Der ewige Berg. Karl Friedrich Kurz

Der ewige Berg - Karl Friedrich Kurz


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nach der Stadt und nach dem grossen Leben der Stadt und allem anderen, was sie verlassen.

      Sie klagte nie. Keinen einzigen Seufzer hörten die Mägde. Aber alle wussten es dennoch. Denn alles auf Lisät drehte sich in jenen Tagen um Frau Dagmar.

      Auch Herr Eivind wusste es. O, er verstand das alles gut. Aber er sagte nichts dazu ... Doch damals schuf er, ihr zuliebe, den See auf dem Berge und baute diese teure Strasse und lud viele Gäste ein und erfüllte sein Haus mit Wein und Lärm und Geselligkeit. Ein König. Er hielt grossen Hofstaat, ein Jahr lang oder zwei.

      Dann geschah irgend etwas. Frau Dagmar hatte einen seltsamen Einfall. Ein Knecht verschwand am Helleberg, und man konnte ihn niemals mehr auffinden.

      Zwei Knechte verschwanden.

      Und Herr Eivind verunglückte auf der Jagd. Ebenfalls hier auf dem Helleberg fand er sein Ende.

      Er lag unter einem Felsen, mit einer grossen Wunde im Hinterhaupt. Man fand ihn erst am zweiten Tage. Und da lag er also in seiner Grösse und gewaltigen Körperstärke, mit all seiner Macht und mit dem schönen blonden Bart.

      Und es war aus mit ihm. Der König starb.

      Fast zur selben Zeit, da der König starb, wurde der Prinz, Trygve, geboren.

      Die schöne Frau Dagmar schenkte dem Prinzen ihre ganze Lebenskraft oder doch den ganzen Rest ihrer Lebenskraft. Aber es wurde dennoch kein König aus ihm. Nein, Trygve war nicht zum Grossen geboren und auserkoren.

      Er wuchs heran und wurde ein Mensch wie andere Menschen, ohne Peitsche und Silberknopf und ohne breite goldene Epauletten und Hoheit und Strenge im Blick. Er wurde nur ein Mann, gerade und brav. Ein ehrlicher, fleissiger Gutsherr, ein verständiger Mensch und guter Bürger in jeder Beziehung. Und wenn ihm nicht gerade diese Geschichte zugestossen, so wäre über ihn überhaupt nichts zu sagen ...

      Das Reich zerfiel. Der alte König hatte gar zu flott regiert und einen allzu prächtigen Hof geführt, um der Liebe willen.

      So wurden die Pächter frei und unabhängig und stolz und von ihrem eigenen Werte durchdrungen, ganz von ihrer eigenen Wichtigkeit besessen.

      Sie nehmen ihre Mützen nicht mehr vom Kopfe, wenn sie vor Trygve Eivindson stehen, obschon dieser Trygve wahrhaftig noch immer ein grosser Herr ist, der viele Ländereien unter seiner Hand hat. —

      Dass es so gut ging, damals mit dem Hof Lisät, ist des alten Oswalds Werk.

      Ja, der alte Oswald hat das havarierte Schiff klug gesteuert. Er übernahm das Kommando, als der König begraben wurde, hier unter diesem grossen Stein auf Eivindsruh. Da hörte das flotte Hofleben mit einem Male auf.

      Zwar gelang es dem alten Oswald nicht, das ganze Königreich zu retten. Er musste die Pächter ziehen lassen und freigeben. Frau Dagmar musste die Aussenwerke verkaufen. Aber, weiss Gott, Lisät ist auch heute noch ein Herrenhof. Und seine Wälder konnten ein Menschenalter lang wachsen und in Ruhe gross und schlagbar werden. Diese gesegneten Wälder! Längst hat Lisät das Spiel gewonnen ...

      Wie die Fährte dort hinten im Schnee, so endete das irdische Dasein des mächtigen Herrn Eivind. Seine Fährte wurde auf einmal krank und brach ab. Der Stärkere war über ihn gekommen ...

      Es war einmal eine Wiese mit hohem, sonnenwarmem Gras und vielen Blumen. Trygve lag in diesem blumigen Grase, und eine Frau beugte sich zu ihm nieder. Eine blasse, stille Frau, vor einem ungeheuer grossen Himmel. — Das ist alles, was Trygve von seiner Mutter weiss.

      Vielleicht ist auch das nur ein Märchen und nicht einmal wahr und niemals Wirklichkeit gewesen. Jene Blumen sind auf alle Fälle längst verwelkt. Das Kind Trygve wuchs und wurde ein Mann und liebte ein Mädchen. Das Leben hat ihn jetzt erfasst. Die Liebe hat ihn erfasst mit Glück und Leid. Er geriet unversehens in den Wirbel.

      Warum steht Trygve nun hier? Warum macht sich Trygve nun an diesem Winterabend so viele Gedanken über die schöne Frau Dagmar und den finsteren Herrn Eivind? Er weiss ja von beiden nur so viel, dass sie in irgendeinem natürlichen Verhältnis zu seinem Anfang standen. Er weiss, dass sie ihm den Herrenhof hinterlassen und eine etwas verworrene Geschichte. Sonst weiss er nichts.

      Es ist kein Bild von seiner Mutter zurückgeblieben, kein Bild von seinem Vater. Nur das heimliche Gerede der Leute blieb zurück und die Strasse, die jeden Sommer und jeden Winter mehr verfällt und schon wieder in die Wildnis zurücksinkt. Und hier oben blieben die kläglichen Ruinen einiger Lusthäuschen, eines Landungssteges und der unnütze See. Alles das blieb hinter ihnen liegen.

      Die Spuren von Herrn Eivind und Frau Dagmar verblassen schnell und werden bald völlig ausgewischt sein — bis auf die zwei grossen Steine. — Hier ruhen sie. —

      Trygve ist schon so manchmal diesen Weg gegangen, dass er nicht mehr auf die zwei grossen Steine achtete. Der stille See und die verfallene Strasse strömen Trauer und Totenhauch aus und locken nicht zum Verweilen.

      Herr Eivind und Frau Dagmar ruhen hier. Sie lebten abseits von den Menschen. Nun ruhen sie abseits von den Menschen, in einer Erde, die nicht von Priesterhand geweiht und von keinem Kreuz geheiligt wurde. Das Wild zieht seine Fährte über ihre Gräber ...

      Herr Eivind und Frau Dagmar haben sich vom Leben weit zurückgezogen, über alle Massen stolz und ein wenig unbegreiflich. Sie wollten allein leben. Sie wollten im Tode allein liegen. Sie wollten niemals das, was alle wollten.

      Aber es wäre für Trygve gut gewesen, jener Frau, die sich damals vor dem grossen, dunkelblauen Himmel zu ihm niederbeugte, an diesem Abend einiges erzählen zu können, von einer anderen Frau, die Jofrid heisst, die heute in ihrer Jugend blüht und eben vorhin noch dort unten am Türpfosten lehnte.

      „Mutter“, sagte Trygve leise und heiss vor sich hin. Und er lauschte ganz erstaunt seiner eigenen Stimme.

      Wer soll ihm aber nun das alles erklären?

      Einmal hat er Jofrid so gut verstanden, dass sie gar keine Worte reden musste, um ihm zu sagen, was in ihr war. Heute versteht er Jofrid nicht mehr, auch wenn sie ihn mit ihren beiden Augen anblickt und viele Worte sagt. Sie hat sich über Nacht verändert. Sie steht ihm plötzlich fremd und unbegreiflich und feindselig gegenüber.

      Der Schnee von Frau Dagmars Grab kühlt Trygves Zunge, stillt seinen Durst.

      Und plötzlich entsinnt er sich eines Traumes, der ihm oft wiederkehrte und ihn quält. Aber diese Erinnerung kommt aus so weiter Ferne und bleibt verwischt. Sie erregt Angst und grosse Mühe durch ihre Unklarheit ... Wie die Wellen auf dem Wasser dem Sturm voraneilen und ihn verraten, so zeigt sich Trygve etwas im Traume. Er ahnt die Gefahr, die nicht sichtbar werden will.

      Er nimmt noch eine Handvoll Schnee vom Grabe seiner Mutter. Dann geht er weiter.

      Vorhin, als Trygve das Haus verlassen wollte, stand Jofrid im Gang und blickte ihn an.

      Es war Trygves Absicht, ohne ein Wort an Jofrid vorbeizugehen. Aber sie stand da und rührte sich nicht. Sie stand da mit erhobenem Gesicht und schaute ihm gerade und stark in die Augen. Sie hielt ihn fest mit ihren Blicken.

      Sie fragte: „Du willst fort? Warum gehst du?“

      Er sagte: „Ich gehe hinauf zum schwarzen Ur. Ich werde zwei oder drei Tage oben bleiben.“

      Sie sagte: „Das war heute morgen noch nicht deine Absicht. Gesteh es nur, du hast heute morgen noch nicht daran gedacht.“

      Er sagte: „Nein, ich habe nicht daran gedacht. Aber mir scheint nun, dass ich hier in bestimmtem Sinne überflüssig bin und im Wege stehe.“

      Jofrids Augen wurden gross und dunkel, und sie musste die Brauen darüber niedersenken: „Was redest du da? Und wem solltest du denn im Wege stehen?“

      Und jetzt wird Trygve kalt im Herzen, und seine Lippen werden schmal. „Einmal warst du ehrlich und stolz, Jofrid,“ sagt er leise und ein wenig unsicher, „heute aber wagst du nicht mehr die Wahrheit zu sagen.“

      Und dann schweigen sie beide.

      Und dann kommt Olav Arnevik mit dem alten Oswald vom Hofe herein.


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