Grünkohl!”

      Während wir beim Bier aufs Essen warteten, mußte Karl mir das Neueste aus Niederholt berichten.

      „Was passiert is? Nix is passiert. Das Übliche halt.”

      Das Übliche, so stellte sich heraus, bestand diesmal aus einer Prügelei mit Nasenbeinbruch, zwei Reitunfällen, einer unehelichen Zwillingsgeburt und einem Festakt der Freiwilligen Feuerwehr, der damit geendet hatte, daß der Schuppen hinter dem Gerätehaus abbrannte. Langsam taute ich auf. Meine Hände und Füße kribbelten. Die Rückenschmerzen ließen nach. Göke erschien und brachte zwei große Portionen Grünkohl mit Kassler, Bregenwurst und Bratkartoffeln, dazu Bier. Als er alles auf den Tisch gestellt hatte, klemmte er das Tablett unter den Arm, sah knapp an uns vorbei und sagte: „Lassen Ihnen schmecken.”

      Karl grinste anzüglich. Bei allem Spott war ihm aber immer anzumerken, daß er sich in Niederholt zuhausefühlte. Vor Jahren hatte ihn die Liebe aus Wien in die Lüneburger Heide verschlagen. Die blonde Britta war nicht lange bei ihm geblieben; dafür aber hatte er seine Liebe zum flachen Land entdeckt. Er sprach noch immer mit schwerem österreichischen Akzent, doch die Zeiten, in denen er beim verstörten Kaufmann Ehlebracht „Paradeiser” zu kaufen versuchte, waren vorüber. Karl konnte längst fehlerfrei „Tomaten” sagen, „Tüte” statt „Stanitzl”, „Frikadelle” statt „Fleischlaberl”, und seine Trinkfestigkeit genoß den Respekt des ganzen Dorfes.

      Nachdem wir uns eine Weile schweigend unseren Tellern und Gläsern gewidmet hatten, fragte ich: „Wie stehts denn auf dem Eichenhof? Alles wie gehabt im Hause Didier?”

      Karl verzog bekümmert das Gesicht. „Der Willi hat zuadraht. Tot! Hat sich endgültig ins Jenseits gesoffen. Hat Delirium Delarium den Löffelstiel ab’geben, und aus die Maus!”

      Deshalb also hatte der Doktor vom „armen Willilein” gesprochen. Willi war einmal der Erbe des Eichenhofs gewesen, der größten Besitzung in ganz Niederholt, aber er hatte alles durchgebracht. Nach der Zwangsversteigerung gehörten die Ländereien anderen Bauern, und im Haus residierte der Doktor, dem Willi noch dankbar sein mußte, daß er ihn als Faktotum auf dem Anwesen behielt. Über den dicken Willi und seine alkoholischen Eskapaden gab es unzählige Geschichten – und alle stimmten. Das behauptete zumindest Karl.

      „Arme Sau”, sagte ich.

      „Ach, weißt’ – so a arme Sau war der Willi gar net. Der war ganz zufrieden in seinem Bretterhäusl. Der war ja quasi immer noch daheim auf sei’m Hof, und zum Saufen hat‘s Geld schon noch gelangt.”

      „Aber nur ein Taschengeld.”

      „Schon, ja. Nach dem Auftritt in der Sparkasse.”

      Eines schönen Morgens war Willi im Schlafanzug in der Kreissparkasse erschienen und hatte die kreischende Filialleiterin mit einem Bolzenschußgerät durchs Haus gejagt. Seitdem hatte ein Vormund für ihn die Geschäfte geregelt. Direkt nach der Sparkassenszene machte Willi einen so fürchterlichen Zug durch die Gemeinde, daß er nachts auf dem Heimweg vom Fahrrad fiel und sich mitten im Wald ein Bein brach. Jeder andere wäre hilflos erfroren, doch Willi kroch drei Kilometer weit durch den Schneematsch nach Hause. Das Bein wurde genagelt und heilte wieder, blieb aber seltsam verdreht; der Fuß stand schräg nach außen. Im Jahr darauf rutschte er – unglaublich, aber wahr – auf seinem Bettvorleger aus


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